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Berlinale 2006

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Valeska Grisebach: Sehnsucht (D 2006)

Von Ekkehard Knörer

Ein Unfall ist geschehen, der Film beginnt. Ein Mann ist vor Ort und bringt mit den Händen des Experten eines der Opfer, das vor ihm liegt, auf die Wiese geschleudert, in stabile Seitenlage. Wir werden den Mann und seine Expertenhände im weiteren sehen, über den Unfall erfahren wir nur noch: Die Frau ist tot, der Mann wird vielleicht leben, vielleicht sterben, es war ein Selbstmordversuch.

Der Retter, Markus (Andreas Müller), ist bei der Freiwilligen Feuerwehr, er ist Schlosser. Er lebt in dem brandenburgischen 200-Einwohner-Dorf Zühlen, in dessen unmittelbarer Nähe der Unfall passierte. Markus hat eine Frau, Ella (Ilka Welz) und ein Kind. Er liebt seine Frau, ohne viele Worte zu machen. Er zweifelt, ob es sein Recht war, dem Mann der sterben wollte, das Leben womöglich zu retten. Sonst sehen wir ihm beim Schweigen zu und seinen Händen bei der Arbeit an Schlössern und Gittern.

Erst recht keine Worte hat er für das, was ihm widerfährt, aus heiterem Himmel. Mit den Kameraden macht er einen Ausflug zum alljährlichen Feuerwehrtreffen in einem anderen, größeren Ort. Sie feiern, sie trinken, wir sehen Markus versunken im Tanz zu Robbie Williams Musik. Robbie Williams singt: "I just wanna feel real love, Feel the home that I live in." Es folgt ein Schnitt, der harmlos aussieht, aber er ist kühn, sehr kühn, von der lauten Musik auf die Stille des Morgens. Aber Markus erwacht in einem fremden Bett, am Frühstückstisch sitzt eine fremde Frau. Mit ihr hat er die Nacht verbracht, beim Frühstück mit den Kameraden erfährt er ihren Namen: Rose (Anett Dornbusch).

Wer weiß, wie teuer die Filmrechte an bekannter Musik sind, ahnt, wie wichtig der Regisseurin Robbie Williams' Song gewesen sein muss. Eine andere Zeile: "Not sure I understand, This role I’ve been given." In der Tat: Markus versteht es nicht. Er liebt seine Frau, er liebt auch Rosa. Das ist die ganze Tragödie. So einfach ist das - und Grisebach inszeniert es, als das, was es ist: eine einfache, eine furchtbar einfache Tragödie.

Die Kamera ist ganz nah an den Gesichtern der Figuren. Alle wissen sie nicht, wie ihnen geschieht. Alle verstehen sie nicht, warum ihr Leben aus den Fugen gerät. Sie blicken sich an, als ließe sich im Gesicht des anderen etwas lesen. Und Ella ahnt, dass etwas nicht stimmt, bevor sie es überhaupt wissen kann. Ganz nebenbei, ganz beiläufig begrüßt sie ihn bei seiner Rückkehr mit dem scherzhaft gemeinten Satz: "Hallo, fremder Mann."

Dabei ist tatsächlich ein Fremder zurückgekehrt. Sie spürt es und sucht, fast verzweifelt, nach Worten für das Große, das sie fühlt: "Ich begehre dich so", sagt sie, "ich liebe dich". Was soll sie sagen? Es sind irgendwie nicht die richtigen Worte, aber andere Worte hat sie nicht. Sie handhabt sie wie etwas, das sie noch nie gebraucht hat.

Valeska Grisebach hat in "Sehnsucht" ausschließlich mit Laien gearbeitet. Was sie mit ihren Darstellerinnen und Darstellern erreicht, macht staunen. Sie spielen keine Rollen, sondern sie führen eine Aneignung vor: Aneignung der Geschichten, die nicht ihre sind, Aneignung von Gefühlen, die sie kennen, wenn auch vielleicht nicht genau so. Aneignung von Worten, die ihnen fremd sind, um die Grisebach sie kämpfen macht. Und obwohl, vielleicht auch: weil diese leichte Unschärfe bleibt, obwohl die Darsteller in den Rollen nie ganz aufgehen, obwohl sie immer wie ein wenig über sich selbst verwundert scheinen, stimmt jeder Ton.

Grisebach erzählt eine Tragödie mit Anspielungen auf "Romeo und Julia", auf dem Dorf. Dabei überhöht sie nicht, sondern reduziert. Sie legt im Innersten eines überzeugenden naturalistischen Äußeren eine Geschichte frei, die so konkret wie universal ist. Die als universale nur überzeugt, weil sie so unendlich konkret ist, bis zum Einsatz der Sprühsahne, bis zum wackligen Gesang im Dorfchor. Die Regie, der Schnitt, die Kamera zeugen von einem wunderbaren Rhythmusgefühl. Im rechten Moment gibt es den Trost fürs aufgewühlte Empfinden, Blicke hinaus, auf Natur, auf das Rauschen der Bäume.

Und wie jede ordentliche Tragödie hat der Film ein bezauberndes Satyrspiel als Epilog. Die Geschichte und ihr möglicher Ausgang werden spielerisch verhandelt, aus Kindermund kommentiert. Ein großartiger Einfall fürs Ende eines großartigen Films.

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