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Frederick Wiseman: Ballet (1995)

Kritik von Stephane Boeuf

 

Agnes De Mille, der Tänzerin im hohen Alter, fällt zur Frage, warum sie nicht aufhöre zu schaffen, zu choreographieren, nur ein einziges Wort ein: „Stubbornness“ – aus Sturheit. Und der Zuschauer, der einen Film von Frederick Wiseman sieht, denkt an die Sturheit, die dessen Kamera Film für Film durch die Institutionen des amerikanischen Lebens führt, und die ihn in dieser Etappe im American Ballet Theater vor den langen Weg stellt, den eine Bewegung machen muss von ihrem Ursprung, dem Entspringen aus einem alten unbeweglichen Körper, bis zu ihrer szenischen Perfektion.

Agnes De Mille, die im Rollstuhl sitzt und nur noch ihre Arme bewegen kann, erzählt ,wie die Bewegungen ihrer Choreographien sie befallen, wie sie aus ihrem Körper entspringen. In einer einzigen kurzen Einstellung glaubt man, bei diesem Schaffen von Bewegungen durch einen invaliden Körper zusehen zu dürfen: eine kurze Einstellung wie ein verbotener Blick hinter eine halb geschlossene Tür. Ein alter Mann erprobt flüchtig drei Tanzschritte vor einem Spiegel – ein fast grotesker Anblick. Mehr nicht, doch genug, um den Anfangspunkt zu zeichnen, auf dem der ganze Arbeitsprozess beruht, dem wir beiwohnen.

Von Proberaum zu Proberaum wird verfolgt, wie Menschen, die einmal Tänzer waren und es nicht mehr sind, denjenigen zuschauen, die es noch sind, oder es werden wollen, junge Körper in ihrer Blüte, und wie sie diese zu ihrer Verfügung stehende Körper modellieren. Die Bewegung in ihrer Perfektion ist das Ziel. Erfundene Bewegungen werden auf Körper übertragen, die sie zur ihrer Vollendung bringen werden.

Und um diese Übertragung zu vollbringen, muss der lange, schwierige, unmögliche und notwendige Umweg der Sprache gegangen werden. Wie sagt man eine Bewegung, wie sagt man die Kurve eines sich schwingenden Arms? Stottern, unbeendete Sätze, Stammeln… Und so erstaunlich es dem Außenstehenden auch erscheint, man versteht sich. Es wird korrigiert, adjustiert… Die Körper tanzen, wiederholen, suchen ihre Bewegungen – erst stumm, von kommentierenden Wörtern begleitet, später setzt die Musik ein.

Und irgendwann ist es soweit. Jetzt kann es zum zweiten Teil des Films kommen, zur Vorstellung. Frederick Wiseman führt uns nun nach Athen und Kopenhagen. Wir folgen den entspannten Körpern am Strand und im Tivoli Park. Wir folgen ihrer Konditionierung: beim Proben, beim Aufwärmen, beim Schminken und Bekleiden, bis sie für die Performance bereit sind. Dann geht der Vorhang auf, und die Gesten, die der schwache Körper eines alten Mannes in Manhattan geträumt hat, werden hier, auf dieser entfernten Bühne, zu den Leidenschaften eines Romeos und einer Julia.

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