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Fortsetzung: Der mindfuck als postmodernes Spielfilm-Genre (II)

zu Teil 2

Von  Alexander Geimer

3 Irritationspotenzial des mindfuck-Film vor dem Hintergrund der postmodernen Medienkultur

Dass sich das Genre des mindfuck auch im Mainstream-Kino etablieren konnte, ist verwunderlich. Schließlich zeigen die allermeisten ökonomischen Erfolge, dass sich Zuschauer häufig ein Maximum an affektivem Wohlgefühl und Minimum an kognitiver Unruhe vom Ende eines Films erhoffen, also

   "daß sich der Film auf einen idealen Endzustand zubewegt, der die    aufgeworfenen Probleme löst, seine Fragen beantwortet und mit    Weltsicht, Werthaltungen, Sympathien übereinstimmt" (Eder, 2000:    19).

Diese Präferenz kann auf ein konstantes anthropologisches Bedürfnis nach Orientierung zurückgeführt werden: Menschen streben auch in der imaginären Teilhabe an fiktiven Situationen einen Zustand an, welcher es ihnen erlaubt die Situation, falls sie echt wäre, zu kontrollieren (vgl. Eder, 2000: 19). Dass gerade ein Genre, das sich mit dem Thema ‚Identität' beschäftigt, auf die gängigen Mittel der Herstellung dieser emotionalen und kognitiven Orientierung verzichtet, ist daher verwunderlich und erscheint erklärungsbedürftig.

Genre-Erscheinungen sind stets auch dem finanziellen Erfolg eines Vorreiters zu verdanken, der so zum Prototypen avanciert und Abwandlungen seiner selbst hervorbringt. Bereits Truffaut sah in einem solchen Erfolg weder einen Zufall noch lediglich die Bestätigung des ästhetischen Wertes eines Films: "Wenn ein Film einen gewissen Erfolg hat, ist er ein soziologisches Ereignis und die Frage seiner Qualität wird sekundär […]" (Truffaut 1972: 100). Truffaut legt damit also nahe, dass der Erfolg eines Filmes nicht nur auf seine Qualität zurückgeht, sondern - als soziologisches Ereignis - auch auf die dem Zuschauer vermittelten Möglichkeiten, sich mit aktuellen sozialen Spannungen und kulturellen Konflikten auseinanderzusetzen. Damit ist der Film, und insbesondere der populäre und erfolgreiche, von sozialwissenschaftlichem Interesse. Im deutschsprachigen Raum der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften hat insbesondere Rainer Winter darauf hingewiesen, dass "Filmanalyse als Gesellschaftsanalyse" (Winter, 2003, vgl. auch 1992) zu verstehen ist bzw. sein sollte:

   "Filme als Element der Repräsentationsordnung einer    Gesellschaft artikulieren aktuelle soziale Diskurse, sind in    gesellschaftliche Konflikte und Auseinandersetzungen eingebunden   und deshalb mit sozialen Bedeutungen gesättigt. Auf diese Weise    geben sie Einblick in die jeweiligen Codierungen von Intimität, von    Ängsten, Wünschen oder ethnischen Konflikten. Sie stabilisieren    dominante Sinnmuster, stellen sie aber auch in Frage" (Winter,    2003).

Wenngleich die Filmanalyse als soziologisch interessierte Genreanalyse mit dem Ziel der Gesellschaftsanalyse weder das filmwissenschaftliche noch das soziologische ‚Tagesgeschehen' sonderlich bestimmt, so hat sie doch eine lange Tradition (vgl. auch Mai / Winter, 2005: 8ff.). Schon der frühe Filmtheoretiker Kracauer hat darauf hingewiesen, dass

   "was die Filme reflektieren weniger explizite Überzeugungen als    psychologische Dispositionen [sind] ? jene Tiefenschichten der    Kollektivmentalität, die sich mehr oder weniger unterhalb der    Bewußtseinsdimension erstrecken" (Kracauer, 2002 [1947]: 194).

Die Analyse von Filmen ermöglicht, so Kracauer, anhand der "Popularität ihrer bildlichen und erzählerischen Motive" (ebd.: 195) Rückschlüsse auf die Organisation der Gesellschaft, bzw.: "Kollektivdispositionen oder Tendenzen, die sich innerhalb einer Gesellschaft in einem gewissen Stadium ihrer Entwicklung durchsetzen (ebd.). In jüngster Zeit haben sich insbesondere Denzin (1991, 1995) und Kellner (1995) mit dieser Analysehaltung hervorgetan und die Verarbeitung zeitgenössischer Diskurse im Film sowie die unterschiedlichen identitätsstiftenden Positionierungsangebote und Lesartenoptionen untersucht.

Ein Grundproblem für eine dergleichen soziologisch interessierte Filmanalyse stellt die Auswahl der zu untersuchenden Filme dar. Faulstich schlägt als Sampling-Methode die hier vorgenommene Analyse von ausdifferenzierten (Sub)Genres vor (vgl. Faulstich, 2002: 196). Er demonstriert diese anhand des Genres des ‚Teufelsfilms' der späten 60er und frühen 70er, indem er die relevant gesetzten Themen als Verarbeitung von zeitspezifischen Kulturphänomenen begreift (vgl. ebd.: 195). So führt Faulstich bspw. die Popularität der genretypischen Figur der ‚Hexe' auf die Angst des Mannes vor der selbstbewussten Sexualität der emanzipierten Frau und ihrer sozialen Autonomie zurück. In der Angst vor dem Antichristen, der in den Teufelsfilmen über die Menschheit kommt, äußert sich laut Faulstich das mangelnde Vertrauen der Menschen in die soziale Ordnung und speziell die Legitimität der politischen Elite, die durch Skandale (bspw. Watergate) und Kriege (bspw. Vietnam) stark infragegestellt war. Ganz ähnlich arbeitete bereits Tudor das in den 70ern erfolgreiche Subgenre des ‚paranoiden Horrors' heraus: "Es gibt keine soziale und moralische Ordnung mehr, die es wert ist, verteidigt zu werden bzw. die man überhaupt zu verteidigen imstande ist. Der paranoide Horrorfilm enthüllt eine Welt, in der es keine verlässlichen Orientierungen und Sinnbestände mehr gibt" (Mai / Winter, 2005: 10).

Auch das Auftreten des Genres des mindfuck kann schlüssig auf aktuelle soziokulturelle Phänomene und Prozesse zurückgeführt werden, welche vor allem in der postmodernen Theoriebildung reflektiert werden. Für die Ausdifferenzierung jenes Genres sollte insbesondere die Erfahrung der Virtualität der Welt (im Sinne des Simulacrums nach Baudrillard) eine Rolle spielen: Mit der Veralltäglichung der Wirklichkeitseffekte produzierenden Medien - TV, Kino, Radio, Computer und Internet - und der entsprechenden Installation eines immer schwieriger zu reduzierenden Möglichkeitsraums alternativer Sinn- und Deutungsangebote geht dem Menschen die Unterscheidbarkeit von ‚Wirklichkeit' und ‚Fiktion' verlustig: es kommt zur "Generierung eines Realen ohne Ursprung" (Baudrillard, 1978: 7). Das Reale wird durch die beständige "Kolonialisierung des Alltags durch Bilder, Zeichen und Simulakra" (Winter, 1995: 32) abgelöst von den vielfachen Simulationen desselben, so dass die Zeichen nur auf andere Zeichen verweisen und nicht mehr auf das Wirkliche selbst. Dieser (scheinbar) letzte Referent der Zeichen bzw. ihre ideologische Verankerung in einer ontologischen Realität, ging verloren - Baudrillard spricht in diesem Sinne von der "Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen (Baudrillard, 1978: 7). Winter fasst dies folgendermaßen zusammen:

   "Die Ordnung der Simulation bringt ständig Modelle des Realen     ohne Ursprung und Realität hervor, sie erschafft eine eigene    ‚Ordnung der Dinge'. Diese bilden nicht mehr einen extrenen    Referenten ab, sondern verweisen in der Simulation nur noch auf    sich selbst" (Winter, 1995: 33).

Baudrillard versuchte gewissermaßen das für das Soziale und die Kultur nachzuweisen, was Derrida für die Schrift nachzuweisen suchte (vgl. ebd.): die beständige Verschiebung (‚differeánce') sinnkonstituierender Differenzen, und das Fehlen eines ‚Jenseits' dieses Prozesses und einer ‚wirklicheren' Wirklichkeit eines letztgültigen Beobachterstandpunktes. Diese ‚Verselbständigung' der Zeichen und ihre Loslösung von den Referenten führt dazu, dass keine Instanz mehr vorhanden ist, welche dem Subjekt Gewissheit von sich selbst zu geben vermag, sich für die Authentizität der Identität des Subjekts verbürgen kann: "In this sense, what Baudrillard analyzes as the deletion of the referential universe results in our deleting our own identity" (Eig, 2003). Das Subjekt wird damit "in der dramaturgischen und kinematischen Gesellschaft der Moderne selbst zu Simulakra" (Winter, 1995: 34). Auch Eder kommt anhand kulturtheoretischer Überlegungen zum postmodernen Film zu dem Schluss, dass sich offensichtlich "auf breiter Basis […] ein Zwangsaustausch zweier Währungen [vollzieht]: die Devise des Authentizitätgefühls gegen die beunruhigende Vorstellung inflationärer Inszeniertheit in der ‚Gesellschaft des Spektakels'" (Eder, 2002: 38).

Der mindfuck, so lässt sich vor dem Hintergrund der Überlegungen zur postmodernen Virtualität der Identität zumindest vorsichtig folgern, könnte diesen ‚Zwangsaustausch' erfahrbar machen und dem Zuschauer die Möglichkeit geben, Ängste um Selbsttäuschung und die Authentizität seines Selbst zu erleben - entsprechend meint auch Eig zur potenziellen Wirkung des mindfuck: "If the characters on screen are deluded as to their identities, the mindfuck movies provide us with an opportunity to work out our own similar fears about self-delusion" (Eig, 2003). Demnach könnte der mindfuck den Zuschauer auf die Konstruktionsleistungen aufmerksam machen, die notwendig sind, damit uns unsere Wirklichkeit als ‚objektiv' gegeben und selbstverständlich erscheint und damit Relativität und Kontingenz der scheinbar selbstverständlichen Alltagswirklichkeit betonen. Entsprechend geht Eder gar davon aus, dass "das postmoderne Spiel mit narrativen Versatzstücken […] die Spielregeln einer medialisierten Welt vor[führt]. Es zeigt anschaulich, wie die Darstellungs- und Erzählformen funktionieren, und ist so im Idealfall ein Stück Aufklärung über die Medien und ihre Strukturen" (Eder, 2002: 40). Der mindfuck wäre so gesehen "ein Angebot, mit existentieller Verunsicherung, Pluralität, Relativismen, Entscheidungszwängen und Kontingenzen auf kreative Weise umgehen zu können" (Eder, 2002: 40).

Mit den hier angestellten Überlegungen ist allerdings nur gesagt, dass dieses Irritationspotenzial zu existieren scheint sowie dass es bestimmte ‚Wirkungen' haben könnte - nicht aber wie Zuschauer in Rezeption und Aneignung damit umgehen: "Die ausschließliche Konzentration auf die Filmform und -ästhetik, auf Filmwirkungen oder auf die Rezeption durch ein aller sozialen Bezüge entkleidetes Subjekt führen zu Vereinseitigungen, Verzerrungen und zur Ausblendung der gesellschaftlichen Wirklichkeit" (Winter, 2003). Gerade im Kernbereich der Filmwissenschaft fehlt es an solchen Studien, was den Filmwissenschaftler Martin Barker in einem Interview mit Janet Staiger zu folgender Herausforderung an seine Kollegen reizt:

   "I want to challenge them [colleagues, A.G.] to show me one single    case where a claim arrived at on the basis of analysis of film form    has been substantiated by a serious piece of audience research" (Barker, 2003).

Wie also gehen Zuschauer mit dem offensichtlich vorhandenen Irritationspotenzial des mindfuck tatsächlich um? Um darüber Aussagen treffen zu können, kann auf Film-Nacherzählungen von Berliner Jugendlichen des Films THE OTHERS (USA, F, E 2001) zurückgegriffen werden.

zu Teil 4

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