Der Prolog beginnt mit einem wunderbaren Zoom-In:
das erste Panel zeigt den fahrenden Zug aus einiger Distanz, im Hintergrund
Umrisslinien von Bäumen, dazu die Rauchwolken, die über dem Zug
liegen, aber keine Bewegunslinien, keine Geräusche. Im zweiten Panel,
einem ersten Zoom, werden Schatten erkennbar, auch der Rauch ist nun durch
Schatten in stärkeren Kontrast gesetzt. Vor allem aber gerät eine
Tonspur ins Bild, wellenförmig legt sich das ch-ch-ch vor den das Panel
füllenden Zug. Im dritten Panel sieht man den Zug noch einmal von
außen, das ch-ch-ch dominiert das Bild, die Dynamik bleibt aber
Abstraktion: zwischen den Bildern. Dann der Fokus auf eine Frau im Abteil
(ein letzter Blick von außen), die Heldin des Romans, darauf folgt
das Ausmessen des Abteils, eine Nahaufnahme der Frau, als Schatten in der
Tür tritt dann der männliche Protagonist ins Geschehen.
Die Erzählform, die Jason Lutes für seine Geschichte
gewählt und für den Comic wenn nicht erfunden, so doch zur Perfektion
entwickelt hat, ist die des historischen Romans. In kunstvollem Realismus
verbindet er Aufmerksamkeit fürs Detail mit einem Zeitpanorama, das
in einem geschickt gewählten Personal Verkörperung findet. Die
vielleicht klarste rhetorische Figur für den Detailrealismus ist in
Berlin die Ausschnittsvergrößerung, also etwa in Form des Zooms
am Anfang, aber auch, als ein schlagendes Beispiel, die Darstellung des
Schaufensters eines Schokoladiers, ein Schlaraffenland fürs Auge, in
das dann noch programmatisch die Umrisse von drei Figuren hineinkopiert sind.
Lutes' Realismus ist allerdings weder einer der Fülle noch der
verschwenderischen Hingabe an die Einzelheit, sondern verbündet sich
bei aller Genauigkeit, beinahe paradox, mit seinem klaren, sich oft in Richtung
Abstraktion bewegenden Zeichenstil. Zwar werden die Figuren oft vor detailreichen
Hintergründen gezeigt, selbst dann aber wirken sie durch die scharfen
ligne-claire-Umrisse nicht selten wie ausgestanzt. Für die Close-Ups
verzichtet Lutes häufig auf jeglichen Hintergrund, stellt Köpfe
oder - in weiterer abstrakter Zerlegung - Beine und Hände (als Geste
und als pars pro toto für Handlung) vor eine weiße, manchmal auch
schwarze Fläche. In der Halbdistanz verlieren seine Figuren dagegen
in der Regel jede Konkretion, werden auf die reine Andeutung ihrer Umrisse
reduziert. Es gibt keine Grauabstufungen, mit Schraffuren geht Lutes sparsam
um, ebenso mit Bewegungslinien (die fahrenden Straßenbahnen haben eher
kuriose kleine Kringelschwänzchen, ein seiner
Unverhältnismäßigkeit wegen deutlicher Hinweis auf die
Abstraktionsabsicht).
Die Narration nutzt die Mittel des Erzählens der frühen,
gemäßigten Moderne, bleibt aber dezidiert konventioneller als
etwa Döblins Berlin Alexanderplatz, der zum Vergleich einlädt,
da er im historischen und thematischen Umfeld von Berlin liegt: kein explizites
Spiel mit Konventionen, nur gelegentliche souverände Schlenker, die
aber, als optische Figuren, eher filmisch anmuten, wie die Überleitung
von einem Handlungsstrang zum nächsten durch die Verfolgung eines durch
ein Fenster geworfenen Stücks Papier. Die Erzählung ist im Prinzip
linear, nicht selten aber unterbrochen durch historische Rückblenden,
etwa auf das Jahr 1918 (die Handlungszeit des ersten Bandes von Berlin sind
die Jahre 1928/29), verbunden wird Privates mit Politischem - der
größte Schwachpunkt des Comics liegt im mitunter etwas Ungelenken
dieser Verbindung. Gelegentlich erscheinen die Figuren als bloße
Träger einer historischen Tendenz, als Verkünder von Thesen ohne
narrative Substanz. Für die Hauptpersonen freilich gilt das nicht, sie
werden oft gleich doppelt charakterisiert: in inneren Monologen wird das
abgebildete Geschehen kommentiert, in wechselnden Perspektiven, konzentriert
aber auf die Protagonisten Marthe Müller und Kurt Severing. Gelegentlich
pickt Lutes freilich auch Figuren heraus, die für die Erzählung,
soweit man das nach dem ersten Band beurteilen kann, überhaupt keine
Rolle spielen, etwa den Verkehrspolizisten in der Ampel am Potsdamer Platz,
dessen Knöpfedrücken mit einem inneren Monolog zu seinem Mittagessen
überblendet wird.
Lutes nimmt die unterschiedlichsten Milieu in exemplarischen Figuren
und Konstellationen in den Blick. Die Hauptdarsteller sind dabei stets fiktiv,
dadurch dass Kurt Severing Autor der Weltbühne ist, gerät aber
zwanglos auch Prominenz ins Bild, Carl von Ossietzky natürlich und in
einer kurzen Begegnung Joachim Ringelnatz. Marthe wiederum wird als
Schülerin von Otto Dix (der in einem meisterhaften Panel, das die
Einzelurteile - Shit! Shit! Shit! - simultan fasst, die Werke seiner
Schüler in Bausch und Bogen verwirft) zentral im Umfeld künstlerischer
Avantgarde platziert, in dem nicht nur über Kunsttheorie diskutiert
wird, sondern mit der diegetischen Erwähnung von Franz Masereels oft
als europäischer Comic-Vorläufer gehandeltem Stundenbuch die Basis
für die Reflexion des eigenen Mediums geschaffen - trotz des vorherrschenden
ligne-clair-Charakters von Lutes' Zeichenstil gibt es in Berlin immer wieder
einen Zug ins Masereel-Holzschnitthafte, insbesondere in manchen als Totalen
oder Halbtotalen angelegten Zeichnungen. Das alles hat im ersten Band teilweise
noch expositorischen Charakter, in der sich abzeichnenden Gewichtung von
Haupt- und Nebengeschichten, in der Verknüpfung der einzelnen
Handlungsfäden zeigt sich aber bereits jetzt die erzählerische
Meisterschaft von Jason Lutes. Unangestrengt wechselt er von privaten Szenen
zu politischen Demonstrationen, von subjektiver zu objektiver Darstellung,
das Spektrum reicht von inneren Monologen und Träumen zur Bebilderung
historischer Ereignisse. Bevor in Heft 8, dessen Handlung amTag der blutigen
Unruhen des 1. Mai 1929 spielt, eine der Protagonistinnen stirbt, werden
am Ende von Heft 7 die einzelnen Figuren noch einmal zusammengeführt,
in sechs gleich großen Einzelpanels, die sie jeweils im Schlaf zeigen
(vielleicht auch eine Hommage an den Beginn von Neil Gaimans Sandman). Die
Ungeheuer, um deren Geburt es in Berlin geht - der Comic beschränkt
sich sehr bewusst auf die Jahre 1928-1932 -, erwachen, die nächsten
Bände, so ist zu vermuten, werden sie auf ihrem Weg zur Herrschaft
über die Stadt der Steine (so der Untertitel von Berlin)
begleiten. |