Jump Cut Klassiker

Startseite -  Inhaltsverzeichnis - Klassiker - Archiv - Links - Forum - Mail

 

Hiroshi Shimizu: Die blinden Masseure und die Frau – Anma to onna (Japan 1938)

Von Stephane Boeuf

Ein Kurort ist ein Ort, zu dem man wandert oder fährt, und so beginnt auch der Film – im Urlaub gedreht – mit der Anreise der Protagonisten, in Gruppen aufgeteilt, die sich, und die Filmcrew, in einer langen Kamerafahrt auf der Straße gegenseitig überholen. Da sind die beiden blinden Masseure, die von Kurort zu Kurort wandern und schon so viele Jahre auf Wanderschaft sind, dass sie sogar den Namen ihres Geburtsortes vergessen haben. Wanderer sind unterwegs, Studenten und Studentinnen, die abends zur Kundschaft der Masseure werden sollen. Und dann fährt noch eine Taxe vorbei mit einer Frau aus Tokio.

Die blinden Masseure haben ein gutes Gespür: Sie wissen genau, wer ihnen auf dem Weg begegnet. Gehör und Geruch verraten ihnen, was nicht zu sehen ist. So haben sie die Herkunft der Dame aus Tokio gerochen und spüren auch schnell, das wird sich erst später herausstellen, dass etwas bei dieser Frau merkwürdig ist, dass sie eine Furcht in sich so gut birgt, dass der Zuschauer nichts davon ahnt.

Ein weiterer Gast ist auch mit der Taxe angereist: ein Mann mit Kind. Er ist nicht der Vater und will eigentlich schon sehr bald wieder zurückreisen. Der Junge langweilt sich mit ihm und will nicht zurück in die Stadt. Er findet bei der Frau aus Tokio Zuflucht, wodurch der Mann ihre Bekanntschaft machen wird und sich entscheidet, doch länger im Kurort bleiben zu wollen. Von der Frau über seinen erwachsenen Begleiter befragt antwortet der kleine Junge: Das ist nicht mein Vater, das ist mein Onkel.

Wie ein Leitmotiv wird diese Befragung über das Wesen einer Beziehung mehrmals wiederholt: Verwandtschaftsgrade werden vermutet, und immer stellt sich heraus, dass die angesprochene Beziehung nicht so eng wie angenommen ist. Meistens heißt die Antwort dann: Nein, das ist ein Fremder. Es gibt keine Mütter und Väter, keine Ehepaare. Alle sind Fremde und erproben in einem schwerelosen Karussell verschiedene Kombinationen der Beziehungen: improvisierte Familien, wie Shimizu sie bevorzugt. Paare werden für die Dauer eines Spaziergangs gebildet: die Frau aus Tokio mit dem Masseur, der sich in sie verliebt hat; der Onkel mit der Frau aus Tokio, die ihm nicht gleichgültig ist. Und der kleine Junge, der sie jedes mal zusammenbringt, wird von Hand zu Hand weitergereicht, verschwindend und sich neue Partner suchend, wenn die Erwachsenen, die ursprünglich mit ihm spielen wollten, nur noch – wie langweilig! – miteinander reden.

Doch die Beziehungen währen nicht länger als die Zeit des Spaziergangs. Weil jeder auf seinem eigenen Weg unterwegs ist, kann es zu keiner Festigung dieser Beziehungen kommen. Die Masseure sind auf ewiger Wanderschaft. Der Onkel macht eine kurze Pause auf seinem zielstrebigen Lebensweg in Tokio. Und die Frau aus Tokio muss ihr Geheimnis enthüllen: Sie ist zwar tatsächlich aus Tokio, doch sie kann nicht mehr zurück nach Tokio, sie ist auf der Flucht vor einem Mann. Ihr Schweigen und Verbergen haben Schlimmeres vermuten lassen. Der verliebte Masseur verdächtigt sie des Diebstahls und hilft ihr, die Dauer eines Missverständnisses, bei der Flucht vor der Polizei. Kurz dürfen sie nun gemeinsam laufen, ihre in der Hast der Flucht nackten Füße in einer Großaufnahme vereint, bevor die Missverständnisse geklärt werden.

Shimizus Helden finden kein Zusammen, weil die Rhythmen ihrer Lebenswege nicht synchron sind. Sie begegnen sich auf diesen Wegen – eingesperrt im strebsamen Marschieren oder im Umherirren des Ausgestoßenen – und fahren am Ende alle nacheinander wieder ab, wie sie gekommen sind. Die kurze Urlaubssaison hat ihr Ende gefunden. Es regnet.

Zwischen Wandern, Umherirren und Marschieren, stellen Shimizus Filme nicht so sehr die Frage nach dem richtigen Lebensweg als nach dem richtigen Rhythmus, ihn zu gehen.

zur Jump Cut Startseite

Suchen
 
Google
Web Jump Cut