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 Kinderfilmfest/14 plus – Gewinners des Gläsernen Bären im Jugendfilmwettbewerb: „Innocent Voices”, Kinostart: 21. April

Von Ulrike Mattern

 

„Nur wer nicht wegschaut, wenn es brennt, kann auch Lust am Leben empfinden.“ (Thomas Hailer, Leiter Kinderfilmfest/14 plus)

Stellen wir uns vor, die Internationalen Filmfestspiele, die zehn Tage lang in Berlin stattfanden, wären Gallien 55 v. Chr. Am Potsdamer Platz strecken alle die Waffen vor den einfallenden Römern, pardon, anreisenden Stars. Das Interesse der Medien ist ihre Rüstung. Das Blitzlicht der Fotografen ihre Waffe. Nur ein kleines gallisches Dorf nahe dem Bahnhof Zoo leistet dem Star-Auftrieb auf dem roten Teppich Widerstand …

So oder ähnlich könnte die Story über eine mit zu viel Aufmerksamkeit bedachte Spielwiese der Berlinale namens Wettbewerb und eine zu Unrecht völlig unterschätzte Attraktion namens Kinderfilmfest beginnen. Zum 28. Mal zeigte letzteres 10 Spiel- und 20 Kurzfilme. Für die im zweiten Jahr existierende ergänzende Sparte 14plus, den Wettbewerb des Jugendfilms, wurden neun internationale Produktionen ausgewählt. Im Gegensatz zum verschnarchten Programm im gut gepolsterten Showroom des Berlinale-Palasts konnten es sich die jugendlichen Zuschauer auf den durchgesessenen Kinosesseln des eher ranzigen Kinos Zoo Palast (ohne Popcorn!) mit der Gewissheit bequem machen, immer einen interessanten Film zu sehen.

Der Gläserne Bär im Jugendfilmwettbewerb ging an Voce Inocentes (Innocent Voices).

„Uns lief ein kalter Schauer über den Rücken, wir saßen da mit zugeschnürten Kehlen und wollten am liebsten nur nach Hause. Durch herausragende Schauspieler und Bilder, die sich in unserem Gedächtnis festgesetzt haben und trotzdem noch Hoffnung vermitteln, zeigte der Film ein Thema, das uns sprachlos macht, über das man aber reden muss.“ (Jugendjury 14plus)

Mit dieser emotionalen Begründung verlieh die Jugendjury der Internationalen Filmfestspiele in Berlin in diesem Jahr den Gläsernen Bären an den Eröffnungsfilm des Jugendfilmwettbewerbs. „Voces Innocentes” (Innocent Voices) von dem mexikanischen Regisseur Luis Mandoki kommt am 21. April bei uns ins Kino. Für diese Produktion, die von Mexiko für den Oscar 2005 als „Bester Ausländischer Film” eingereicht, aber von der Filmakademie bei den Nominierungen nicht berücksichtigt wurde, drehte Mandoki nach 15 Jahren zum ersten Mal wieder in seinem Heimatland. Nach einem erfolgreichen Kinodebüt Ende der 80er („Gaby: A true Story”) hatte der Regisseur ausschließlich in den USA gearbeitet und landete Box-Office-Hits im romantischen Genre („Eine fast perfekte Liebe” mit Meg Ryan; „Message in a bottle” mit Kevin Costner) sowie mit dem Action-Thriller „24 Stunden Angst”, in dem Charlize Theron die Hauptrolle übernahm.

Der packende Film über ein kleines Dorf auf der Frontlinie von Guerilla und Armee in El Salvador in den 80er Jahren arbeitet mit den dramaturgischen Mitteln des Hollywood-Kinos eine wahre Geschichte auf. Auf den persönlichen Erinnerungen des 1972 in El Salvador geborenen Drehbuchautors Oscar Orlando Torres beruhend, beginnt die Handlung mit einer Gruppe von Jungen, die von schwer bewaffneten Soldaten im strömenden Regen durch ein Dorf geführt werden. Die Kinder haben ihre Hände hinter dem Kopf verschränkt, stapfen verängstigt, den Blick gesenkt, durch den aufgeweichten braunen Schlamm über eine Landstraße in den Dschungel. Beobachtet von den Dorfbewohnern, die vor ihre Häuser treten und die Militärs mit ihren minderjährigen Gefangenen ohne ein Wort oder eine Geste des Widerstands vorbei ziehen lassen. In einem Rückblick wird die Geschichte dieser Jungen-Clique aufgerollt.

Der elfjährige Chava steht im Mittelpunkt, überzeugend von dem Schauspieler Carlos Padilla dargestellt, der erste berufliche Erfahrungen in den in Südamerika beliebten Telenovelas sammeln konnte. Chava will für immer elf Jahre bleiben, weil das Militär die Jungen aus seinem Dorf mit zwölf Jahren aus den familiären Zusammenhängen reißt, sie zwangsrekrutiert und für den Kampf gegen die eigenen Landsleute drillt. In El Salvador herrscht Bürgerkrieg, und die Armee braucht Kindersoldaten. In einer Szene des Films kann man den gewalttätigen Zugriff im Innenhof der Schule von Chava verfolgen. Ein Junge, dessen Namen aufgerufen wird, läuft weg. Ein Soldat rennt sofort hinter ihm her. Ein Schuss fällt. In den Gesichtern der Kinder spiegelt sich das Wissen um den Mord an einem ihrer Mitschüler wider. Vor Angst weint ein anderer Junge, er zittert, pinkelt sich in die kurze Hose der Schuluniform. Urin läuft an seinen nackten Beinen herunter.

Überall ist das Militär präsent: Amerikanische und einheimische Soldaten gehen bewaffnet über die Straßen des Dorfes. Lastwagen stehen vor der kleinen Dorfkirche, misstrauisch werden die Einwohner bei ihren alltäglichen Verrichtungen beobachtet. Immer wieder kommt es zwischen den ärmlichen Häusern mit Wellblechdächern, in den Gärten am Rande des Regenwaldes zu Gefechten mit den Widerstandsgruppen. Wenn Schüsse durch die dünnen Hauswände pfeifen, weiß Chava genau, wie er sich und seine beiden Geschwister in der Abwesenheit der Mutter schützt: Er reißt blitzschnell die Matratzen aus den Betten, drückt sie verstärkt durch Tische und Stühle an die Wand und verkriecht sich darunter. Die bedrückenden Szenen wechseln ab mit Schilderungen aus einem ganz gewöhnlichen Kinderalltag: der erste Blickkontakt, die erste Liebe zu einer Mitschülerin, Streit mit den Freunden beim Spiel am Fluss, Ärger mit der überarbeiteten allein erziehenden Mutter oder die trotzige Herausforderung der Gefahr, wenn Chava den verbotenen Sender der Guerilla und ihren Protestsong auf offener Straße, unter den wachsamen Augen der Militärs auf seinem kleinen Radio hört.

Auch die Botschaft des Films ist unüberhörbar, der Wunsch, Betroffenheit über das Schicksal der Kinder und ihrer Familien zu erzeugen, in der ästhetischen Bebilderung unübersehbar. Ein schwieriger Balanceakt, der einerseits eine Tendenz in Richtung eines politisch gut gemeinten, pathetischen Gefühlskinos aufweist, das die Gefahr für die selbst im schlammigen Dauerregen noch niedlich anzusehenden Jungen bis zum unerträglichen Höhepunkt am Ende durch ein grausames Szenarium zu steigern weiß. Andererseits wird gerade durch den dramaturgischen Spannungsbogen Empathie für deren Schicksal erzeugt. Bei den makellos inszenierten, brillant gespielten und die Klaviatur der Emotion gekonnt bedienenden politischen Filmen amerikanischer Machart zerfließt jeder am Ende in Tränen. Deren Wahrhaftigkeit, wenn es das im Tränenstrom zu finden gibt, lässt sich nur an „einer aufrichtigen Erzählhaltung” messen, die nach Meinung von Thomas Hailer, Leiter von Kinderfilmfest/14 plus, Anspruch an alle ausgewählten Filme war. „Innocent Voices” wird dem gerecht, lässt aber jenseits unreflektierter Betroffenheit allzu viele Fragen nach den Ursachen der Gewalt in El Salvador in den 80er Jahren offen.

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