Zeit der trunkenen Pferde

Iran 2000
Regie:
Bahman Ghobadi

Rezension von Ekkehard Knörer

Eine Stimme, die sich danach sofort aus dem Film zurückziehen wird, macht den Anfang, fragt, unter dem Schwarzbild und den durchlaufenden Schriftzeichen, die kleine Ameneh nach ihren Brüdern und Schwestern. Einen nach dem anderen, drei Schwestern, zwei Brüder, nennt sie sie, stellt die Helden dieses Films vor. Gleich die ersten, darauf folgenden Bilder von einem Basar in einem irakischen Dorf werfen den Betrachter mitten hinein in die erdrückende Situation der Kinder. Mit kleinen Handreichungen verdienen sie sich ihr Geld, müssen noch um unzumutbar harte Arbeit betteln. Der Vater, von dem Ameneh spricht, der vom Schmuggel über die iranisch-irakische Grenze lebt, wird bei der Rückkehr der Kinder ins Dorf nicht mehr leben, Ayub, der älteste Sohn, hat nun die Rolle als Ernäherer und Familienoberhaupt zu übernehmen.

Madi ist das Sorgenkind der Familie. Ein verkrüppelter, zwergenwüchsiger 15jähriger, der kaum spricht, hellwach aussieht, wie ein Kind weint, wenn er seine Spritze bekommt und der dringend operiert werden muss, soll er ein paar Monate wenigstens noch leben. Madi ist in einer Lage, die ohnehin kaum anderes als Mühsal und Schrecken kennt, eine zusätzliche Last; die Kinder jedoch kümmern sich aufopferungsvoll um den Bruder. Ayub wird zum Schmuggler, riskiert, bedroht von Landminen und Hinterhalten, Leib und Leben, um die Operation möglich zu machen. Zwischen der Welt der Kinder und der der Erwachsenen verläuft ein scharfer Riss. Zwischen den Vätern, oder ersatzweise den Onkeln, wird um die Verheiratung der Kinder geschachert, Madi aber wird von der neuen Familie seiner Schwester Rojin empört zurückgewiesen.

Bevor der Film beginnt, bevor die nur am Anfang hörbare fragende Stimme einsetzt, gibt es eine Schrifttafel; der Regisseur und Autor informiert über die Lage des kurdischen Volkes und gibt sein ästhetisches Programm zu Protokoll. Der wichtigste Satz: "Das Gezeigte ist keine Erfindung meiner Fantasie." Das klingt naiv und doch ist darin, abgesehen von der Zurichtung zur Erzählförmigkeit, die der Film vornimmt, eine Wahrheit. Die Wucht der Geschichte liegt darin, dass sie zur Wirklichkeit nichts hinzutun muss um zu überzeugen. Die Bilder sind klar und einfach, ohne dass dadurch irgendetwas mythisiert würde. Der Film ist mit vielen Laien aus dem Dorf, in dem er spielt, gedreht, mit einem winzigen Team. Er verdichtet das Dokumentarische, schneidet, natürlich, aus, aber geht über das Minimum der Erfindung nicht hinaus, das die Figuren zur berührenden Geschichte anordnet.

Zeit der trunkenen Pferde ist ein Film über die Grenze. Sie ist Fluch und Segen zugleich für die Dorfbewohner, die sich ihren Lebensunterhalt durch den Schmuggel verdienen und dabei immer ihr Leben riskieren. Es ist ein Leben an der Grenze auch im ganz existenziellen Sinn: viel mehr als das bloße Leben und Überleben haben die Kinder nicht. Und doch gibt es diesen Überschuss übers Kalkulieren mit dem Lebensnotwendigen in der Fürsorge für den verkrüppelten Madi. An ihm, dem Hilflosen, hält das familiale Band zusammen, mit ihm auf dem Rücken wird Ayub am Ende, against all odds, über die Grenze gelangen.

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