Filmbuch: Matthias Kraus: Bild - Erinnerung - Identität

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Matthias Kraus, geb. 1964, Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien/Universität Marburg, 1995-97 leitender Redakteur der Vierteljahresschrift Medienwissenschaft: rezensionen-reviews, Veröff. zur Filmgeschichte

REZENSION

Matthias Kraus: Bild - Erinnerung - Identität. Die Filme des Kanadiers Atom Egoyan


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Der Mensch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Jetzt exakt verortet: Atom Egoyan und seine Filme

Von Torsten Gellner

Kanadische Regisseure? Es sind nur wenige Vertreter des kanadischen Kinos international bekannt; David Cronenberg fällt auf Anhieb ein, Denys Arcand vielleicht noch, der mit "Jesus von Montreal" 1989 den Jury-Preis in Cannes gewann. Und dann gibt es eben noch den Mann, dessen Filme in etwa so ungewöhnlich sind wie sein Name: Atom Egoyan. Der armenisch-ägyptisch-stämmige Regisseur, der seinen seltsamen Vornamen übrigens tatsächlich der mit seiner Geburt zusammenfallenden Inbetriebnahme des ersten ägyptischen Atommeilers verdankt, beeindruckt mit seinen Filmen Festivaljurys wie Cineasten weltweit. Durch formal streng inszenierte Werke, die wegen ihrer verästelten, komplexen Struktur seltsam rätselhaft und faszinierend zugleich wirken, gilt Egoyan als derzeit prominentester Vertreter des kanadischen Kinos und als einer der innovativsten Filmemacher überhaupt. Viele seiner Filme muss man schon mehrfach gesehen haben, um das von ihnen aufgeworfene filmische Puzzle einigermaßen erschließen zu können. Jetzt ist die erste deutschsprachige Monographie über Atom Egoyan erschienen, verfasst von dem Marburger Medienwissenschaftler Matthias Kraus.

Wer Egoyan verstehen will, tut gut daran, zunächst einen Blick auf den filmhistorischen und kulturellen Hintergrund seiner Filme zu werfen, sprich, den Produktionskontext des unbekannten nordamerikanischen Filmlands zu berücksichtigen. Diese zwingende Überlegung liegt der Konzeption des Buches zugrunde, denn der Autor Kraus widmet sich erst in einem theoretischen Teil der kanadischen Filmkultur im allgemeinen, ehe er dann im einem zweiten Teil die Spielfilme Egoyans ausführlich analysiert. Der Titel "Bild - Erinnerung - Identität" verweist dabei schon auf die wichtigste thematische Konstante im Werk des sperrigen Regisseurs: die Konstruktion von Identität angesichts der Selbstentfremdung in einer technisierten Gesellschaft, oder anders gesagt: der Mensch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

Egoyan ist ein alles andere als illusionistischer Filmemacher und er hat  in seinen Filmen eine eigentümliche Vorliebe für eine medienreflexive Ästhetik entwickelt. Die Medien Film, Fotografie und Video als Träger konservierter Erinnerungen und identitätstiftender Momente sind das große Thema seiner Filme. Schon in "seinen frühen Filmen bringt Egoyan Apparaturen der Repräsentation ins Spiel, die die erzählte Geschichte sowohl strukturieren wie auch stören und die die Wirklichkeitsmacht der Bilder einer andauernden Prüfung unterziehen." Diese Eigentümlichkeit im Oeuvre Egoyans ist es, die Matthias Kraus in Beziehung setzt zu dem sogenannten "kanadischen Technologiediskurs", der vor allem durch Marshall McLuhan und seinen Slogan "the medium is the message" bekannt geworden ist. Kraus legt diese Medientheorie ausführlich dar, um dann Egoyans Filme darin zu spiegeln. Er interpretiert damit das Egoyansche Personal, das fast ausnahmslos unter einer technologisch bedingten Selbstentfremdung leidet: "Die Abhängigkeit von der Technologie, insbesondere von den Kommunikationsmedien" wird als "sowohl ironisches als auch fatales Spiel (...), in dem sich die Figuren der Kommunikationsapparate ebenso bedienen, wie sie ihrer Eigendynamik erliegen", inszeniert. Fremdheit und Identitätssuche im Werk Egoyans sind aber auch im Zusammenhang der Rolle Kanadas als "Gastgesellschaft", als Exilland und damit mit der Biographie des Regisseurs zu verstehen. Schließlich hat Atom Egoyan, der als Angehöriger der armenischen Minderheit in Kairo als Kind nach Kanada fliehen musste, die Situation als Emigrant bewusst miterlebt. Matthias Kraus legt diesen kanadischen Kontext mit all seinen gesellschaftlichen, kulturellen und auch filmindustriellen Besonderheiten gründlich dar, und doch gelingt es ihm nicht immer, das Charakteristische, das typisch Kanadische an Egoyans Filmen festzumachen. Letztlich sind die zitierten Phänomene Entfremdung, Entwurzelung und mediale Selbstreflexion doch Kennzeichen der postmodernen Gesellschaft schlechthin.

Wer den etwas theorielastigen ersten Teil scheut, kann auch direkt quer einsteigen in die chronologisch geordneten Filmanalysen des zweiten Teils. Auch hier legt Kraus großen Wert auf wissenschaftliche Akkuratesse und er zeigt einen ausgeprägten Blick fürs Detail. Da die Analysen als eigenständige Kapitel angelegt sind, lassen sich gewisse Redundanzen nicht vermeiden, was aber nicht weiter schlimm ist, wenn man es als pädagogische Strategie versteht. Acht Spielfilme hat Egoyan bislang gedreht, angefangen bei "Next of Kin" (1984) bis "Felicia's Journey" (1999), den er erstmals nicht als Eigenproduktion realisiert hat. Der Autor spinnt um diese Filme ein dichtes Netz von Querverweisen, zeigt Entwicklungslinien auf und bezieht sich immer wieder auf das im ersten Teil erarbeitete "Grundwissen".

Schade, dass Kraus zwar in einer Fußnote richtig bemerkt, dass die Vernachlässigung der Tonspur ein generelles Problem der Filmwissenschaften darstellt, aber trotz dieser Feststellung selbst keine Abhilfe schafft. Die Bedeutung der Filmmusik findet auch in Kraus' Analyse kaum Beachtung. Atom Egoyan arbeitet seit langem mit dem ebenfalls armenisch-stämmigen Komponisten Mychael Danna zusammen, dessen ätherische Klänge in entscheidendem Maße zur Emotionalisierung und auch zur Strukturierung der Filme beitragen. Die Zusammenarbeit von Regisseur und Komponist bildet eine ähnlich kongeniale Einheit wie die zwischen Peter Greenaway und Michael Nyman oder David Lynch und Angelo Badalamenti, und doch geht der Autor nur in einer Randbemerkung auf Dannas Rolle ein. Dem ansonsten rundum fruchtbaren und ehrgeizigen Projekt tut dieses kleine Manko allerdings keinen Abbruch.

Mit "Bild - Erinnerung - Identität" ist es Matthias Kraus gelungen, ein unbekanntes Filmland mit seinem beachtenswertesten Repräsentanten zu beleuchten. Als erste Monographie zum Thema legt er die Messlatte für kommende Schriften ziemlich hoch, da er mit geradezu missionarischem Eifer die Filme formal wie inhaltlich genau erschließt und damit den Regisseur exakt verortet. Kraus knüpft das Werk Egoyans auf vielfältige Weise und mit stabilem theoretischen Unterbau immer wieder an den kanadischen Kontext, gleichzeitig strebt er aber - wie er betont - keine Interpretation unter rein "kanadischen Vorzeichen" an. Bisweilen tragen seine Exkurse, wie etwa über "Identität und Differenz", seminaristische Züge und er bewegt sich allseits auf hohem akademischen Niveau, so dass sich das Buch nicht unbedingt als Bettlektüre eignet. Angesichts der Flut an minderwertiger Filmliteratur, die oftmals nicht über das Niveau von Fanclubpostillen hinausgeht, ist dieses Buch dafür geradezu eine Offenbarung.

Matthias Kraus: Bild - Erinnerung - Identität. Die Filme des Kanadiers Atom Egoyan.Schüren Verlag, Marburg 2000. 256 Seiten, 48 DM.
ISBN 3-89472-321-1

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