Gelebter Feind. Anthropologie in den Filmen von John Woo

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Gelebter Feind

Anthropologie in den Filmen von John Woo
Essay von Jean Moritz Müller

 

I think I learn more in a movie or in a story
when I see what a person does wrong and what
happens to them because of that.
Antagonists are more interesting.

Martin Scorsese

Antagonisten im modernen Actionfilm handeln selbstreferentiell. In einem Akt negativer Transzendenz, dem permanenten Streben nach der Zerstörung ihres Gegenübers, erfahren sie Identität. Der Feind ist hierbei die komplementäre Projektion derjenigen Eigenschaften, die sie für ihre eigene Rollenidentität verdrängen. Im reziproken Moment antagonistischen Handelns liegt somit gleichwohl die symbiotische Dimension desselben begründet.

Die finale Geste Al Pacinos in Heat (Michael Mann, 1995), der seinem sterbenden Kontrahenten Robert De Niro die Hand reicht, mag vordergründig theatralisch wirken, doch sie ist wahr als Ausdruck einer Anthropologie, die Selbstfindung als dialektischen Prozess begreift, der über eine bipolare Exposition (den offensichtlichen Gegensatz zweier einander hassender Männer mit genau abgegrenzter Rollenidentität) auf den Austausch und damit die Identifikation mit dem Feind hinausläuft. Sie ist die Voraussetzung für ein Finale, aus dem nur derjenige hervorgeht, der der bisherigen (auf Hass gegründeten) Identität entsagt. (De Niro stirbt, weil er nicht ruhen kann, ehe er sich an einem ehemaligen Mitglied seiner Gang gerächt hat und so Pacinos Weg doch noch einmal kreuzt.)

Damit weicht die anfangs zuweilen stereotype Charakterzeichnung einer differenzierten Anthropologie, die einen oberflächlichen Manichäismus verwirft, um den Protagonisten als ambivalente Person darzustellen, die sich in ihrem Gegenüber bisweilen sogar wiederfindet. Der zentrale Dialog zwischen Killer Jeff (Chow Yun-Fat) und Officer Lee (Danny Lee) in The Killer (Woo, 1989) lässt beide erkennen, wie brüchig die Identitäten sind, die im gegebenen sozialen Kontext ihr Verhältnis zueinander bestimmten und wie wechselseitige Sympathie den Antagonismus aufhebt:

Lee: „Eigentlich bist du gar kein echter Killer.“
Jeff: „Eigentlich bist du gar kein richtiger Cop.“

(Die im Angesicht des sozialen Determinismus irreale Freundschaft spiegelt sich letztlich wider in der ironischen Namensgebung: Beide verzichten darauf den echten Namen des anderen zu kennen und taufen sich liebevoll Mickey Mouse (Jeff) und Dumbo (Lee).)

In The Killer führt die wechselseitige Identifikation zur Akzeptanz des eigenen authentischen Selbst und macht das finale Duell obsolet. Gemeinsam treten beide nun ein letztes Mal gegen die Triaden respektive Jeffs Vergangenheit an.

Die wechselseitige Affinität zweier Protagonisten in gegensätzlichen Rollen bestimmt Woos anthropologisches Leitmotiv und ist in den Brüdern Kit (Leslie Cheung) und Ho (Ti Lung) in A Better Tomorrow (1986) zum erstenmal angelegt. In The Killer verzichtet Woo auf einen konsequenten Antagonismus, wie er ihn später mit Face/Off (1997) aufgreift, um die o.g. Konzeption als filmische Metapher und damit Postulat des Hollywood Bloodshed zu visualisieren. Es ist Woos kategorischer Imperativ in einem Hollywood-Actionkino, das die ästhetischen und anthropologischen Kategorien in zunehmendem Maße dem Kriterium der reinen Anschauung unterordnet, um den Ansprüchen einer „MTVid(i)otischen“1 Generation gerecht zu werden.

In Face/Off gibt es keinen verbalen Austausch, keine dialogische Identifikation mit dem Feind; vielmehr ist der gesamte Film als Allegorie derselben zu verstehen.  Die Beweggründe für den Gesichtertausch von Cop Archer (Travolta) und Terrorist Troy (Cage) sind sekundär, doch mit ihm tauschen die Kontrahenten auch ihre psychosoziale Umgebung. Im Körper des Feindes (dt. Titel) transzendiert den Körper als materielles Substrat und entwirft eine komplexe Somatologie, denn er erweitert die physische bzw. physiologische Ebene des Begriffs „Körper“ um eine metaphysische, das Spiel mit der Identität. Der Shoot-out in der Villa von Troys rechter Hand in der Mitte des Films kulminiert im Spiegel-Duell der beiden Gegner mit verkehrter Identität.

Troys Aufforderung „Jeder knallt den anderen ab!“ führt dazu, dass sich beide - durch eine zweiseitigen Spiegel voneinander getrennt - einander gegenübertreten, um im gespiegelten Ebenbild dem Feind - die Waffe auf sein Gegenüber gerichtet - zu begegnen. Diese Koinzidenz von Feind- und Selbstbild visualisiert erschreckend direkt das Resultat der notwendigen Identifikation mit dem Feind und verweist auf John Woos ambivalentes Menschenbild.

Wenngleich Regisseure wie Antoine Fuqua (The Replacement Killers, 1997) oder James Foley (The Corruptor, 1999) Woos filmästhetisches Virtuosentum kongenial fortzusetzen suchen, indem sie die bekannten Attribute (both-fisted gun-blading, christliche Symbolik, direkte Konfrontation der sonnenbebrillten Gegner in schwarzer Kleidung, Speedboat-Verfolgungen) neu zusammensetzen oder in andere wirkungsästhetische Zusammenhänge stellen, kann es ihnen nicht gelingen die Gestalt des Heroic Bloodshed und den konventionellen Hollywood-Actioner zu integrieren ohne auf Woos anthropologisches Fundament zurückzugreifen. Ihre Filmsprache ist immer artifiziell, nie ideal.

Dass die ideologische Färbung eines Films mit religiösen Motiven notwendigerweise zu einem oberflächlichen Manichäismus führt, ist filmhistorisch nicht belegbar. Oft ist es mehr die ideologisch gefärbte „Lesart“, die einen solchen Eindruck entstehen lässt. Selbst die offensichtliche Inszenierung christlicher Riten, die genrespezifisch codiert für einen kurzen Moment die Bipolarität von Gut und Böse herstellen und den Protagonisten moralisch rehabilitieren oder diskreditieren, schließt eine grundsätzlich realistische Charakterzeichnung bzw. differenzierte Anthropologie nicht aus. Scorseses Beiträge zum modernen Gangsterfilm vereinen ein konsequent an den Milieugegebenheiten ausgerichtetes Menschenbild mit biblischen Allegorien, ohne moralisch zu simplifizieren. So ist die barbarische Hinrichtung eines Nicky Santoro (Joe Pesci in einer ähnlichen Rolle wie in GoodFellas) irgendwo in der Wüste vor dem Sündenabel Las Vegas in Casino (die Bilder der Stadt zu Beginn und die Sprengung der großen Casinos am Ende des Films werden leitmotivisch mit Bachs Matthäus-Passion verknüpft) keinesfalls alttestamentarische Kausalität im Sinne der Bestrafung eines mindestens ebenso barbarischen Sünders, sondern lässt den Unmenschen im Angesicht der Unmenschlichkeit, die er erfahren muss, in den Augen des Zuschauers menschliche Züge annehmen.

Fußnoten:

1 Mark Whitehead, Heroic Bloodshed, Pocket Essentials, Herts, 2001.

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