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Liu Jiayin: Oxhide (China 2005)

Kritik von Ekkehard Knörer 

Das schönste Erlebnis, das man auf einem Filmfestival haben kann, ist es, im Kino zu sitzen, nichts zu erwarten, den Film eines völlig unbekannten Regisseurs zu sehen und nach wenigen Minuten zu begreifen, dass man es mit einem Geniestreich zu tun hat. Leider ist das nicht nur das schönste Festivalerlebnis, das sich vorstellen lässt, es ist auch eines der seltensten. Gestern aber ist mir genau das passiert, aus heiterem Himmel, natürlich im "Forum des Internationalen Films", wo sonst.

Liu Jiayin ist eine Regisseurin aus Peking, 22 Jahre alt. Sie hat gerade erst mit dem Studium an der Filmhochschule ihrer Heimatstadt begonnen, "Oxhide" ist ihr Debüt. Hergestellt ist es mit den einfachsten Mitteln: Eine Digitalkamera, zwei Mikrofone, die sie sich geliehen hat, ein gutes, sagt sie später, ein schlechtes, daher die Unterschiede im Ton. Für zwei gute Mikrofone war kein Geld da. Es gibt keine Schauspieler, genauer gesagt: Es spielen Liu Jiayin selbst und ihre Eltern (und die Katze). Sie spielen sich selbst. Gedreht ist der Film in der 40 Quadratmeter großen Wohnung, die für keine Einstellung verlassen wird. Die Eltern und die Tochter spielen sich selbst und ihr Leben in der eigenen Wohnung.

Große Kunst wird daraus durch die Form, in der die Regisseurin diese nahe liegende Idee umsetzt. Der Film besteht aus 23 Einstellungen, die mit unbewegter Kamera gedreht sind. So radikal wie umwerfend sind die Ausschnitte kadriert. Nie erhält man einen Überblick über die Wohnung, nie bekommt man eine der Personen ganz in den Blick. "Oxhide" ist ein Film, dessen Intelligenz in der Art liegt, in der das Gezeigte und das Nicht-Gezeigte zugleich im Spiel sind. Ein Film, der die platte Abbildung vermeidet, indem er mit großer Bewusstheit und atemberaubender Entschlossenheit den Raum der Familie für die Kamera arrangiert. Nur für den oberflächlichsten Blick kann das kunstlos wirken.

Eine der ersten Einstellungen schon macht einem klar, wie präzise Liu Jiayin ihre 23 Kapitel inszeniert. Ins Bild kommen, wie es zunächst scheint, sinnlos zusammengestellte Gegenstände. In der Mitte der Teppich, links ein Foto, rechts etwas, das wie ein Sessel aussieht. Man kann das alles nicht genau erkennen, das Bild wirkt amateurhaft. Im Off unterhalten sich ein Mann und eine Frau. Es geht um Schriftzeichen, um Typografie, die Rede ist auch von einem Discount, man versteht nicht recht, was das soll. Das geht ein paar Minuten so, die Einstellung bleibt unverändert. Dann kommt ein bisher nicht gehörtes Geräusch hinzu, ein rotes Blatt schiebt sich aus dem Sessel, der, wie man nun begreift, ein Drucker ist. Die Stimmen haben über den Laden gesprochen, Zettel, die einen 50prozentigen Rabatt versprechen. Damit ist, aus dem Off, aus dem Drucker, der ein Sessel schien, eines der Leitmotive des Films entworfen. Jede Einstellung des Films ist, wie diese, wenn auch nicht immer mit einem Verblüffungseffekt, von einer formalen Konzentration, die man in der Sprache als gebundene Rede bezeichnen würde.

"Oxhide" ist ein Film über eine Familie. Diese Familie, die die Familie der Regisseurin ist. Es geht um den Vater, der Ledertaschen produziert und verkauft, seit Jahren gehen die Geschäfte schlecht, seit Jahren sind sie verschuldet. Man sieht die Familie beim Essen, beim Arbeiten, beim scheinbaren Nichtstun. Der Vater klagt sich an für seinen Misserfolg, er verachtet die Verkaufsmethode, die dem Kunden einen Discount vorgaukelt. Man spricht über die Zeitungsverkäuferin, die plötzlich gestorben ist, Mutter und Tochter beraten, wie man den Geburtstag des Vaters feiern kann. Jede dieser Szenen wirkt, wie man so sagt, ganz wie aus dem Leben gegriffen.

Und natürlich sind diese Szenen aus dem Leben gegriffen. Alles, was sie zeigt, wird die Regisseurin erklären, hat sich so oder ähnlich ereignet. Dennoch ist "Oxhide" kein Dokumentarfilm. Liu Jiayin hat ein genau ausgearbeitetes Drehbuch geschrieben, die Szenen lange mit ihren Eltern geprobt, Improvisation gibt es kaum. Die Eltern und die Regisseurin stellen sich selbst und ihr Leben dar, aber als Darsteller ihrer selbst. Die Einstellungen verknappen den Raum und reformulieren in der gebundenen Rede einer hier auf Anhieb fast schon in Vollendung gesprochenen Filmsprache die Wirklichkeit. In keinem der aktuellen Filme der Berlinale habe ich dergleichen gesehen, im Forum nicht und schon gar nicht im Wettbewerb. "Oxhide" ist eines der Wunder, die es ganz selten gibt. Es ist bisher der eine Film, den man unbedingt gesehen haben sollte.

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