Die fabelhafte Welt der Amélie

Frankreich 2001
Regie: Jean Pierre Jeunet

Rezension von Ekkehard Knörer

Im Anfang war der Zettelkasten. Oder, das Notizbuch, egal, am Ende steht Amélie. Hunderte von Einfällen, Klein- und Kleinstbeobachtungen, versponnenen Geschichten, wie macht man daraus einen Film? Slacker, Richard Linklaters revolutionärer Independent-Film von 1991, war die handgemachte Variante, Autorenfilm, wacklige Kamera, diskontinuierliches Skript, Amateurschauspieler, als zugrunde liegende Gerade-Noch-Struktur der Reigen, das wirkte improvisiert, obwohl es Wort für Wort geschrieben war. Jean-Pierre Jeunet verfährt gerade entgegengesetzt, gibt seinem Ideenwust ein Zentrum, das, gewagte und gelungene Konzentration, ein Gesicht ist, Kulleraugen in Großaufnahme: Amélie.

Das Verfahren ist künstlich, nicht künstlicher jedoch als das von Slacker, nur dass Jeunet alles tut, die Künstlichkeit auszustellen. Slacker war "Authentizität", Amélie ist eine riesige Zitate-Verrührmaschine, die keine Sekunde ins Stottern kommt, Geschichten über Geschichten erzählt, eine Schachtel Pralinen nach der anderen öffnet (Forrest Gump? Forrest Gump!), die Künstlichkeit effektverliebt - aber nie effekthascherisch - ausstellt und auf eine Weise umnutzt, die alle Feinde des richtigen Lebens im falschen laut und vernehmlich von Ideologie zetern lässt (man lese nur in den Cahiers du Cinéma nach).

Die Künstlichkeit nämlich, die Amélie ausmacht, will nicht auf Ent- oder Verfremdung hinaus, sucht sich aller Realität ganz satt ein Zentrum, beziehungsweise findet es da, wo es narrativ und formal ohnehin schon sitzt: in Amélie. Diese Figur, zunächst, sehr abstrakt, sehr strukturell gedacht, nichts weiter als bloße Allegorie, wenn nicht gar Prosopopoiie, einer Figur, also Verkörperung oder Stimme (hier als Gesicht) etwas ganz und gar Unbelebten, nichts als das künstliche Herz, der Versammlungspunkt des Ideenhaufens, diese Figur wird Mensch, ja mehr als Mensch: mythische Gestalt des Kinos, zu gut, und zwar viel zu gut, um wahr zu sein.

Liegt darin eine Inauthentizität? Natürlich. Maschinen (Textmaschinen, Bildmaschinen, digitale Maschinen), die Menschen produzieren, Maschinen der Verlebendigung des Buchstabens, pauschal gesprochen, sind der Kern aller Ideologie des Ästhetischen. Fragt sich nur, wie Authentisch-Ästhetisches aussehen sollte. Das Sich-Einlassen auf die bloße sinnlich-materiale Oberfläche à la Straub-Huillet? Ständiges Aufbrechen, Überfordern, Kreisen, Offenlassen à la Godard? Oder der offensive Dilettantismus von Slacker? Das sind, selbstverständlich, legitime Alternativen, nur steckt in ihrer Bevorzugung, tief und tief ideologisch, gerne die selbstgerechte Behauptung der Moderne, das und nur das sei die Wahrheit über die Kunst, das Leben und den ganzen Rest. Das Kino, für das Amélie steht, behauptet das nicht. Es genügt sich im Effekt, dem eigenen und dem, den es hervorbringt. Es nutzt alle technischen und narrativen Mittel, wo es sie braucht, bringt sie aber nicht zum Verschwinden, sondern spielt damit und nutzt sie zur Wiederverzauberung: Ideologie wäre zu behaupten, das sei mehr als ein Spiel, mehr als ein Märchen. Auf diese Behauptung verzichtet Amélie mit herrlicher Lust am Inauthentischen. Die fabelhafte Welt der Amélie ist ein wunderbarer Film.

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