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Topsy-Turvy

GB 1999


Regie: Mike Leigh. 

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Topsy-Turvy - Mike Leigh

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Köstlich ist das Wort für diesen liebevollen Film - voller Liebe fürs Theater. Köstlich wie eine lange, entspannte Haute-Cuisine-Mahlzeit, die Stunden dauert, ohne jede Eile, ein Gang folgt dem nächsten und die Zeit vergeht höchst angenehm mit interessanten Gesprächen.

Der Regisseur und Autor Mike Leigh hat sich eine ganz eigene Nische im Filmgeschäft geschaffen, mit sehr britischen Filmen, in denen man außergewöhnliche Dinge über gewöhnliche Leute aus dem Arbeiter-Milieu erfährt: High Hopes, Life is Sweet, Naked, Secrets and Lies (Lügen und Geheimnisse) und andere. Er (und seine Darsteller) haben eine Menge bedeutender Preise bekommen.Dazu kommen noch Leighs Theater-Arbeiten und Fernsehfilme, die oft auch ins Kino kommen.

In Topsy-Turvy behandelt Leigh die Partnerschaft des Librettisten W. S. Gilbert (1836-1911) und des Komponisten Arthur Sullivan (1842-1900), oder Sir Arthur, nachdem er 1883 geadelt wurde. Als Dritter im Bunde tritt der Impresario und Manager D'Oyly Carte (1844-1901) auf.

Obwohl eine meiner Katzen den Namen Yum-Yum trägt, bin ich kein G&S-Verehrer. Dennoch weiß ich zu schätzen, wie originell und neuartig ihre Arbeiten waren und dass sie die etwas andere Seite des biederen Viktorianismus darstellen.

Verglichen mit den aus seinen anderen Filmen vertrauten einfachen Leuten ist das Showbiz-Personal von Topsy-Turvy ganz und gar patrizisch. Vorgestellt wird es nicht im alten Genre der Künstler-Biografie, sondern im begrenzten Zeitrahmen, der Tiefe und Details ermöglicht.

Der Film beginnt 1884, als die neueste G&s-Produktion, Princess Ida, wenig erfolgreich ist. Für G&S-Standards ist sie ein Flop. Zuvor war auf die erste Zusammenarbeit, Trial by Jury, eine Serie von Hits gefolgt: The Sorcerer, H.M.S. Pinafore, The Pirates of Penzance, Patience und Iolanthe. Princess Ida mag den Misserfolg nicht verdient haben, aber gewiss ist Ida nicht Aida. Allerdings kann man die saftige Große Oper mit ihrem Belcanto mit den komischen Operetten, die G&S erfunden haben, auch kaum vergleichen.

Sir Arthur, mit schmerzhaften Nierenproblemen eigentlich ans Bett gefesselt, begibt sich mit letzter Kraft ins Savoy Theater und dirigiert das Orchester. (Sein Gesichtsausdruck, wenn er die Musik mitsingt, ist wunderbar). Er leidet allerdungs auch unter dem Ehrgeiz zur Komposition ernsthafter Musik, nach jugendlichen Anfängen unerfüllt. Nach Princess Ida reicht es ihm nun. 'Ich kann meine Zeit nicht mehr mit diesen trivialen Soufflés verschwenden', informiert er Carte.

Sir Arthur gönnt sich eine Pause und begibt sich auf den Kontinent. Er ist ein Bonvivant, das französische Essen und, in einem Bordell in Paris, ein entblößtes Damenduo, beleben ihn sehr und vermögen seinen Witz und 'joie de vivre' zu steigern . Das ist charmant. Aber als ihm Gilbert sein neuestes Libretto vorliest, hat Sullivan genug von den immerselben kunterbunten Plots.

Während seiner 160 Minuten langweilt der Film keine Sekunde. Und ich sage das als der Gürnder der IWDNMFW-Bewegung --- ich-will-den Neunzig-Minuten-Film-wiederhaben.  Ausgebreitet werden wunderbar treffsichere Victoriana: Innenräume, Gegenstände, Menschen; Gespräche, die Charaktere und Persönlichkeiten trefflich kennzeichnen; Gedanken zu Kreativität und Kunst; der geschäftliche Teil der Produktionen; Einsichten ins private Leben. Jede Minute bietet Interessantes und viele kurze Momente stehen gekonnt für ganze Situationen.

Topsy-Turvy genießt den Kontast zwischen dem lebendigen Hans-Dampf-in-allen-Gassen Sullivan und dem ernsthaften, oft verdrießlichen Gilbert. Die Wahl der Worte und Bilder verrät jene Unangestrengtheit, die sich intelligenter Vorbereitung verdankt. Der echte britische Humor und gelehrte Witz sind Kontrast wie Ergänzung zum fröhlichen Plätschern des G&S Sing-Sangs.

Die Partner sind kurz davor, sich zu trennen, als die kluge Mrs Gilbert (die wie alle Nebenfiguren mit eindrucksvoller Effizienz gezeichnet ist) ihren Ehemann zu etwas ganz Neuem mitschleppt, einer Ausstellung japanischer Kultur. Kabuki, Tanz, Musik und andere japanische Exotica werden zum Operetten-Damaskus-Erlebnis für Gilbert. So entsteht 1885 The Mikado.

All das wird in einer Serie klug geschnittener Szenen vorgeführt. Gilbert, der ein japanisches Schwert gekauft hat, spielt damit herum. Schnitt zu G&S, wie sie ein neues Skript lesen. Schnitt zum 12. Februar 1885, als schreckliche, das Empire erschütternde Neuigkeiten England erreichen. General 'Chinese' Gordon und seine Männer sind im belagerten Khartoum am 26. Januar von den sudanesischen Rebellen unter Führung des Mahdi massakriert worden. Schnitt auf die späteren Darsteller in The Mikado, die sich mit Austern vollstopfen -- und denen gleich übel wird. Das Leben geht doch weiter.

Die Dasteller, von winzigen zu den Hauptrollen, sind fehlerlos. Kluge, bezeichnende, unterhaltsame Momente, Szenen und Sequenzen gibt es in großer Zahl. Die komischsten zeigen Gilbert bei den Proben mit seinen Darstellern, wie ein moderner Theaterregisseur. Er hat japanische Damen engagiert, die seinen Schauspielern zeigen, wie man steht, geht und den Fächer hält. Er weist andere an, wie sie ihren Text zu singen haben. (War Leigh vielleicht von Truffauts Film-im-Film-Unglücken in Die amerikanische Nacht beeinflusst?). Das ist die hohe Kunst der Komödie, doppelt beeindruckend, wenn man sich vorstellt, wie die Film-Darsteller die Proben zu The Mikado geprobt haben.Zumal Mike Leigh und seine Leute nicht so arbeiten, wie es sich gehört. Es gibt keine fertigen Drehbücher; alles entsteht aus der Interaktion, Erfindung und Improvisation. Falls dieser Prozess auch für Topsy-Turvy Anwendung fand, so ist das Ergebnis hier eine wunderbaren Nahtlosigkeit der einzelnen Szenen

Ja, es gibt sogar Suspense. Gilbert hat den Song eines Darstellers herausgeschnitten (der an Robert Morley erinnert). Wird er ihn wieder einfügen? Wird der Hauptdarsteller mit Drogenproblemen, die Schauspielerin mit dem kaputten Bein oder die Schauspielerin die trinkt, die Vorstellung zu Fall bringen?

Man bekommt hier viele Filme zum Preis von einem. Leben und Werk von G & S; wie 'Eine Operette entsteht'; authentische Fachsimpelei; das Leben hinter der Bühne in unerreichter Genauigkeit und noch mehr. Technisch ist der Film brillant. Aber die Presse scheint den Beitrag eines wichtigen Mitarbeiters zu vernachlässigen. Der Komponist Carl Davis, der zwar in Brooklyn geboren ist, aber seit langer Zeit in England lebt, ist zwar den Eingeweihten bekannt, nicht aber der breiten Öffentlichkeit. Dabei ist sein Werk umfangreich und großartig. Seine Arbeiten umfassen Theater-Filme (er hat den British Music Award für Die  Frau des  französischen Leutnants gewonnen), Fernsehfilme (für Channel 4, die BBC), die oft in die Kinos kamen; Fernsehserien in England; Dokumentarserien wie The World at War, The Unknown Chaplin, Cinema Europe: The Other Hollywood. Seine Neukompositionen von Stummfilmklassikern (Intolerance, Ben Hur, The Eagle, Greed etc.) sind die besten, die es je gab. Der wunderbare Carl Davis ist der wichtigste Filmkomponist der Gegenwart, und keiner aus meiner Bekanntschaft kennt ihn, mit der Ausnahme des Meisterpianisten Ian Hobson, der Aufnahmen mit ihm gemacht hat und ihn bewundert.

Ein letzter Gedanke. Andere Operetten, von Johann Strauss, Franz Lehar oder Jacques Offenbach, sind gut über die Zeit gekommen. Die unübersetzbaren Texte von W.S. Gilbert haben das G & S-Repertoire auf die englischsprachigen Länder beschränkt. Topsy-Turvy droht, trotz der zwei New York Film Critics Preise (Bester Film, Beste Regie) ein ähnliches Schicksal.

zur englischen Fassung

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Edwin Jahiel ist einer der renommiertesten amerikanischen Internet-Film-Kritiker.  Roger Ebert, der Filmkritikpapst der USA, zählt ihn zu den fünf besten. Er hat als Professor für Filmwissenschaften an der University of Illinois gelehrt und veröffentlicht seine Kritiken in The News Gazette. Die deutschen Übersetzungen erscheinen exklusiv bei Jump Cut.

copyright Edwin Jahiel
copyright der Übersetzung Ekkehard Knörer

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