Comix Corner : Comics & Graphic Novels. Jason Lutes: Berlin (2001)
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Autor

Joann Sfar (*1971)

Jason Lutes - Selbstporträt
Zeichner Jason Lutes im Selbstporträt

Website

Ausführliche Informationen zu Jason Lutes bei seinem Verlag Drawn & Quarterly

Interview zu Berlin bei Sequentialtart

Wertung


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Jason Lutes: Berlin (2001)

Eine Kritik von Ekkehard Knörer

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Der Prolog beginnt mit einem wunderbaren Zoom-In: das erste Panel zeigt den fahrenden Zug aus einiger Distanz, im Hintergrund Umrisslinien von Bäumen, dazu die Rauchwolken, die über dem Zug liegen, aber keine Bewegunslinien, keine Geräusche. Im zweiten Panel, einem ersten Zoom, werden Schatten erkennbar, auch der Rauch ist nun durch Schatten in stärkeren Kontrast gesetzt. Vor allem aber gerät eine Tonspur ins Bild, wellenförmig legt sich das ch-ch-ch vor den das Panel füllenden Zug. Im dritten Panel sieht man den Zug noch einmal von außen, das ch-ch-ch dominiert das Bild, die Dynamik bleibt aber Abstraktion: zwischen den Bildern. Dann der Fokus auf eine Frau im Abteil (ein letzter Blick von außen), die Heldin des Romans, darauf folgt das Ausmessen des Abteils, eine Nahaufnahme der Frau, als Schatten in der Tür tritt dann der männliche Protagonist ins Geschehen.

Die Erzählform, die Jason Lutes für seine Geschichte gewählt und für den Comic wenn nicht erfunden, so doch zur Perfektion entwickelt hat, ist die des historischen Romans. In kunstvollem Realismus verbindet er Aufmerksamkeit fürs Detail mit einem Zeitpanorama, das in einem geschickt gewählten Personal Verkörperung findet. Die vielleicht klarste rhetorische Figur für den Detailrealismus ist in Berlin die Ausschnittsvergrößerung, also etwa in Form des Zooms am Anfang, aber auch, als ein schlagendes Beispiel, die Darstellung des Schaufensters eines Schokoladiers, ein Schlaraffenland fürs Auge, in das dann noch programmatisch die Umrisse von drei Figuren hineinkopiert sind. Lutes' Realismus ist allerdings weder einer der Fülle noch der verschwenderischen Hingabe an die Einzelheit, sondern verbündet sich bei aller Genauigkeit, beinahe paradox, mit seinem klaren, sich oft in Richtung Abstraktion bewegenden Zeichenstil. Zwar werden die Figuren oft vor detailreichen Hintergründen gezeigt, selbst dann aber wirken sie durch die scharfen ligne-claire-Umrisse nicht selten wie ausgestanzt. Für die Close-Ups verzichtet Lutes häufig auf jeglichen Hintergrund, stellt Köpfe oder - in weiterer abstrakter Zerlegung - Beine und Hände (als Geste und als pars pro toto für Handlung) vor eine weiße, manchmal auch schwarze Fläche. In der Halbdistanz verlieren seine Figuren dagegen in der Regel jede Konkretion, werden auf die reine Andeutung ihrer Umrisse reduziert. Es gibt keine Grauabstufungen, mit Schraffuren geht Lutes sparsam um, ebenso mit Bewegungslinien (die fahrenden Straßenbahnen haben eher kuriose kleine Kringelschwänzchen, ein seiner Unverhältnismäßigkeit wegen deutlicher Hinweis auf die Abstraktionsabsicht).

Die Narration nutzt die Mittel des Erzählens der frühen, gemäßigten Moderne, bleibt aber dezidiert konventioneller als etwa Döblins Berlin Alexanderplatz, der zum Vergleich einlädt, da er im historischen und thematischen Umfeld von Berlin liegt: kein explizites Spiel mit Konventionen, nur gelegentliche souverände Schlenker, die aber, als optische Figuren, eher filmisch anmuten, wie die Überleitung von einem Handlungsstrang zum nächsten durch die Verfolgung eines durch ein Fenster geworfenen Stücks Papier. Die Erzählung ist im Prinzip linear, nicht selten aber unterbrochen durch historische Rückblenden, etwa auf das Jahr 1918 (die Handlungszeit des ersten Bandes von Berlin sind die Jahre 1928/29), verbunden wird Privates mit Politischem - der größte Schwachpunkt des Comics liegt im mitunter etwas Ungelenken dieser Verbindung. Gelegentlich erscheinen die Figuren als bloße Träger einer historischen Tendenz, als Verkünder von Thesen ohne narrative Substanz. Für die Hauptpersonen freilich gilt das nicht, sie werden oft gleich doppelt charakterisiert: in inneren Monologen wird das abgebildete Geschehen kommentiert, in wechselnden Perspektiven, konzentriert aber auf die Protagonisten Marthe Müller und Kurt Severing. Gelegentlich pickt Lutes freilich auch Figuren heraus, die für die Erzählung, soweit man das nach dem ersten Band beurteilen kann, überhaupt keine Rolle spielen, etwa den Verkehrspolizisten in der Ampel am Potsdamer Platz, dessen Knöpfedrücken mit einem inneren Monolog zu seinem Mittagessen überblendet wird.

Lutes nimmt die unterschiedlichsten Milieu in exemplarischen Figuren und Konstellationen in den Blick. Die Hauptdarsteller sind dabei stets fiktiv, dadurch dass Kurt Severing Autor der Weltbühne ist, gerät aber zwanglos auch Prominenz ins Bild, Carl von Ossietzky natürlich und in einer kurzen Begegnung Joachim Ringelnatz. Marthe wiederum wird als Schülerin von Otto Dix (der in einem meisterhaften Panel, das die Einzelurteile - Shit! Shit! Shit! - simultan fasst, die Werke seiner Schüler in Bausch und Bogen verwirft) zentral im Umfeld künstlerischer Avantgarde platziert, in dem nicht nur über Kunsttheorie diskutiert wird, sondern mit der diegetischen Erwähnung von Franz Masereels oft als europäischer Comic-Vorläufer gehandeltem Stundenbuch die Basis für die Reflexion des eigenen Mediums geschaffen - trotz des vorherrschenden ligne-clair-Charakters von Lutes' Zeichenstil gibt es in Berlin immer wieder einen Zug ins Masereel-Holzschnitthafte, insbesondere in manchen als Totalen oder Halbtotalen angelegten Zeichnungen. Das alles hat im ersten Band teilweise noch expositorischen Charakter, in der sich abzeichnenden Gewichtung von Haupt- und Nebengeschichten, in der Verknüpfung der einzelnen Handlungsfäden zeigt sich aber bereits jetzt die erzählerische Meisterschaft von Jason Lutes. Unangestrengt wechselt er von privaten Szenen zu politischen Demonstrationen, von subjektiver zu objektiver Darstellung, das Spektrum reicht von inneren Monologen und Träumen zur Bebilderung historischer Ereignisse. Bevor in Heft 8, dessen Handlung amTag der blutigen Unruhen des 1. Mai 1929 spielt, eine der Protagonistinnen stirbt, werden am Ende von Heft 7 die einzelnen Figuren noch einmal zusammengeführt, in sechs gleich großen Einzelpanels, die sie jeweils im Schlaf zeigen (vielleicht auch eine Hommage an den Beginn von Neil Gaimans Sandman). Die Ungeheuer, um deren Geburt es in Berlin geht - der Comic beschränkt sich sehr bewusst auf die Jahre 1928-1932 -, erwachen, die nächsten Bände, so ist zu vermuten, werden sie auf ihrem Weg zur Herrschaft über die Stadt der Steine (so der Untertitel von Berlin) begleiten.

Comix Corner:  Jason Lutes: Berlin (2001)

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