Timecode

GB 1999
Regie: Mike Figgis

Rezension von Ekkehard Knörer

Timecode bewegt sich an den Grenzen der Erzählform Kino. Ein klarerweise experimenteller Film, aufgebaut aus zwei vergleichsweise kontingenten Prämissen. Prämisse 1: Timecode ist ein Film ohne einen einzigen Schnitt, gedreht in Realzeit, eingefangen von einer Digital Video Kamera. Prämisse 2: Erzählt wird die Geschichte, werden die Geschichten, in vier Strängen - und das ist nur so zu bewältigen, dass der Schnitt, der diese in einem Standardfilm (dem so freilich die Realzeit immer noch nicht ausgetrieben wäre) verflechten würde, als Splitscreen-Kreuz auf die Leinwand selbst verlegt wird. Vier Stränge in vier Kästen, das Editing, das die Augen und Ohren des Betrachters natürlich doch vornehmen müssen, ist aufgeweicht auf eine Auswahlmöglichkeit. Noch einmal, könnte man sagen: denn auch das gewöhnliche Kinobild ist ja nur begrenzt zur zwingenden Aufmerksamkeitssteuerung fähig. Dem Blick bleiben auch da, selbstverständlich, Auswege.

Gesteuert wird die Aufmerksamkeit in Time Code sehr wohl: durch natürliche Attraktoren melodramatischer Handlung, die in einem der vier Kästen überwiegt, vor allem aber durch die Tonspur, der man meist folgen wird, die sich, nicht immer, aber doch die meiste Zeit, auf einen Ausschnitt konzentriert. Interessant sind die Momente, in denen eine fünfte, alles zusammen führende oder eher noch: balancierende Ebene, klare Gestalt gewinnt: eine extradiegetische Synthesis in Form hoch gefahrener, keinem Strang eindeutig zuordenbarer Musik. Das sind Ruhepausen, Augenblicke der Kontemplation im Vergleich zu den sonst geforderten Anstrengungen der Konzentration, der Auswahl, der Beobachtung der von der Aufmerksamkeit abgeschatteten Kästen aus den Augenwinkeln.

Die Prämissen der Radikalisierung zweier Grenzmöglichkeiten des Kinos (Realzeit, Splitscreen) führen zu Überschüssen über die Standardereignisse des Films. Zu ungewohnten Bewegungen der Form-Erfahrung Film. Das sind: Momente des Kreuzens. Personen geraten von einem Bild ins andere, tauchen auf, wo man sie nicht erwartet hat, werden doppelt eingefangen. Interessanter Effekt dabei: Hier, aber gar nicht durchgehend, abstrahieren sich die Figuren fast vollständig vom „Charakter", werden Variablen in einem Vexierspiel, bewegen sich auf einer Meta-Ebene der Form, fast losgelöst vom Inhalt. Eine ungewöhnliche Zeit-Erfahrung manifestiert sich in wiederholten Momenten eines Erdbebens. Zwar diegetisch nicht gänzlich unwahrscheinlich, vor allem aber: eine Erschütterung des Blicks als Hinweis auf die Gleich-Zeitigkeit der vier Stränge, also wiederum: ein Moment der Synthesis.

Der Schwachpunkt des Films ist die Handlung. Dass sich das Geschehen auf mehrere Melodramen hin zuspitzt, Schockmomente also, Effekte, die hohe Aufmerksamkeitsattraktoren sind, das ist vielleicht notwendig. Völlig überflüssig, weil im Versuch der inhaltlichen Verdopplung des formalen Experiments in der theoretischen Schärfe stets eine Reflexionsebene unter diesem selbst liegend, ist die Ansiedlung der Handlung im Hollywood- und Filmmilieu. Es kommt so zu Momenten der Überdeutlichkeit, die sich noch steigern, wenn eine Prophetin des DV-Experiments auftritt, einen Film à la Timecode mit viel theoretischer Begleitmusik (von Eisenstein bis Debord) verficht. Das ist bestenfalls nett als Karikatur möglichen Theoriegeschwurbels, zu dem Timecode Anlass geben könnte. Mehr nicht. Und mehr inhaltliche Strenge, ein formaler Minimalismus auch auf dieser Ebene, hätte Timecode von einem interessanten zu einem faszinierenden Experiment machen können.

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