Jump Cut
Klassiker

Startseite -  Inhaltsverzeichnis - Klassiker - Archiv - Links - Forum - Mail

 

Alfred Hitchcock: The Wrong Man (USA 1956)

Von Ekkehard Knörer 

Dies ist, sagt Alfred Hitchcock, in einem Vorspann, der ihn - oder eine Gestalt, die ihn darstellt - als schwarzen Körper in einem nach vorne sich weitenden Lichtkegel zeigt, dies, sagt Alfred Hitchcock, ist ein Film, der sich von all meinen anderen Filmen unterscheidet. Denn was hier erzählt wird, versichert die Stimme, die wir uns als zum schwarzen Körper im weißen Lichtkegel gehörig vorzustellen haben, ist wirklich geschehen. Es ist die Stimme des Regisseurs und Autors, der hier als Figur auftritt, die sich innerhalb eines Werks situiert, außerhalb dessen sie diesen Film nur ansiedeln kann, weil sie es überblickt. Dieser Prolog ist kein Cameo - das gibt es auch in "The Wrong Man" -, keine verschmitzt ins Bild geritzte Signatur, sondern ein Kommentar. Ein Versprechen in Klartext: ein Film von Hitchcock, der sich von einem Hitchcock-Film unterscheidet.

Es gibt in "The Wrong Man" für mich ein Punctum, von dem mein Blick angezogen wird, eine Stelle, an der der Film seine eigene Poetik zeigt. Es ist sehr buchstäblich, sehr material eine Stelle: an der Wand. Ein Loch, aus dem mit unregelmäßigem Umriss der Putz herausgebrochen ist. Es wäre naiv, hier von einem Einbruch des Realen zu sprechen, es wäre schon falsch, von einem Einbruch zu sprechen (oder dem Realen), aber was diese Stelle zum Punctum macht (für mich), ist doch der Effekt eines solchen Einbruchs. Die Wand ist nicht glatt, etwas macht sich bemerkbar im Raum, im Bild des Films, der gar nicht explizit darauf zu sprechen kommt, der keine Anstalten macht, diese Stelle, diesen Riss im Gefüge seines Bildraums, durch Blickführungen zu betonen. Diese Wand, die Wand, von der ich spreche, die Wand, die meinen Blick an sich gezogen hat, ohne dass er dorthin geführt worden wäre, sie befindet sich auf einer Polizeistation. Sie bleibt Hintergrund für eine Verhörszene, aber es ist diese Art von Hintergründen, diese Art, Hintergründe zu zeigen, ohne sie zur Pointe seines Erzählens zu machen, die diesem Film tatsächlich einen besonderen Ort im Werk Alfred Hitchcocks zuweist. (In "Night of the Hunter" von Charles Laughton sieht man einmal an einer Wand, die eine Gefängniswand ist, eine Schrift, die sich nicht entziffern lässt - so genau man auch hinsieht. Es scheint schwer vorstellbar, dass diese Schrift für den Film dort angebracht wurde, um dann nicht lesbar zu sein. Aber wenn es so wäre? Wände in Filmen.)

Eine andere Stelle in "The Wrong Man". Der Kopf von Henry Fonda vor einer Gefängniswand. Im Plot ist es dieser Ort: Man hat ihn eines Raubüberfalls auf die Filiale einer Lebensversicherung verdächtigt, den er nicht begangen hat. Die Zeuginnen identifizieren ihn bei einer Gegenüberstellung. Er muss vor weiteren Zeugen wie ein abgerichtetes Tier auf- und abgehen in Läden. Er wird verhört. Er muss in Druckbuchstaben die Worte des Verbrechers wiederholen und macht den gleichen Fehler wie der Verbrecher. Er wird dem Haftrichter vorgeführt. Er muss im Gefängnis seine Taschen leeren, der Inhalt wird genau notiert, den Rosenkranz darf er behalten. Er muss sich ausziehen, er muss die Gefängniskleidung anziehen. Er ist der falsche Mann am falschen Ort, er ist unschuldig verhaftet, wir sehen seinen Kopf vor der Gefängniswand, ihm schwinden die Sinne, die Kamera beginnt zu kreisen. Sie kreist und kreist, eine geradezu unbeholfene Übersetzung, möchte man denken, eines Schwindels, des Schwindens der Sinne. Aber das ist nicht unbeholfen, sondern nur schlicht, direkt. Es ist diese Direktheit der Mittel, die "The Wrong Man" seinen besonderen Ort im Werk Alfred Hitchcocks zuweist. (Ein Versprechen. Alfred Hitchcock weiß, was er verspricht. Er bricht sein Versprechen nicht.) Dazu kommen, ebenso direkt, die Wechsel von objektiven auf subjektive Einstellungen, der Blick auf Gänge, auf Schuhe. Großartig, wie die Fahrt im Polizeiwagen zum Gefängnis aufgelöst wird, ein Blick ins Gesicht des Unschuldigen, der die Augen beschämt auf den Boden richtet, dann der direkte Schnitt auf die Schuhe der anderen Verbrecher, nur die Schuhe, nichts weiter. Und die Musik von Bernard Herrmann, die in einfachen Motivrepetitionen und Unterstreichungen die Bilder weder doppelt noch kommentiert, sondern sie transponiert in eine andere Sprache.

Zu Beginn blättert Henry Fonda in einer Zeitung. Es interessieren ihn die Ergebnisse von der Pferderennbahn, er wird dahin zurückblättern. Aber wir sehen auch eine Anzeige für Autos von Ford, eine Anzeige für eine Lebensversicherung. Glücksspiele: Pferderennen, Versicherung. Dieser Mann will das Glück (das Auto, das er sich nicht leisten kann) und wird vom statistischen Zufall (der Lebensversicherung) verraten. Eine vielfache Blindheit: des Schicksals, der drei Frauen, die Hitchcock - misogyn wie noch stets - sich in einer Einstellung zusammenrotten lässt, als wären sie die Hexen in Macbeth. Er hat keinen Fehler gemacht, er ist nur der falsche Mann am falschen Ort zur falschen Zeit. Es gibt hier keinen Begriff von Schuld, es gilt nur: Die Unschuld wird dich nicht retten. Mit einem Schulterzucken macht sich das Schicksal daran, sein Leben zu ruinieren und nicht nur seines. Der Film dramatisiert mit der ganzen Kunst seiner fatalistischen Nüchternheit die Folgen eines unglücklichen Zufalls. Die Strafe ohne Tat trifft nicht nur den Unschuldigen, sondern härter noch seine Frau, die doppelt unschuldig ist.

"The Wrong Man" entzieht sich dem Werk Hitchocks, wie sich nur ein Film von Hitchcock diesem Werk entziehen kann. Noch und gerade der Verzicht auf Suspense ist eine souveräne, eine meisterliche Geste. Wir bekommen hier nichts zu sehen als Hitchocks finsteres Bild vom Leben des Menschen in der Welt. Es bleibt der blanke Blick der Frau, die aus dieser Welt gefallen ist. (Es gibt ein notdürftiges Happy-End. Eine Schrifttafel. Dürre Worte, denen kein Bild mehr korrespondiert.)

zur Jump Cut Startseite

Suchen
 
Google
Web Jump Cut