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Berlinale 2006

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Nasser Refaie: Another Morning (Iran 2006)

Von Ekkehard Knörer

Seine Frau ist tot, die Trauergesellschaft verabschiedet sich. Der Mann ist allein, sein Name ist Kamali. Wir sind mit ihm allein, für den Rest des Films, Einstellung für Einstellung. Kamali schweigt. Und schweigt. Kamali wird bis zum Ende des Films kein Wort gesprochen haben. Er ist verstummt. Er tut Dinge. Er tauscht das Trauerfoto seiner Frau auf der Kommode gegen ein anderes, auf dem sie lebendiger aussieht. Er geht in sein Büro, sitzt dort an seinem Tisch, und schweigt. Er eilt, um zu weinen, auf die Toilette. Er rasiert sich und sieht im Spiegel einen neuen Mann. Wir sehen ihn auf dem Friedhof, er weicht den ums Grab versammelten Trauernden aus, nicht beim ersten, aber beim zweiten Mal. Später versucht er sich an der Waschmaschine, aber sie macht keinen Mucks. Also stellt er sich unter die Dusche und wäscht seine Sachen von Hand. Er hängt sie, als der Wäscheständer voll ist, übers Mobiliar.

Bei all diesen Dingen beobachten wir Kamali, den Mann, der schweigt. Man sollte meinen, Nasser Refaies "Another Morning" sei deshalb ein trauriger Film. Ein Film über Trauer. Das ist er auch – aber er ist auch komisch. Und nicht nur das – er ist auch ein recht gewagtes Porträt der iranischen Gegenwartsgesellschaft. Schweigen nämlich ist Kamali unterwegs, zu Fuß und mit dem Auto, auf den Straßen der Stadt und der Vorstadt. Dinge stoßen ihm zu. Einmal beobachtet er eine Drogenübergabe, so sieht es jedenfalls aus. Eine Gruppe junger Männer stürmt an ihm vorbei, er läuft, weiß der Teufel warum, einer spontanen Eingebung folgend, mit ihnen mit und bekommt es mit der Staatssicherheit zu tun. Kamali ist, für uns, das beginnen wir irgendwann zu begreifen, mehr als ein schweigender Mann in Trauer. Er ist auch unser Mann in Teheran.

Seine Augen sind so groß wie die unseren und er bewegt sich durch diese Welt, als wisse er nicht, wie ihm geschieht. Er ist ein wandelnder Distanzierungseffekt und somit die komische Figur par excellence. Durch den Tod seiner Frau ist die Bindung zur Lebenswelt zerstört, also fallen Leben und Welt auseinander. Die Begegnung mit den Dingen des Alltags wird zum komischen Kampf, nicht viel anders als für Monsieur Hulot. Und auch der spricht ja nicht (viel).

Wie sieht die Welt nun aus, wie der Alltag in Teheran, die unser Mann uns zeigt und vor Augen führt? Die Lotterie spielt eine wichtige Rolle, das Fernsehen zeigt Nachrichten und Shows und Filme und Fußball. Die Behörde macht es denen, die zu ihr kommen, nicht leicht. Kriminalität, auch die Klage über die wachsende Kluft zwischen arm und reich, sind gegenwärtig. Am Nationalfeiertag sieht man einen Prediger, Refaie erlaubt sich den Scherz, ihn durch den Glasdurchbruch einer Tür zu filmen. So wird er distanzierend gerahmt vom Holz der Tür. Was er sagt, ist nicht zu hören. Wie hier, zeigt sich die Raffinesse des Films, der strikt auf Einfachheit setzt, im Kleinen. Man könnte sagen: Der Trauer seiner Figur wird er nicht gerecht. Er denunziert sie nicht, aber er nutzt sie um, als verfremdende Beobachterperspektive. Kamali fällt aus der Welt und schließt sie uns dadurch auf.

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