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Christian Petzold: Gespenster (Deutschland 2005)

Kritik von Ekkehard Knörer 

Die Türen, die ins Schloss fallen, das Rauschen der Blätter in den Bäumen des Tiergartens, die Musik, die von der Party hinaus dringt, in den Raum der Natur zwischen den Räumen eines Hauses. Als Schlusspunkt der wütende Laut, mit dem eine Geldbörse in einen Mülleimer geworfen wird, wieder im Tiergarten. „Gespenster“ ist ein Film der Geräusche, ein Film, den man über seine Tonspur erzählen könnte.

„Gespenster“ ist auch ein Film, den man über seine Schauplätze erzählen könnte. Der Wald, die Natur, der Tiergarten. Hier finden sich Toni und Nina, eine schicksalhafte Begegnung. Ein Schicksal freilich, das einen Sinn fürs Lapidare hat. Sie erklären einander nicht. Sie begegnen sich, sie geraten aneinander und bleiben beieinander, bis sie sich wieder verlieren. Sie sind zwei Mädchen ohne Vergangenheit, die Mädchen, die sich im Wald begegnen, als wäre es ein Märchen der Brüder Grimm. Es gibt den Wald und es gibt die Stadt. Den Tiergarten und den Potsdamer Platz.

„Gespenster“ ist aber auch ein Film mit einer Geschichte. Falsch. Mit zwei Geschichten, die einander sacht berühren, im Ton der Erzählung, in den Figuren, am Ort des Geschehens. Die andere Geschichte ist die einer Mutter, die ihre Tochter verloren hat, vor vielen Jahren, in einem Supermarkt. In Nina glaubt sie sie nun wieder entdeckt zu haben, am Potsdamer Platz. In die Geschichte, in der Nina und Toni, die einander nicht kennen und einander nicht erklären, platzt die falsche Mutter, die vielleicht auch die richtige Mutter ist.

„Gespenster“ ist eine Liebesgeschichte. In den Geschichten, die sie einander erzählen, erklären sich Nina und Toni ihre Liebe. Aus der nichts folgt, die kein Fundament hat, kein anderes jedenfalls als die Gegenwart, in der sie sich ereignet. Nina rettet Toni, Toni rettet Nina. Die Geschichten, die sie sich erzählen, die Geschichte von einer Rettung zum Beispiel, sind nicht wahr - ein Traum, eine Lüge - und sie sind es doch. Die schönste Szene zeigt Nina und Toni nebeneinander, bei einem Casting für einen Film (oder eine Fernsehsendung, egal), sie tragen schon die Produktions-T-Shirts: „Freundinnen“. Toni erzählt ihre Lügengeschichte, Nina erzählt den Traum, in dem Toni auftritt als Königin. Die Kamera liebkost die Gesichter zweier wunderbarer Schauspielerinnen, die Gesichter von Sabine Timoteo und Julia Hummer.

In dieser Liebkosungen, in weiteren dieser Liebkosungen ist „Gespenster“ ein großer Film. Im ganzen ist er das nicht. So wundervoll die Tonspur ist, so sehr sie dazu einlädt, die Augen zu schließen und diesen Film einfach nur zu hören, so klar die Bilder sind, so wunderbar Christian Petzold (wie immer dramaturgisch beraten von Harun Farocki) seine Motive gegeneinander balanciert, so großartig die Schauspielerinnen sind und so wenig man die filmische Intelligenz dieses Regisseurs übersehen kann: Es funktioniert im ganzen nicht. „Gespenster“ hat das Zeug zu einem Meisterwerk, aber das ist er nicht.

Vielleicht hat es mit dem zu tun, was Christian Petzold in der Pressekonferenz erzählt. Eine Szene, in der einmal die Siegessäule im Hintergrund zu sehen war, hat er sofort in den Müllkorb geworfen. Dem Zufall, der ein Klischee auf die Leinwand befördern könnte, fällt Petzold programmatisch in den Arm. Auf den Millimeter genau will er bestimmen, was zu sehen, auch, was dazu zu denken ist. Das Bild, das er von seinen Figuren im Kopf hat, ist so präzise, dass er genau weiß, welche Zufälle die richtigen und die falschen sind. Toni ist die Soldatin, die nur in der Gegenwart lebt.

Von dieser Idee lässt er nicht. Nichts, das dieser Idee womöglich nicht entspricht, hat Raum in seiner Geschichte. Den Gespenstern, deren Geschichten er erzählt, nimmt er so die Freiheit, anderes zu bedeuten, den Figuren, anderes zu tun, als er für sie vorgesehen hat. Christian Petzold weiß alles ganz genau, vielleicht zu genau. Vielleicht darf man aber auch als Autor und Regisseur nicht alles wissen, vielleicht muss man den falschen Zufall zulassen und Bilder, die abweichen von denen, die man im Kopf hat. Erst dann erwacht eine Geschichte, erwachen auch Untote zum Leben.

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