Filmbuch: Christine Engel (Hg.): Geschichte des russischen Films

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REZENSION

Christine Engel: Geschichte des russischen Films


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Christine Engel (Hg): Geschichte des sowjetischen und russischen Films. Stuttgart 1999. Metzler Verlag. DM 78.-

Der Hundertjährigen, die die Filmgeschichte inzwischen ist, mit der Gesamtdarstellung einer nationalen Kinematographie in einem einzigen Band zu Leibe zu rücken, ist ein ambitioniertes Unterfangen. Es ist schon für die Anstrengung der Metzler-Verlag zu loben, der seinen einbändigen Geschichten des deutschen, des britischen und des chinesischen Films nun eine des sowjetischen und russischen Films zugesellt. Das Verdienst ist umso größer, als der Band eine schmerzliche Lücke füllt: es ist die erste Überblicksdarstellung zum russischen Film im deutschsprachigen Raum.

Christine Engel, die Herausgeberin, betont in einem kurzen Vorwort die Notwendigkeit historischer, politischer, kunsthistorischer und kultureller Kontextualisierungen. Damit ist das größte Problem der Geschichtsschreibung ästhetischer Gegenstände angesprochen: stets gilt es, die Zusammenhangszumutungen des Überblicks mit der spezifischen Konkretheit des einzelnen Werks zu versöhnen. Überzeugende establishing shots sind ebenso wichtig wie gelungene close-ups - nicht zu vergessen die Halbtotalen, in die die Werkbiografien wichtiger Regisseure zugleich zu fassen sind.

Der vorliegende Band ist sichtlich um eine ausgewogene Mischung bemüht; gelungen ist sie nicht immer. Die Einteilung in verschiedene Abschnitte folgt den Zäsuren der politischen Geschichte, die hier wie kaum sonst alles andere als bloßer Begleitumstand ist. Unmittelbarer als andernorts ist der Film in Russland immer auch Reaktionsbildung auf und gegen die Vorgaben von Zensur und Ideologie. Diesem Zusammenhang versucht der Band gerecht zu werden, indem die einzelnen Abschnitte jeweils mit einer Zusammenfassung relevanter politischer Ereignisse beginnen. Der Zuschnitt zu sieben in sich weitgehend geschlossenen Kapiteln - nämlich: Zarenreich, Stummfilm /früher Tonfilm, Film unter Parteikontrolle, Tauwetterperiode, neuer Konservatismus, Perestroika, neues Russland - überzeugt. In den anschließenden von der politischen Situierung dann weitgehend unbehelligt bleibenden Analysen wird deutlich, dass der russische Film sich über weite Strecken seiner sowjetischen Geschichte nicht ins Niemandsland politischer Korrektheit und ästhetischer Bedeutungslosigkeit hat abdrängen lassen. Insbesondere gilt das natürlich für die filmhistorisch bedeutendste Epoche des russischen Films, die Stummfilm-Avantgarde der zwanziger Jahre um Eisenstein, Pudovkin, Dovzenko, Vertov.

Leider ist das diesem Zeitraum gewidmete Kapitel, das Evgenij Margolit verfasst hat, das mit Abstand schwächste. Der Versuch formaler Analysen der Filme, also vor allem der Montagetechniken, bleibt ebenso oberflächlich wie die Auseinandersetzung mit den theoretischen Schriften der Avantgarde. Die Konzentration auf einige wenige signifikante Filme wäre sinnvoller gewesen als das Bemühen um Vollständigkeit. Als theoretischer Hintergrund ist vor allem Bachtins Interpretation der Volkskultur und des Karnevals auszumachen. Wenngleich dies für die Herkunft des russischen Kinos aus der Tradition der Lubki, der Volksbilderbögen, seine Berechtigung hat, greift der Bezug auf Lachkultur und Groteske bei der Analyse der Stummfilme entschieden zu kurz. Gemindert wird das Lesevergnügen noch zusätzlich durch das dröge Deutsch, in das der Text aus dem russischen Original gebracht worden ist. Im letzten Abschnitt des Bandes über das Kino der Perestroika und den postsowjetischen Film, begegnet man der klischierten Sprache wieder, die den Filmen vorzugsweise mit abgedroschenen Adjektiven nahe zu kommen versucht. Kenntnisse und Kompetenz der Verfasserin Eva Binder stehen dabei im übrigen ebenso außer Zweifel wie im Falle Evgeni Margolits.

Die Autorin des Zwischenstücks zu Tauwetterperiode und neuem Konservatismus aber, Oksana Bulgakova, beweist, dass Filmgeschichtsschreibung über das Befriedigen der Wissbegierde hinaus auch ästhetische Empfindungssinne kitzeln kann. Auf dem vom Format vorgegebenen engen Raum gelingt es ihr, einen sinnvollen Bezug von Überblick und Analyse herzustellen und interessante Schlaglichter auf einzelne Filme und auch Regisseure zu werfen. Der Gewinn, mit dem man diese Kapitel liest, ist der erfreuliche Mehrwert eines Bandes, dessen Unverzichtbarkeit für den Interessierten ansonsten in erster Linie in seiner Solidität und Konkurrenzlosigkeit begründet liegt.

zuerst abgedruckt in FAZ 13.3.2000



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