Während man einst mit Am Ende wars immer
der Gärtner den Schluss vieler Filme vorhersehen konnte, kann
heute zur Orientierung dienen: Am Ende wars immer der Held
selbst. Die Identität der Heldinnen und Helden im aktuellen
Kinofilm ist häufig das Produkt eines Traumas und psychotischer
Halluzinationen, so dass Phänomenen nachgejagt wird, die nur in der
Vorstellung des Helden existieren. Diese für die Geschichte konstitutive
Verzerrung der (Selbst)Wahrnehmung der Helden wird nach dem
mindfuck-Prinzip erst am Ende aufgedeckt, erst dann hat
der Zuschauer sowie der Held Einsicht in die bisher verborgene Eigentlichkeit
des Geschehens (SESSION 9, USA 2001 / THE MACHINIST, SP, USA 2003 / THE I
INSIDE, UK, USA 2003 / IDENTITY, USA 2003 / DEDALUS, F 2003 / HIGH TENSION,
F 2003 / SECRET WINDOW, USA 2004 / HIDE AND SEEK, USA 2005). In vielen Werken
ist der Trigger-Effekt, welcher jene verzerrte (Selbst)Wahrnehmung auslöst,
der Tod der Hauptfiguren. Die Helden sind schon zu Beginn des Films tot und
glauben dies verdrängend an die Fortführung ihres Daseins
(THE SIXTH SENSE, USA 1999 / THE OTHERS F, SP, USA 2001) oder sie sterben
im Laufe des Films und halluzinieren sich in ein anderes Leben (JACOBS
LADDER, USA 1990 / THE JACKET, USA, GER 2005 / STAY, USA 2005). Auch der
Plot von NOVEMBER (USA 2004) ist nach diesem Muster aufgebaut: Die
Fotografie-Professorin Sophie Jacobs (Courteney Cox) der Nachname
verweist auf JACOBS LADDER stirbt an den Folgen einer
Schussverletzung. Lässt man alles weitere innere Geschehen
beiseite, besteht daraus die gesamte Handlungsstruktur des Films. Was der
Zuschauer erlebt, ist jedoch etwas anderes, nämlich die Halluzinationen,
die Sophie in den letzten Momenten ihres Lebens durchlebt. Ungleich der genannten
Vorbilder nimmt NOVEMBER jene Halluzinationen seiner Heldin besonders ernst,
indem er sich bei der Entwicklung dieser an den Erkenntnissen der berühmten
Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross orientiert. 1969 hat
Kübler-Ross ihr Schule machendes Buch über zahlreiche von ihr
durchgeführte Interviews mit Sterbenden veröffentlicht, anhand
derer sie fünf Phasen der Auseinandersetzung mit dem Tod unterscheiden
konnte: denial, anger, bargaining, despair / depression und acceptance. Drei
dieser fünf Phasen, die laut Kübler-Ross in Sterbeprozessen in
unterschiedlicher Intensität und Kombination auftreten können,
strukturieren die Geschichte von NOVEMBER.
Erstaunlicherweise interessiert sich nicht nur das aktuelle Kino für
den psychischen Begleitprozess zum körperlichen Verfall, selbst in den
SIMPSONS macht Homer in einer leichten Abwandlung jene 5 Phasen durch, nachdem
er sich eine Fischvergiftung zugezogen hat. Der Dialog Homers mit seinem
Arzt stellt diese Phasen äußerst illustrativ dar:
Dr. Hibbert: Now, a little death anxiety is normal. You can expect
to go through five stages. The first is denial.
Homer: No way, because I'm not dying!
Dr. Hibbert:
second is anger.
Homer: (starts to get mad) Why you little!
Dr. Hibbert: After that comes fear.
Homer: (worried) What's after fear? What's after fear?
Dr. Hibbert: Bargaining.
Homer: Doc, you gotta get me outta this. I'll make it worth your
while.
Dr. Hibbert: Finally acceptance.
Homer: Well, we all gotta go sometime.
Dr. Hibbert: Mr. Simpson, your progress astounds me.
Während Homer so schnell zur acceptance findet wie er einen
Burger verdrückt und mit einem Lager nachspült, braucht Sophie
Jacobs in NOVEMBER erheblich länger und fast die gesamten 70 Filmminuten.
Dieser mentale Leidensweg besteht aus einer Art Film des eigenen
Lebens, der kurz vor dem Tod an der Heldin vorüberzieht, aber
sich für diese wie auch den Zuschauer als Realität anfühlt.
In die halluzinierte Normalität ihres Lebens, das eigentlich kurz vor
seinem Ende steht, sind wiederum Visionen des verdrängten Sterbeprozesses
eingeflochten, welche Sophie zunächst nicht zu deuten vermag. Der Zuschauer
wird dabei in die subjektive Wahrnehmung der Hauptfigur herein gezogen, sieht
gewissermaßen mit ihren geistigen Augen und erlebt ihre
Halluzination einer Normalität, die immer wieder von den Spuren ihres
verdrängten Todes gestört wird. Dieses (innere) Geschehen ist
unterteilt in die Phasen der denial, despair und
acceptance, die jeweils als Kapitelüberschriften eingeblendet
werden. In jedem der nach Kübler-Ross benannten Kapitel beginnt NOVEMBER
neu und zeigt eine andere Vision Sophies, wobei sich diese in der Abfolge
der Kapitel der Wirklichkeit ihres eigenen Todes und dem ihres Freundes
annähert, bis schließlich am Ende des Films die Halluzination
der Sterbenden in die tatsächlichen Ereignisse übergeht und Sophie
neben ihrem toten Freund stirbt.
In jedem der drei Kapitel begegnen wir ähnlichen Handlungen der Heldin,
oft an den gleichen Orten. Wiederholt finden wir sie bei ihrer Therapeutin,
an Ihrem Arbeitsplatz an der Universität, in ihrer Wohnung, im Restaurant
mit ihrer Mutter und am Ort des tatsächlichen Geschehens: in einem kleinen
Spätkauf, in dem ihr Freund und sie angeschossen wurden.
Dass in jedem Kapitel (bzw. jeder Phase des Realisierungs- und
Anerkennungsprozesses) Sophie der Wahrheit ihres nahenden Todes ein Stück
näher kommt, dokumentiert sich schon visuell in einer zunehmend
realistischer wirkenden Repräsentation des Geschehens. Während
die Welt zu Beginn blaugrünstichig und mit stark überzogenem
Farbkontrast erscheint, gibt die DV-Kamera sie am Ende weitgehend
unverzerrt und in ausgewogenen Farbtönen wieder. (NOVEMBER
erhielt wohl insbesondere für diesen eleganten Farbfluss den Cinematography
Award beim Sundance-Festival.) Auf Ebene der Narration ist dem Zuschauer
Sophies fortschreitender Erkenntnisprozess möglicherweise relativ bald
deutlich, wenn er mit den oben genannten Filmen und deren
mindfuck-Prinzip vertraut ist oder etwa Elisabeth Kübler-Ross
gelesen hat zumeist aber dürfte sich die Geschichte am Ende erst
erschließen oder gar bei einem zweiten Sehen. Deutlichstes Anzeichen,
dass Sophie in ihren Halluzinationen sich selbst und ihrem eigenen Tod auf
der Spur ist, ist ihre Recherche nach und Untersuchung von Fotos unbekannten
Ursprungs, die vom Tatort zur Tatzeit aufgenommen wurden. Die Fotos sind
Fragmente der Realität, Bruchstücke einer objektivierenden und
distanzierten Außenperspektive auf sich selbst, welche Sophie aber
(noch) nicht einzunehmen fähig ist. Die Integration dieser Fotos in
ihre Halluzination ist motiviert durch eine Polizeifotografin, die Bilder
vom Tatort schießt, während Sophie stirbt. Ähnlich sind auch
Aufnahmen einer Überwachungskamera, auf deren Monitor sie im Sterben
blickt, in ihren geistigen Film integriert.
Noch in der ersten Phase der denial erfährt Sophie, dass
jene Fotos von ihrer eigenen Kamera stammen müssen und die Entwicklung
im Fotolabor von ihr in Auftrag gegeben wurde was kaum möglich
ist, denn wir sehen Sophie gleich zu Beginn des Films und der ersten Phase
zum Tatzeitpunkt in ihrem Auto sitzen, während ihr Freund im Spätkauf
erschossen wurde. Der Beginn der nächsten Phase (despair),
mit dem der Film neu ansetzt und eine andere Version bzw. Vision des Geschehens
im Spätkauf zeigt, gibt jenen Fotos Sinn und konstruiert die Realität
auf andere Art neu: Nun ist Sophie nicht mehr im Auto, sondern im Verkaufsraum
des Spätkaufs allerdings bei einem Foto-Shooting mit ihrem Geliebten.
Sie beobachtet das Geschehen, dem sie erneut, allerdings nur knapp und aufgrund
einer Ladehemmung der Waffe des Täters entgeht. Sophie nähert sich
damit der Wirklichkeit an, indem sie selbst nun in dem Spätkauf auftritt,
wo sie tatsächlich gerade stirbt, konstruiert jedoch den Verlust ihres
Freundes neu, der sie im Weiteren der Vision wegen einer Affäre
verlässt. Erst in der nächsten Phase (acceptance),
die vor allem durch Detektivarbeit an den Fotografien initialisiert ist,
wird das Geschehen so gezeigt, wie es stattfand: Sophie stirbt schließlich
neben ihrem Freund liegend.
Sophies Recherche anhand der Fotos nach der wirklichen Wirklichkeit
erinnert stark an Antonionis BLOW UP. Die Bilder liefern innerhalb ihrer
Halluzinationen einen Zugang zur Wirklichkeit außerhalb des Focus ihres
geistigen Auges, der jedoch nicht zu kontrollieren ist. Momenthaft
und bruchstückhaft taucht die Realität als Halluzination in der
Halluzination auf, ohne auf eine letztgültige, wahrnehmbare Wirklichkeit
verweisen zu können. Antonios Werk wird auch am Ende zitiert, wenn Sophie
sich an den Moment des Kennen Lernens ihres Freunds erinnert, den sie bei
einem Shooting fotografiert: plötzlich verschwindet er einfach
und so scheinbar unmotiviert und daher eine Reflexion fordernd,
wie schon Thomas nachdem er den Ball zu den Tennis spielenden Pantomime-Hippies
zurückgeworfen hat. Dieses Verschwinden, in BLOW UP oft als eine Einladung
an den Zuschauer gedeutet, sich einzulassen auf spielerische und abweichende
Varianten der gemeinsamen Herstellung von Wirklichkeit, fällt in NOVEMBER
zusammen mit dem Tod des Freundes. Es scheint hier, dass das einzige, was
ausgenommen bleibt aus der Konstruktionstätigkeit des Geistes, das sichere
Ende dieser Konstruktionstätigkeit ist: der Tod.
NOVEMBER spielt unverkrampft und stilsicher mit filmischen Verweisen, und
gibt sich bei der Auswahl als postmodern zu erkennen. Die Frage
nach der Realität der Realität wird auch auf der visuellen
Ebene mit einer Stilisierung von Bunuels Schnitt durchs Auge gestellt. Das
erste Kapitel denial (beziehungsweise die erste Phase des
halluzinatorischen Realisierungsprozesses) endet mit dem elegant stilisierten
Schnitt durchs Auge, der einen Wechsel des Wahrnehmungsmodus und ein
verändertes Bezugssystem der gemachten Beobachtungen anzeigt. Auch die
Fotos und der Versuch, ihnen eine Bedeutung zuzuschreiben, wobei sich nicht
eine fest stellen lässt, sondern die Sinnkonstruktion je nach der
psychischen Verfassung Sophies stets im Fluss ist, verweisen darauf, dass
Sinn in NOVEMBER nicht als Datum (lat.: gegeben)
inszeniert wird, sondern wörtlich als Faktum (lat.: gemacht)
also nicht als essentialistische Kategorie sondern eine relativistische
Konstruktion, welcher ihr eigener Standort als blinder Fleck nicht
zugänglich ist. NOVEMBER demonstriert so mit geschickt gesetzten Zitaten
auf einer meta-theoretischen Ebene, dass die Moderne (Avantgarde) keineswegs
tot ist, sondern in der Postmoderne weiterlebt. Der esoterische
Surrealismus hat bereits problematisiert, was heute exoterisch in der
Populärkultur von Filmen wie NOVEMBER nebenbei als ästhetischer
Mehrwert mitproduziert wird. Dieser treibt seine Postmodernität geradezu
auf die Spitze, indem er dieses Weiterleben noch selbstreflexiv
thematisiert: Sophie blättert kurz vor dem Mord an ihr und ihrem Freund
in einer Zeitschrift, die den Titel NEW TIMES trägt sowie die Schlagzeile:
IS MODERNISM DEAD? Sicher nicht kann man antworten, wenn man
sich ansieht, wie surrealistisch heute im Kino gestorben werden kann und
wie die Blutspritzer beim Shooting im Spätkauf auf jener
Zeitschrift arrangiert sind, wie auf dieser ein abstraktes Gemälde mit
Farbklecksen.
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