Seminar: Drama und Postdrama Dozent: Dr. des. Ekkehard Knörer Email: knoerer@gmx.de
Auszug aus: Aristoteles: Poetik (Kapitel 6) vollständiger Text findet sich hier
(1) Über die Darstellung im Hexameter und über die Komödie wollen wir später sprechen. Jetzt wollen wir über die Tragödie sprechen und die aus dem Gesagten sich ergebende Definition ihres Wesens geben. (2) Tragödie ist Darstellung einer ernsten und abgeschlossenen Handlung, von einem gewissen Umfang, in anmutiger Sprache, mit einer nach ihren Teilen gesonderten Anwendung jeder Darstellungsart, durch handelnde Personen, nicht durch Erzählung, welche durch Mitleid und Furcht die Reinigung der Leidenschaften dieser Art bewirkt. (3) Anmutige Sprache nenne ich die, welche Rhythmus, Harmonie und Metrum hat. (4) Sie gebraucht jede Darstellungsart gesondert, indem einige Teile nur durchs Metrum, wieder andere durch Gesang ausgeführt werden. (5) Da aber die Darstellung durch handelnde Personen geschieht, so ist wohl der erste notwendige Bestandteil die in die Augen fallende Ausrüstung, sodann die Melodie und die Sprache. (6) denn dies sind die Mittel der Darstellung. Unter Sprache aber verstehe ich die Zusammensetzung der Verse selbst. Was unter Melodie zu verstehen sei, weiß jeder selbst. (7) Da aber eine Handlung dargestellt wird, und dies durch gewisse handelnde Personen geschieht, die in Rücksicht auf Charakter und Denkungsart notwendig irgend eine Qualität haben müssen (denn dadurch sprechen wir auch den Handlungen irgend eine Beschaffenheit zu), so haben die Handlungen natürlicherweise zwei Ursachen: die Denkungsart und den Charakter: und demgemäß erreichen oder verfehlen auch alle ihre Absichten. (8) Die Darstellung der Handlung ist der Mythos (denn ich nenne Mythos die Zusammensetzung der Begebenheiten). Charakter ist das, wodurch wir den Handelnden eine gewisse Beschaffenheit beilegen. Denkungsart ist das, wodurch sie etwas mit Worten dartun oder eine Gesinnung äußern. (9) Notwendig also muss jede Tragödie sechs Teile haben, durch welche sie sich als Tragödie charakterisiert: die sind der Mythos, der Charakter, die Sprache, die Denkungsart, die äußere Ausrüstung und Melopoiie. (10) Zwei dieser Teile gehören zu den Mitteln, einer zu der Art, drei zu den Gegenständen der Darstellung; außer diesen braucht sie nichts. (11) Nicht wenige Dichter nun haben. so zu sagen, alle diese Arten angewendet; denn jedes Stück hat äußere Ausrüstung, Charakter, Mythos, Sprache, Melodie und Denkungsart. (12) Das wichtigste aber unter diesen ist die Zusammensetzung der Begebenheiten: denn die Tragödie ist eine Darstellung nicht von Menschen, sondern von Handlungen, vom Leben, vom Glück und Unglück: denn das Glück besteht in Handlung und das Ziel der Tragödie ist eine Handlung, keine Beschaffenheit. Die Menschen haben aber in Rücksicht auf die Charaktere eine gewisse Beschaffenheit; in Beziehung auf die Handlungen sind sie glücklich oder das Gegenteil. (13) Daher handeln sie nicht, um die Charaktere darzustellen, sondern die Charaktere werden um der Handlungen willen mit aufgenommen. Daher sind die Begebenheiten und der Mythos das Ziel der Tragödie. Das Ziel aber ist bei allem das Wichtigste: (14) denn ohne Handlung ist keine Tragödie möglich, wohl aber ohne Charaktere. (15) Denn die meisten Tragödien der Neuern sind ohne Charaktere, und im allgemeinen gibt es viele Dichter der Art; wie auch unter den Malern das Verhältnis des Zeuxis zu Polygnot ist: denn Polygnot ist ein guter Charaktermaler, die Malerei des Zeuxis aber hat keinen Charakter. (16) Ferner, wenn einer charakterschildernde Redensarten, Worte und Gedanken wohlgebildet aneinander reihte, so wird er das nicht tun, was Aufgabe der Tragödie ist, sondern vielmehr diejenige Tragödie, welche diese Eigenschaften in geringerem Grade , dafür aber Mythos und Zusammenstellung der Begebenheiten hat. (17) Zudem sind die wichtigsten Mittel, wodurch die Tragödie Effekt macht, Teile des Mythos; nämlich die Peripetien und die Wiedererkennungen. (18) Ein weiterer Beweis dafür ist, dass auch die angehenden Dichter früher in Sprache und Charakter als in der Zusammenstellung der Begebenheiten eine Vollkommenheit erlangen, wie auch fast alle frühesten Dichter. (19) Anfang also und gleichsam Seele der Tragödie ist der Mythos, das Zweite die Charaktere; (20) denn es ist ebenso wie bei der Malerei. Denn wenn einer die schönsten Farben ohne Plan auftrüge, so würde er weniger angenehmen Effekt machen, als wenn er ein Bild mit der Kreide zeichnete. (21) Sie ist Darstellung einer Handlung und geschieht darum Hauptsächlich durch Handelnde. (22) Das Dritte ist die Denkungsart. Dies besteht darin, dass man das Mögliche und Passende sagen kann, was bei den Reden Sache der Politik und Rhetorik ist: (23) denn die Alten ließen ihre Personen politisch sprechen, die jetzigen rhetorisch. (24) Charakter ist das, was das Wesen der Gesinnung an den Tag legt, ob er Neigung oder Abneigung hat: daher haben einige Reden, in welchen nichts enthalten ist, wofür der Sprechende Neigung oder Abneigung hat, keinen Charakter. (25) Die Denkungsart ist die Darlegung, dass etwas ist oder nicht ist; oder überhaupt irgend eine Äußerung. (26) Das Vierte ist der Ausdruck in den Reden. Unter Ausdruck verstehe ich, wie früher gesagt wurde, die Darlegung durch Worte, was sowohl bei gebundener als bei ungebundener Rede die selbe Bedeutung hat. (27) Unter den übrigen ist das Fünfte die Melopoiie, das bedeutendste Mittel der Verschönerung. (28) Die äußere Ausstattung wirkt zwar Effekt, ist aber ganz unkünstlerisch und der Dichtkunst nicht angemessen. Denn die Bedeutung der Tragödie besteht auch ohne Aufführung und Schauspieler. In Rücksicht auf die Verfertigung der äußeren Ausstattung ist die Kunst des Maschinisten bedeutender als die der Dichter.
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