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André Techiné: Les temps qui changent (Frankreich 2004)

Kritik von Ekkehard Knörer 

Von Thomas Kapielski gibt es die schöne Geschichte, wie er in einem Studentenjob einst tagelang um ein vielfaches beschleunigte Pornos auf Belichtungs- und Materialfehler hin sichtete. Am Ende des Tages wankte er aus seiner Kabine und staunte, mit welcher Langsamkeit sich die Welt um ihn herum bewegte. Ich habe soeben, scheint mir, das umgekehrte Erlebnis gehabt. Mehr als zwei Stunden lang habe ich in James Bennings „13 Lakes“ (dazu dann morgen mehr, nach „10 Skies“) starre Einstellungen von dreizehn Seen beobachtet, in denen das geringste Ereignis (ein Vogel im Vorbeiflug) innerhalb ausgedehnten Nicht-Geschehens Sensation machte. Direkt im Anschluss gab es im Berlinale-Palast André Techinés Wettbewerbsbeitrag „Les temps qui changent“, und das ist ein Film, in dem viel, sehr viel geschieht und nicht das mindeste davon rührt einen ein bisschen, interessiert einen ein bisschen, hat einem auch nur irgendwas zu sagen. Welch eine beschleunigte Welt der Nichtigkeiten. Und wissen Sie was: Es lag in Wahrheit auch nicht an James Benning. Techinés Film ist einfach belanglos, ganz und gar belanglos.

Catherine Deneuve und Gérard Depardieu. Ein Mann, der seine erste Liebe nie vergisst, dreißig Jahre lang nicht, bis er auftaucht, in Tanger, wo sie jetzt lebt. Er beaufsichtigt ein riesiges Bauvorhaben, sie hat einen Job, den sie sich so nicht erträumt hat, beim französischsprachigen Radio. Sie hat einen Mann, der Arzt ist und den sie sich so auch nicht erträumt hat. Sie hat einen Sohn, der Männer liebt und mit einer Frau zusammen ist, die ständig Beruhigungsmittel schluckt. In Tanger, wo er seine Mutter nun besucht, hat er einen Geliebten, der eine Villa beaufsichtigt, die von Hunden bewacht wird. Ein Hund wird den Sohn der Geliebten ins Bein beißen und es wird nichts zu bedeuten haben. Gérard Depardieu wird von einer Erdlawine begraben werden, aber dass sich dabei etwas entscheidet, behauptet so recht nicht einmal der Film. Die Freundin des Sohnes hat eine Zwillingsschwester, die bei McDonalds arbeitet und verschleiert ist und sich nicht für Männer interessiert. Ihre Schwester will sie nicht sehen, sie hat nicht die Kraft, sagt sie. All diese Figuren und ihre Geschichten hat „Les temps qui changent“ zu bieten und er weiß nichts damit anzufangen, als sie immer wieder nur anzufangen und zu keinem interessanten Fortgang, raffinierten Variationen oder gar einem vernünftigen Ende zu bringen. Zwischendurch sitzen Flüchtlinge im Wald, zwischendurch gibt es eine kleine Verbrecherjagd in der Stadt. Wir sind in Nordafrika, Sie verstehen.

Man nimmt der Figur, die Gérard Depardieu spielt, die Leidenschaft nicht ab, die dazu gehört, dreißig Jahre lang der einen Frau treu zu bleiben, die zu lieben man nicht aufhören kann. Und es ist nicht seine Schuld, es ist die Schuld eines Drehbuchs, das sich diese Geschichte selbst nicht glaubt. So bleibt Depardieu immer in der Nähe der Witzfigur, als die sich die stets ein wenig zu geistreichen Autoren einen wie ihn nur denken können, und stapft wie ein Elefant im Porzellanladen durch Nordafrika und das Leben der von ihm heimgesuchten einstigen Geliebten. Pascal Bonitzer, einer der Drehbuch-Co-Autoren, ist ein Experte für geistreiche, wenn auch etwas seichte Komödien über neurotische, Frauen verschleißende Pariser Intellektuelle. Niemand könnte ihm ferner liegen als Antoine Lavaut, die von Depardieu gespielte Figur. Die Pein, die ihn treibt, bleibt Behauptung, aufgeschminkt wie die blutige Nase, die er sich im Zusammenprall mit einer Glastür holt.

Und wie es oft geht, wenn einem zur eigentlichen Geschichte nichts einfällt: Man lässt sich weitere Geschichten einfallen, zu denen einem auch nichts einfällt, aber man kriegt die Zeit herum. So kommen die übrigen Figuren ins Bild, leblos, ziellos, keiner Notwendigkeit geschuldet, es wäre genauso gut, es gäbe sie nicht, vielmehr: es wäre besser, keiner hätte sie sich je ausgedacht. Was für eine Verschwendung der Schauspielerlegenden Deneuve und Depardieu, die hier erstmals gemeinsam in einem Film auftreten. Aber immerhin hat es ja für den Wettbewerb der Berlinale gereicht, dessen Auswahlgremien unter Dieter Kosslicks Leitung auf kunstferne Schlüsselreize (Stars! Politik!) längst so zuverlässig reagieren wie der Pawlowsche Hund auf das Einschalten des Lichts.

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