Jump Cut Kritik

Startseite -  Inhaltsverzeichnis - Klassiker - Archiv - Links - Forum - Mail

 

Andrea und Antonia Frazzi: Certi Bambini (I 2005)

Kritik von Stefan Höltgen 

Es sind die Geschichten aus dem Leben mit all ihrer Tragik, ihren komischen Momenten und ihren authentischen Figuren, die den italiensichen Neorealismus der 1940er und 1950er Jahre ausgezeichnet haben. In bis heute eindringlichen Werken wie de Sicas „Ladri di Biciclette“ (1948) oder „Germania Anno Zero“ (1948) von Roberto Rossellini sind es vor allem immer wieder die Kinderschicksale, die die zeitgeschichtliche Wirklichkeit repräsentieren. Genau in dieser Tradition steht auch Andrea und Antonio Frazzis „Certi Bambini“. Mit auf der Straße gecasteten Laien-Kinderdarstellern.

Im Zentrum des Films steht ein Einzelschicksal: Rosario (Gianluca Di Gennaro) lebt zusammen mit seiner Grußmutter, die er pflegt, in einem Vorort Neapels. Der 11-jährige geht nicht zur Schule, trifft sich häufig mit seinen Freunden, begeht kleine Diebstähle, besucht Prostituierte, trinkt Alkohol. Als der Junge die 20-jährige Caterina (Miriam Candurro) kennen lernt, verliebt er sich auf der Stelle. Die junge Frau lebt in einem kirchlichen Wohnheim, ist von ihrem Freund schwanger und hadert mit ihrem Leben. Die abwechselnd zärtlichen und frechen Annäherungsversuche des kleinen Rosario nimmt sie gar nicht wahr. Doch der setzt alle Hebel in Bewegung, zuerst ihren Freund „aus dem Weg“ zu schaffen und sich bei Caterina beliebt zu machen. Als das Mädchen bei einer Fehlgeburt im Krankenhaus stirbt, schwört Rosario Rache und gerät vollends auf die schiefe Bahn.

„Certi Bambini“ zeichnet aus, dass er keinerlei moralische Stellung zu seinen Protagonisten einnimmt. Die Alltäglichkeit, mit der etwa Kinderprostitution, Mord und Missbrauch inszeniert wird, ist erscheckend, frappiert den Zuschauer jedoch nicht. Grund dafür ist, dass die Figuren des Films stets (realistisch) ambivalent bleiben. Zusätzliche Distanz gewinnt der Betrachter dadurch, dass die Brüder Frazzi ihre Geschichte in episodenhaften Rückblenden erzählen: Während Rosario mit der U-Bahn an den Ort seines (künftigen) Verbrechens fährt, kommen ihm all jene Erlebnisse ins Gedächtnis – angenehme wie erschütternde – die ihn dahin gebracht haben, wo er jetzt ist.

Die Wiederbelebung neorealistischer Erzählweisen ist hier nicht nur erfreulich, sondern auch zweckmäßig. Der Wechsel von Leichtigkeit und Dramatik steht ganz im Dienst der Charakterierung der Lebensumstände der Hauptfigur, die keine Perspektive hat, sich aber darüber aber auch nicht sorgt: „Er kann Verbrechen begehen oder gute Taten vollbringen; er kann Menschen töten oder ihnen helfen; er kann sich kriminell bereichern oder alles weggeben, was er besitzt – und alles mit demselben Desinteresse“, charakterisieren die Regisseure ihre Hauptfigur. Mit dieser Indifferenz Rosarios, die sich in der Darstellung der Stadt und ihrer Menschen verdoppelt, gelingt ihnen einer der hervorragendsten und ambitioniertesten Beiträge des italienischen Kinos dieser Tage.

zur Jump Cut Startseite

     

Suchen
 
Google
Web Jump Cut