WELTREISE, 1. Station

Russell Banks: John Brown, mein Vater

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Am 18. Oktober 1859 unternahm ein kleines Häuflein fanatischer Gegner der Sklaverei unter ihrem weißen Anführer John Brown einen blutigen Überfall auf das Waffenarsenal von Harper's Ferry, West Virginia. Nach zwei Tagen war die Gruppe aufgerieben, 16 der 21 Männer waren tot und alle anderen, darunter John Brown, wurden bald darauf gehängt. Trotz ihres Scheiterns war diese Kamikaze-Unternehmung eines der Ereignisse, die zum Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen dem sklavenfeindlichen Norden und dem an der Sklaverei um jeden Preis fest haltenden Süden führten. Die Geschichte hat John Brown zum Märtyrer einer gerechten und zuletzt auch siegreichen Sache gemacht. Russell Banks erzählt in "John Brown, mein Vater" (engl. "Cloudsplitter") diese Geschichte (und vor allem ihre Vorgeschichte) in Form eines historischen Romans noch einmal.

Er trifft dabei eine erzählerische Vorentscheidung, die den Ereignissen einen besonderen Dreh gibt: Berichtet werden die Vorgänge von einem der Söhne John Browns, Owen, der am Überfall nicht unmittelbar beteiligt war, überlebte und die nächsten Jahrzehnte einsam in einer Hütte verbracht hat. An seinem Lebensende nun resümiert er (in der Erzählfiktion: für eine Historikerin, die aber nie auftritt) sein Leben, und das heißt: ein Leben, das er im Guten wie im Bösen in strikter Abhängigkeit von seinem übermächtigen Vater gelebt hat. Das Hauptaugenmerk liegt entsprechend auf den psychologischen Aspekten der Beziehung. Banks entwirft dabei ein grandioses Bild des streng bibelgläubigen, noch in seinen absurdesten und zuletzt selbstmörderischen Aktionen so überzeugten wie überzeugenden John Brown. Es ist diese Überzeugungskraft, die sich in der Unfähigkeit, dauerhaft Distanz zu gewinnen, im Bestreben zum Widerstand und im Gehorsam fast gegen den eigenen Willen, noch Jahrzehnte danach in der Resignation des Erzählers Owen Brown spiegelt. Er stellt die Frage all jener, die mit Rücksichtslosigkeit, die zum Ruhm führt, konfrontiert wurden, die auf immer im Unrecht sein werden und deren Stimme es ist, der Russell Banks immer aufs Neue Gehör verschaffen will: "Aber welcher von euch neuen, jungen Historikern und Biografen, sogar von denen, die ihn verachten oder für verrückt halten, hat je über den Preis nachgedacht, den wir, seine Familie, für diese Art von Größe zu zahlen hatten? Die von uns, die ihn weder aus sicherer Entfernung betrachten konnten, wie ihr, und die auch nicht schüchtern in seinem schützenden Schatten standen, wie man uns so oft dargestellt hat, sondern die jeden einzelnen Tag im vollen Gleißen seines Lichts aushielten?" Mit viel Geduld und Genauigkeit erstattet Banks der Hauptfigur ihr Leben zurück, formuliert als Totenbeschwörung im raunenden Imperfekt, um (fast) zuletzt alle, auch die längst verstorbenen Personen, in einer großen Vision des Erinnerns noch einmal zusammenzuführen.

Der Wahrheit der Geschichtsschreibung setzt Russell Banks mit Owen Brown eine andere, privatere Form von Gerechtigkeit entgegen. Im Grunde ist das erzähltechnisch wie geschichtsphilosophisch einigermaßen altmodisch, aber das Können des Autors lässt einen dann fragen, ob die Evokationen, deren die Literatur fähig ist, mit allem, was an Verlebendigung dazugehört, nicht, so altmodisch es scheinen mag, die Seite ihres Geschäfts sind, die gerade nicht veraltet. In einer klugen Überlegung des Ich-Erzählers wird sogar dem Individuum eine, wenngleich etwas ironische, Version von Handlungsmächtigkeit zurückerstattet. In der Kette von Ereignissen, die zum Bürgerkrieg und damit zum Ende der Sklaverei geführt haben, scheinen jene, die John Brown ausgelöst hat (und in denen ihn sein Sohn Owen bestärkt hat), unverzichtbar. Das Jetzt und Hier des oft genug sinnlos scheinenden Handelns hat unabsehbare Folgen gehabt, an deren Anfang das an sich selbst zweifelnde Individuum Owen Brown gestanden haben wird.

Ganz unaufdringlich wird dem historischen Owen Brown übrigens noch eine weitere, sehr private, ja intime Dimension hinzugefügt: sein Kampf mit seinen homosexuellen Neigungen, der für das Objekt seines nicht eingestandenen Begehrens zu einem tragischen Ende führt. Banks näht diese psychologische Zusatzebene sehr geschickt ins Unterfutter seines Romans, macht sie an manchen Stellen sehr überzeugend - und nie zu eindeutig - zum Motiv für manch schwer verständliche Handlungen seines Helden. Überhaupt gelingt es Banks meisterhaft, die verschiedenen Ebenen, Dimensionen und oft nur kurz angespielten Handlungsstränge in der Balance zu halten. Der Roman folgt insgesamt den Traditionen des realistischen Romans, aber die chronologische Linearität wird immer wieder durch Sprünge aufgebrochen - und angereichert wird das ganze durch Erzählerbetrachtungen zur Erinnerung, zum Wesen der Geschichte und zu religiösen Fragen. Diese stellen im Angesicht eines fanatischen religiösen Überzeugungstäters ein delikates Problem dar, für den aufgeklärten Autor wie die meisten seiner Leser - aber er hat mit Owen Browns Abfall vom Glauben zunächst eine notwendige Brechung eingebaut. Und immer deutlicher stellt sich heraus - durchaus in der Form von Selbsterkenntnis -, dass Owen den allwissenden Gott einfach ersetzt hat: durch seinen zürnenden, strafenden, mächtigen, gehassten und geliebten Vater.

"John Brown, mein Vater" gibt eine unspektakuläre Antwort auf die Frage, die man sich vernünftigerweise stellen darf: Wozu eigentlich sollen historische Romane gut sein? Warum die Vermischung von Historischem und Fiktionalem, in wessen Dienst steht eine solche Erzählung? Russell Banks' Roman steht ohne Frage im Dienst der Literatur. Die historischen Vorkommnisse werden zum Anlass einer dicht gewobenen Welt der Fiktion, in der an die historischen Ereignisse Fragen gestellt werden, die nicht die der Geschichtsschreibung sind. Es sind, wenn man so will, philosophische Fragen, nicht zuletzt die grundsätzlichen nach dem Sinn von Geschichte, der Möglichkeit von Fortschritt und des persönlichen Eingreifens. Der Roman kann keine Antworten darauf geben, er kann diese Fragen nur präsentieren: in der Form einer subtil und vielschichtig vorgeführten Welt, die mit ihren Charakteren, ihren Problemen und Schwierigkeiten und mit ihren Leidenschaften auffällig an unsere erinnert. Einen Roman, dem das gelingt, darf man mit Fug und Recht ein Meisterwerk nennen.

Russell Banks: John Brown, mein Vater. Luchterhand Literaturverlag 2000. 859 Seiten. DM 59.-

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engl.: Russell Banks. Cloudsplitter. Harper Perennial 1999. 758 Seiten. Taschenbuch. ca. DM 32

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