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Berlinale 2006

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Matthias Glasner: Der freie Wille (D 2006)

Von Ekkehard Knörer

Wie zeigt man eine Vergewaltigung? Wie einen Vergewaltiger? Matthias Glasner hat, sagt er in der Pressekonferenz, sechs Jahre über diese Frage nachgedacht. Er hatte ein Konzept zu Drehbeginn und dann habe er, am Drehort, die Kamera (er führte sie selbst) in der Hand, dieses Konzept über den Haufen geworfen. Was man nun sieht, ist natürlich zu viel und es ist kaum zu ertragen. Theo Stoer (Jürgen Vogel) fällt über ein Mädchen her und die Kamera nötigt uns durch ihr Dabeisein, dabei zu sein. Die Perspektive ist nicht die des Vergewaltigers, erst recht nicht die des Opfers, es ist die eines Zeugen, der nicht wegsehen kann.

Matthias Glasner hat sich entschlossen, diese Geschichte zu erzählen, und zwar ohne Kompromiss. Es ist die Geschichte eines Mannes, der Unverzeihliches tut und nichts dringlicher wünscht, als es nie wieder zu tun. Er kommt nach neun Jahren frei, darf zurück in die Welt. Es ist, wie immer in solchen Fällen, eine Wette auf die Erlösbarkeit eines Täters, dem zu verzeihen man niemals geneigt ist.

Und doch lernt man, indem man ihm folgt zurück in die Welt, mit ihm zu hoffen. Er lernt eine junge Frau kennen, die erst widerstrebt. Wir sehen sie mit seinen Augen erst, aber diese Perspektive wechselt. Zu den Zumutungen von „Der freie Wille“ gehört vor allem das: Wir sollen den Vergewaltiger sehen mit den Augen einer Liebenden. Und zu den Stärken des Films muss man zählen: Er manipuliert einen nicht, er verzichtet auf erschlichene Wirkungen, zum Beispiel durch den Einsatz von Musik. (Es gibt, an zentraler Stelle, Musik – aber dabei geht es nicht um Erschleichung von Gefühlen, sondern um das vom Geschehen zwischen den Figuren gedeckte Pathos einer Hoffnung.)

Matthias Glasner hat seine Mittel für diesen Film weitestmöglich reduziert. Mit winzigem Team sucht er als Kameramann die Nähe zu den Darstellern. Auch sie suchen niemals den einfachen Weg. Niemals zuvor hat man Jürgen Vogel so zurückgenommen gesehen, so sehr gefangen in seinem Körper, so subtil in seinen Gesten. Sabine Timoteo als Netti, die Frau, die ihn liebt, versteht es, wie keine andere Schauspielerin im deutschen Film, das Gefühlte in huschenden Ausdrücken anzudeuten, ohne es auszuspielen. Ein Lächeln, das kurz auftaucht und wieder verschwindet. Und noch im Zusammenbruch spürt man keine Distanz zwischen einer Technik und dem, was sie zeigt.

Obgleich Matthias Glasner in keine der Fallen, die bereit liegen, tappt – über die eine oder andere dramaturgische Entscheidung, über den Einsatz des einen oder anderen religiösen Motivs kann man streiten –, ist „Der freie Wille“ doch kein ganz großer Film. Es bleibt bis zuletzt das Gefühl eines Überschusses des Inhalts über die Form. Das Problem ist nicht, und kann nicht sein, dass er seine Erzählung nicht bändigt. Es ist vielmehr so, dass er die Mittel nicht findet, dem Ungebändigten, dem Unbändigbaren des Geschehens angemessenen Ausdruck zu verleihen. Oder, anders gesagt, es gelingt ihm nicht, für das Moment der Nicht-Erzählbarkeit einer solchen Geschichte Mittel zu finden, die das Konzept von Direktheit und Reduktion noch einmal reflektierend übersteigt.

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