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Patrice Chereau: Gabrielle (F 2005)

Von Ulrike Mattern 

Bestialisches Bürgertum

Der französische Regisseur Patrice Chéreau inszeniert in seinem neuen Film „Gabrielle. Liebe meines Lebens” die Ehe als emotionales Gefecht und schafft ein Meisterwerk

Isabelle Huppert, die auf dem Filmfestival in Venedig im letzten Jahr für ihre Darstellung mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, und Pascal Greggory („Wer mich liebt, nimmt den Zug”) spielen das einander vertraute, aber innerlich fremde Paar am Anfang des 20. Jahrhunderts, am Ende der Belle Epoque. Die beiden führen ein nach außen offenes Haus. Sie empfangen regelmäßig Gäste zu festlichen Abendveranstaltungen, schließen sich selbst aber, wenn die Besucher den Salon verlassen haben, zwischen glatten Marmorsäulen und griechischen Skulpturen wie in ein unterkühltes Grabmal ein, durch das Hausmädchen wie eine Schar emsiger Geister huschen, einzig dazu da, um ihren Herrschaften zu Diensten zu sein.

Am Anfang des Films ist Jean auf dem Weg nach Hause. Er steigt aus dem Zug. Verlässt den Bahnhof und geht in einer anonymen Masse Anzug tragender Männer durch einen dunklen Tunnel. Erwidert beiläufig den Gruß eines Bekannten. Spaziert durch die Straßen des wohlhabenden Viertels, in dem er lebt, und verschwindet, nachdem er geläutet und ihm eines der Mädchen geöffnet hat, in einer Villa, seinem Heim, das er seit zehn Jahren mit seiner Ehefrau teilt.

Als Abbild des „bestialischen Bürgertums” bezeichnete der Autor Joseph Conrad, auf dessen in der Neuübersetzung knapp 100 Seiten umfassenden Erzählband der neue Film von Patrice Chéreau beruht, das moralisch makellose Leben von Jean und Gabrielle, das durch eine ehrlose Tat erschüttert wird. Als Jean nach seinem Gang vom Bahnhof zu Hause ankommt, findet er in einem der Privaträume einen an ihn gerichteten Brief seiner Frau vor.

Dieser vom geregelten Ablauf abweichende ungewöhnliche Vorgang bereitet Jean Verdruss (Warum schreibt sie ihm, wenn sie gleich gemeinsam zu Tisch gehen?). Er gießt sich irritiert ein Glas Wein ein, überfliegt die Zeilen flüchtig, liest dann konzentrierter, ungläubig. Das Glas fällt aus seiner Hand. Es zersplittert, sein Inhalt bildet auf dem Boden eine Lache. Spürbar, wie ein Donnerschlag, ist der Moment der Entdeckung des Treuebruchs inszeniert (Sie hat ihn verlassen, ist mit einem anderen durchgebrannt).

Der Rotation der Kontraste folgt spontan: Waren die ersten Filmszenen in Schwarzweiß gedreht, wechseln die Bilder unvermittelt zur Farbe und kehren von einem Moment zum anderen ins Monochrome zurück. Sätze werden aus dem Kontext in Lettern auf die Leinwand gewuchtet und schaffen eine theatralischen Intensität im Raum, wie man sie etwa aus den Filmen des italienischen Regisseurs Visconti („Die Verdammten”) kennt.

Dem irrationalen Ausbruch, der Panik, folgt das Gefecht, als Gabrielle unerwartet zurückkehrt und symbolisch für alles Nachfolgende den Schleier ihres breitkrempigen Hutes lüftet. „Es war, als hätte sich ein Visier geöffnet”, formuliert Joseph Conrad in seiner Kurzgeschichte den Beginn der verbalen und körperlichen Schlacht zwischen Mann und Frau. Regisseur Patrice Chéreau, dessen Film von seiner Darstellerin Huppert „als Art natürlicher Fortsetzung von ,Intimacy’” beschrieben wird, seziert mit frostiger Leidenschaft das beklemmende Ende einer Ehe.

Die Erzählung von Joseph Conrad „Gabrielle oder die Rückkehr” ist bei dtv erhältlich, 6,50 Euro

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