Kikujiros Sommer

Japan 1999
Regie: Takeshi Kitano

Rezension von Ekkehard Knörer

Das Großartige an Kikujiros Sommer besteht nicht (oder weniger) darin, dass Takeshi Kitano, von dem man japanische Mafia- und Cop-Filme der harten Sorte zu erwarten sich angewöhnt hatte, die vertrauten Milieus nun im Stich lässt. Großartig ist vielmehr, dass das Unerwartete des Genrewechsels hinein ins Sommer/Kinder/Roadmovie sich im Film selbst bis zur totalen Unberechenbarkeit der weiteren Ereignisse und Stimmungen stetig selbst multipliziert.

So ist Kikujiros Sommer eine unbeschwerte Komödie der Art, in der ein Kind (fast) missbraucht, der Held brutal zusammengeschlagen und ein Schwulenpaar heftig schikaniert wird. Der Held, Kikujiro (Kitano), ist ein Kotzbrocken, den lieb zu gewinnen einem nicht leicht gemacht wird; und doch tut man's am Ende. Mindestens schon darum, weil es sich hier um eine komische Figur völlig eigenen Rechts handelt. Eine, der die unvermittelt ausbrechende Brutalität der bisherigen Kitano-Charaktere nicht ausgetrieben, aber doch in pure Anarchie umgeschlagen ist. Kikujiro, zu Anfang noch von einer gestrengen Ehefrau gebändigt, kennt, einmal mit dem Jungen, auf den er eigentlich aufzupassen hat, allein gelassen, keine Grenzen mehr und zieht alle Register der Unverantwortlichkeit. Für die Unmenge an gefährlichem Unfug, die folgt, sucht der Film die (mir bisher unbekannte) Weite des japanischen Landes, wird zum Roadmovie. Die Signatur der Kunstwelt, der Ausfall der Alltagsgegenwart ins Kitano-Universum wird, nicht zum ersten Mal bei Kitano, mit dem rahmenden Doppelbild der Brückenüberquerung mit leitmotivischer Musik-Untermalung angezeigt. Zu sehen bekommt man die Rückseite des aus Violent Cop oder Hana-Bi Vertrauten.

In den früheren Filmen war es eine Frau (die Schwester/die Ehefrau), der die Zärtlichkeit der ultrabrutalen Hauptfigur galt. Hier ist es der kleine Junge - der aber weniger Gegen- als Spiegelfigur ist, dem es vorzuführen gilt, was es bei einem Erwachsenen heißt, auf alles Erwachsen-Sein Verzicht zu tun. Wenn das als Therapie gegen den Verlust der Mutter taugt, umso besser. Das tut es übrigens überaus gründlich, denn was der Film inszeniert, ist das Ende der Familie als Blutsverwandtschaft, die Errichtung einer geradezu utopischen neuen Gemeinschaft der Außenseiter und Verlierer. Am Ende werden sich, für eine kurze Zeit, die mit dem so kurzen wie zeitlosen Sommer Kikujiros vorüber sein wird, der mutterlose Junge, sein gemeingefährlicher Betreuer, die beiden Schwulen und ein durch die Lande streunender Hippie zu einer Spiel- und Spaßfamilie zusammengetan haben. Dass keine Frau dabei ist, ist kein Zufall: Frauen tauchen nur als die strengen Vertreter symbolischer Regulationen, des ökonomisch und pädagogisch durchorganisierten Alltags auf. Sie sind, neben der Großstadt, das, was es zu fliehen gilt. Als die Suche nach der Mutter sich als die verfehlte Art des Aufbruchs erwiesen hat - und nach den bewegendsten Szenen des Films - kann der Neuaufbau beginnen, der Wiedereinzug ins Paradies, in dem gespielt und gelacht wird. Die Kamera und ein paar so direkte wie naive und wirkungsvolle tricktechnische Spielereien tun das Ihre dazu.

In Wahrheit aber bleibt der Film melancholisch und zeigt das neue Paradies gerade in der Doppelung des Motivs vom Verlust der Mutter als nicht auf Dauer zu stellende Kompensation dieses Verlustes. Kikujiros Sommer ist die Inszenierung einer Zäsur, eines magischen Momentes der Suspendierung des Gesellschaftlichen, das durch die Mutter (DIE MUTTER) vertreten wird. Kikujiros Sommer ist eine Ausbruchsfantasie, in der das Schmerzliche ihrer zeitlichen Begrenztheit, das Komische ihrer anarchischen Möglichkeiten und auch das Brutale am Wegfall der gültigen Regeln, sich aufs Belebendste und Überraschendste ständig in die Parade fahren. Alles in allem ein beglückender Film.
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