Jump Cut
Klassiker

Startseite -  Inhaltsverzeichnis - Klassiker - Archiv - Links - Forum - Mail

 

„Is Modernism Dead?“

Die postmoderne Inszenierung von ‚Tod’ und ‚Sterben’ in Greg Harrisons NOVEMBER (2004)

Von Alexander Geimer

Während man einst mit ‚Am Ende war’s immer der Gärtner’ den Schluss vieler Filme vorhersehen konnte, kann heute zur Orientierung dienen: ‚Am Ende war’s immer der Held selbst’. Die Identität der Heldinnen und Helden im aktuellen Kinofilm ist häufig das Produkt eines Traumas und psychotischer Halluzinationen, so dass Phänomenen nachgejagt wird, die nur in der Vorstellung des Helden existieren. Diese für die Geschichte konstitutive Verzerrung der (Selbst)Wahrnehmung der Helden wird – nach dem ‚mindfuck’-Prinzip – erst am Ende aufgedeckt, erst dann hat der Zuschauer sowie der Held Einsicht in die bisher verborgene Eigentlichkeit des Geschehens (SESSION 9, USA 2001 / THE MACHINIST, SP, USA 2003 / THE I INSIDE, UK, USA 2003 / IDENTITY, USA 2003 / DEDALUS, F 2003 / HIGH TENSION, F 2003 / SECRET WINDOW, USA 2004 / HIDE AND SEEK, USA 2005). In vielen Werken ist der Trigger-Effekt, welcher jene verzerrte (Selbst)Wahrnehmung auslöst, der Tod der Hauptfiguren. Die Helden sind schon zu Beginn des Films tot und glauben dies ‚verdrängend’ an die Fortführung ihres Daseins (THE SIXTH SENSE, USA 1999 / THE OTHERS F, SP, USA 2001) oder sie sterben im Laufe des Films und halluzinieren sich in ein anderes Leben (JACOB’S LADDER, USA 1990 / THE JACKET, USA, GER 2005 / STAY, USA 2005). Auch der Plot von NOVEMBER (USA 2004) ist nach diesem Muster aufgebaut: Die Fotografie-Professorin Sophie Jacobs (Courteney Cox) – der Nachname verweist auf JACOB’S LADDER – stirbt an den Folgen einer Schussverletzung. Lässt man alles weitere ‚innere Geschehen’ beiseite, besteht daraus die gesamte Handlungsstruktur des Films. Was der Zuschauer erlebt, ist jedoch etwas anderes, nämlich die Halluzinationen, die Sophie in den letzten Momenten ihres Lebens durchlebt. Ungleich der genannten Vorbilder nimmt NOVEMBER jene Halluzinationen seiner Heldin besonders ernst, indem er sich bei der Entwicklung dieser an den Erkenntnissen der berühmten Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross orientiert. 1969 hat Kübler-Ross ihr Schule machendes Buch über zahlreiche von ihr durchgeführte Interviews mit Sterbenden veröffentlicht, anhand derer sie fünf Phasen der Auseinandersetzung mit dem Tod unterscheiden konnte: denial, anger, bargaining, despair / depression und acceptance. Drei dieser fünf Phasen, die laut Kübler-Ross in Sterbeprozessen in unterschiedlicher Intensität und Kombination auftreten können, strukturieren die Geschichte von NOVEMBER.

Erstaunlicherweise interessiert sich nicht nur das aktuelle Kino für den psychischen Begleitprozess zum körperlichen Verfall, selbst in den SIMPSONS macht Homer in einer leichten Abwandlung jene 5 Phasen durch, nachdem er sich eine Fischvergiftung zugezogen hat. Der Dialog Homers mit seinem Arzt stellt diese Phasen äußerst illustrativ dar:

Dr. Hibbert: Now, a little death anxiety is normal. You can expect to go through five stages. The first is denial.
Homer: No way, because I'm not dying!
Dr. Hibbert:…second is anger.
Homer: (starts to get mad) Why you little!
Dr. Hibbert: After that comes fear.
Homer: (worried) What's after fear? What's after fear?
Dr. Hibbert: Bargaining.
Homer: Doc, you gotta get me outta this. I'll make it worth your while.
Dr. Hibbert: Finally acceptance.
Homer: Well, we all gotta go sometime.
Dr. Hibbert: Mr. Simpson, your progress astounds me.

Während Homer so schnell zur ‚acceptance’ findet wie er einen Burger verdrückt und mit einem Lager nachspült, braucht Sophie Jacobs in NOVEMBER erheblich länger und fast die gesamten 70 Filmminuten. Dieser mentale Leidensweg besteht aus einer Art ‚Film des eigenen Lebens’, der kurz vor dem Tod an der Heldin vorüberzieht, aber sich für diese wie auch den Zuschauer als Realität anfühlt. In die halluzinierte Normalität ihres Lebens, das eigentlich kurz vor seinem Ende steht, sind wiederum Visionen des verdrängten Sterbeprozesses eingeflochten, welche Sophie zunächst nicht zu deuten vermag. Der Zuschauer wird dabei in die subjektive Wahrnehmung der Hauptfigur herein gezogen, sieht gewissermaßen mit ihren ‚geistigen Augen’ und erlebt ihre Halluzination einer Normalität, die immer wieder von den Spuren ihres verdrängten Todes gestört wird. Dieses (innere) Geschehen ist unterteilt in die Phasen der ‚denial’, ‚despair’ und ‚acceptance’, die jeweils als Kapitelüberschriften eingeblendet werden. In jedem der nach Kübler-Ross benannten Kapitel beginnt NOVEMBER neu und zeigt eine andere Vision Sophies, wobei sich diese in der Abfolge der Kapitel der Wirklichkeit ihres eigenen Todes und dem ihres Freundes annähert, bis schließlich am Ende des Films die Halluzination der Sterbenden in die tatsächlichen Ereignisse übergeht und Sophie neben ihrem toten Freund stirbt.

In jedem der drei Kapitel begegnen wir ähnlichen Handlungen der Heldin, oft an den gleichen Orten. Wiederholt finden wir sie bei ihrer Therapeutin, an Ihrem Arbeitsplatz an der Universität, in ihrer Wohnung, im Restaurant mit ihrer Mutter und am Ort des tatsächlichen Geschehens: in einem kleinen ‚Spätkauf’, in dem ihr Freund und sie angeschossen wurden. Dass in jedem Kapitel (bzw. jeder Phase des Realisierungs- und Anerkennungsprozesses) Sophie der Wahrheit ihres nahenden Todes ein Stück näher kommt, dokumentiert sich schon visuell in einer zunehmend realistischer wirkenden Repräsentation des Geschehens. Während die Welt zu Beginn blaugrünstichig und mit stark überzogenem Farbkontrast erscheint, gibt die DV-Kamera sie am Ende weitgehend ‚unverzerrt’ und in ausgewogenen Farbtönen wieder. (NOVEMBER erhielt wohl insbesondere für diesen eleganten Farbfluss den Cinematography Award beim Sundance-Festival.) Auf Ebene der Narration ist dem Zuschauer Sophies fortschreitender Erkenntnisprozess möglicherweise relativ bald deutlich, wenn er mit den oben genannten Filmen und deren ‚mindfuck’-Prinzip vertraut ist oder etwa Elisabeth Kübler-Ross gelesen hat – zumeist aber dürfte sich die Geschichte am Ende erst erschließen oder gar bei einem zweiten Sehen. Deutlichstes Anzeichen, dass Sophie in ihren Halluzinationen sich selbst und ihrem eigenen Tod auf der Spur ist, ist ihre Recherche nach und Untersuchung von Fotos unbekannten Ursprungs, die vom Tatort zur Tatzeit aufgenommen wurden. Die Fotos sind Fragmente der Realität, Bruchstücke einer objektivierenden und distanzierten Außenperspektive auf sich selbst, welche Sophie aber (noch) nicht einzunehmen fähig ist. Die Integration dieser Fotos in ihre Halluzination ist motiviert durch eine Polizeifotografin, die Bilder vom Tatort schießt, während Sophie stirbt. Ähnlich sind auch Aufnahmen einer Überwachungskamera, auf deren Monitor sie im Sterben blickt, in ihren ‚geistigen Film’ integriert.

Noch in der ersten Phase der ‚denial’ erfährt Sophie, dass jene Fotos von ihrer eigenen Kamera stammen müssen und die Entwicklung im Fotolabor von ihr in Auftrag gegeben wurde – was kaum möglich ist, denn wir sehen Sophie gleich zu Beginn des Films und der ersten Phase zum Tatzeitpunkt in ihrem Auto sitzen, während ihr Freund im Spätkauf erschossen wurde. Der Beginn der nächsten Phase (‚despair’), mit dem der Film neu ansetzt und eine andere Version bzw. Vision des Geschehens im Spätkauf zeigt, gibt jenen Fotos Sinn und konstruiert die Realität auf andere Art neu: Nun ist Sophie nicht mehr im Auto, sondern im Verkaufsraum des Spätkaufs – allerdings bei einem Foto-Shooting mit ihrem Geliebten. Sie beobachtet das Geschehen, dem sie erneut, allerdings nur knapp und aufgrund einer Ladehemmung der Waffe des Täters entgeht. Sophie nähert sich damit der Wirklichkeit an, indem sie selbst nun in dem Spätkauf auftritt, wo sie tatsächlich gerade stirbt, konstruiert jedoch den Verlust ihres Freundes neu, der sie im Weiteren der Vision wegen einer Affäre verlässt. Erst in der nächsten Phase (‚acceptance’), die vor allem durch Detektivarbeit an den Fotografien initialisiert ist, wird das Geschehen so gezeigt, wie es stattfand: Sophie stirbt schließlich neben ihrem Freund liegend.

Sophies Recherche anhand der Fotos nach der ‚wirklichen Wirklichkeit’ erinnert stark an Antonionis BLOW UP. Die Bilder liefern innerhalb ihrer Halluzinationen einen Zugang zur Wirklichkeit außerhalb des Focus ihres ‚geistigen Auges’, der jedoch nicht zu kontrollieren ist. Momenthaft und bruchstückhaft taucht die Realität als Halluzination in der Halluzination auf, ohne auf eine letztgültige, wahrnehmbare Wirklichkeit verweisen zu können. Antonios Werk wird auch am Ende zitiert, wenn Sophie sich an den Moment des Kennen Lernens ihres Freunds erinnert, den sie bei einem ‚Shooting’ fotografiert: plötzlich verschwindet er einfach und so scheinbar ‚unmotiviert’ und daher eine Reflexion fordernd, wie schon Thomas nachdem er den Ball zu den Tennis spielenden Pantomime-Hippies zurückgeworfen hat. Dieses Verschwinden, in BLOW UP oft als eine Einladung an den Zuschauer gedeutet, sich einzulassen auf spielerische und abweichende Varianten der gemeinsamen Herstellung von Wirklichkeit, fällt in NOVEMBER zusammen mit dem Tod des Freundes. Es scheint hier, dass das einzige, was ausgenommen bleibt aus der Konstruktionstätigkeit des Geistes, das sichere Ende dieser Konstruktionstätigkeit ist: der Tod.

NOVEMBER spielt unverkrampft und stilsicher mit filmischen Verweisen, und gibt sich bei der Auswahl als ‚postmodern’ zu erkennen. Die Frage nach der ‚Realität der Realität’ wird auch auf der visuellen Ebene mit einer Stilisierung von Bunuels Schnitt durchs Auge gestellt. Das erste Kapitel ‚denial’ (beziehungsweise die erste Phase des halluzinatorischen Realisierungsprozesses) endet mit dem elegant stilisierten Schnitt durchs Auge, der einen Wechsel des Wahrnehmungsmodus und ein verändertes Bezugssystem der gemachten Beobachtungen anzeigt. Auch die Fotos und der Versuch, ihnen eine Bedeutung zuzuschreiben, wobei sich nicht eine fest stellen lässt, sondern die Sinnkonstruktion je nach der psychischen Verfassung Sophies stets im Fluss ist, verweisen darauf, dass ‚Sinn’ in NOVEMBER nicht als ‚Datum’ (lat.: gegeben) inszeniert wird, sondern wörtlich als ‚Faktum’ (lat.: gemacht) – also nicht als essentialistische Kategorie sondern eine relativistische Konstruktion, welcher ihr eigener Standort als blinder Fleck nicht zugänglich ist. NOVEMBER demonstriert so mit geschickt gesetzten Zitaten auf einer meta-theoretischen Ebene, dass die Moderne (Avantgarde) keineswegs ‚tot’ ist, sondern in der Postmoderne weiterlebt. Der esoterische Surrealismus hat bereits problematisiert, was heute exoterisch in der Populärkultur von Filmen wie NOVEMBER nebenbei als ästhetischer Mehrwert mitproduziert wird. Dieser treibt seine Postmodernität geradezu auf die Spitze, indem er dieses ‚Weiterleben’ noch selbstreflexiv thematisiert: Sophie blättert kurz vor dem Mord an ihr und ihrem Freund in einer Zeitschrift, die den Titel NEW TIMES trägt sowie die Schlagzeile: IS MODERNISM DEAD? „Sicher nicht“ kann man antworten, wenn man sich ansieht, wie surrealistisch heute im Kino gestorben werden kann und wie die Blutspritzer beim ‚Shooting’ im Spätkauf auf jener Zeitschrift arrangiert sind, wie auf dieser ein abstraktes Gemälde mit Farbklecksen.

Suchen
 
Google
Web Jump Cut