Roger Michell: Spurwechsel (USA 2002)

.

Jump Cut Filmkritik
__________________
Magazin für Film & Kritik:
Rezensionen und News.

Impressum



.

Videos bei Amazon
Videos & DVDs bei Amazon

Roger Michell: Spurwechsel (USA 2002)

USA 2002

Regie: Roger Michell

Buch: Chap Taylor und Michael Tolkin

Tolkin ist der Autor des Drehbuchs zu Robert Altmans "The Player" und Regisseur eines der unterschätztesten Filme der 90er Jahre: "New Age".

 

Schwesterseiten

Auteur.de - Lexikon der Regisseure
Comix-Corner - die Comic-Website
Crime-Corner - die Krimi-Website
Literatur-Corner - die Seite für Literaturkritik
.

Archiv

Filmkritik
Filmbuchkritik
Filmklassiker
Alle alten Kritiken in der Übersicht
.

Interaktiv

Forum
Diskutieren Sie über Filme und/oder unsere Kritiken!

Mail
Was immer Ihnen an uns passt oder nicht passt.

.

Roger Michell: Spurwechsel (USA 2002)
Kritik von Ekkehard Knörer

 [Image]

Der Film führt zwei Menschen zusammen, sanft erst, in ineinander synkopierten Ton- und Bildspuren, sehr unsanft dann, narrativ, mit einem Crash auf dem Roosevelt Drive, der Ost-Umgehungsstraße in Manhattan, die keinen anderen Zweck hat als den Fluss der Fahrzeuge in Richtung von Bestimmungsorten, die anderswo liegen, in Gang zu halten. Im Zusammenprall aber bricht der Fluss, der, und das ist gewiss keine Überinterpretation, zugleich für die institutionell abgesicherten Selbstverständlichkeiten des Zusammen-, genauer Nebeneinanderherlebens in der modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft steht. Die Interaktion, die, in der alltäglichen Geschäftigkeit des Miteinanderauskommens, in den Bahnen routinisierter Skripte und eingespielter Rollenverständnisse abläuft, ohne dass der einzelne viel von sich und seiner Privatheit dazutun müsste oder sollte (oder darf), findet hier statt als Crash zweier Individuen, die, das ist ein gewaltiger Unterschied, nicht als Individuen im Hollywood-Sinne schlüssiger Charaktere vorgeführt werden, sondern als Modelle dessen, was Individuen als Störfaktoren, gerade als Überschuss über ihre Rollen sein können. Dieser Crash ist ein Moment der Entautomatisierung des Sozialen, nicht mit Notwendigkeit - es gibt, Versicherungskarte etc., auch für Unfälle Routinen -, aber doch in diesem Fall, in dem der Eigensinn des einen Beteiligten im Bund mit einem Zufall, der wiederum nicht aus Zufall der eines "falschen" Tauschs, also ein im allgemeinen Verstand ökonomischer ist, einen Riss schlägt in den nur scheinbar festen Boden der doppelten Kontingenz, auf dem sich Gesellschaft konstituiert, als wäre sie das Selbstverständlichste.

Dass sie das nicht ist, das zeigt "Spurwechsel". Und nichts anderes hat der Film vor als anschaulich zu machen, wohin die Verweigerung der Routine führen kann. Hier wird, mitten im Alltag, mitten im Zentrum der Zivilisation (Manhattan) der Mensch dem Menschen wieder zum Wolf. Nahe läge, gerade in Hollywood, die Reduktion des Konflikts auf das Psychologische. Auf raffinierte Weise aber unterlaufen das Drehbuch (an dem der immer große Michael Tolkin, als Ko-Autor genannt, gewiss beträchtlichen Anteil hat) und die Regie alle Psychologie, während sie ihren Anschein trügerisch bestehen lassen. Der Bedarf nach Motivierung des Verhaltens wird erfüllt, ja, übererfüllt: Doyle Gipson steht unter Druck, als Ex-Alkoholiker, als Kämpfer auf verlorenem Posten um das Sorgerecht seiner Kinder. Und Gavin Banek muss um den Preis einer erfolgreichen Zukunft als Anwalt die Akte, die ihm abhanden gekommen ist, wiedergewinnen. Die Übererfüllung aber ist zugleich Verselbständigung. Zum Schauplatz des doppelten Rachedramas, das der Film inszeniert zum einen - und Ausweitung des anderen Raumes, des anderen Sprechens, das der Film auf der Rückseite von plausibler Figurenentwicklung und Dramaturgie ohne alle Scham praktiziert. Nichts anderes nämlich ist "Spurwechsel" als eine durch und durch allegorische Versuchsanordnung, deren Künstlichkeit sich zum mindesten an der Verdichtung auf einen einzigen, an Ereignissen und Prüfungen reichen Tag markiert. Allegorie aber ist das Gegenteil von Psychologie: während diese zur Rundung der Geschichte durch Motivierung in sich selbst, und zwar durch Ausarbeitung von konventionellen Verhaltensplausibilitäten, führt, hat jene immer auch und vor allem anderes im Sinn als justament diese Figuren, als justament diesen Fall, als justament diesen Grund für jenes Verhalten. Allegorie ist eine Einstellung, der alles Konkrete zugleich Abstraktes ist, in der allgemeine Fragen am scheinbar Individuellen verhandelt werden können. Im Grunde ist das Hollywood mit seinem Anspruch auf globale Verständlichkeit wie auf Minderheitenrepräsentation gar nicht fremd: schon die Besetzungspolitik nach Schwarz und Weiß, die in den scheinbar politikvergessensten Blockbustern die Zusammensetzung von Rettungsmannschaften regiert, macht Sinn nur unter der allegorischen Prämisse, dass der Film mehr als diese eine gänzlich kontingente Geschichte ist. Jeder Hollywood-Film versteht sich zugleich als Mikrokosmos der amerikanischen Gesellschaft. Und camoufliert das durch jene Schein-Individualität und Schein-Konkretion, die über Psychologie wie von selbst sich einstellen.

Freilich wird schwarz-weiße Besetzungspolitik reguliert von den im Quantitativen sich erschöpfenden und deshalb regelmäßig zu kurz springenden Maßstäben der political correctness: Schwarze Helden in Hollywood sind in der Regel falsche, aber per Augenschein einleuchtende Antworten auf ein gesellschaftliches Problem, das mit dem Begriff rassischer Diskriminierung natürlich nach wie vor richtig beschrieben ist. Die schiere Tatsache der ganz allgemein allegorisch bleibenden Repräsentation verdeckt die Probleme, die sehr viel grundsätzlicherer Natur wenigstens so lange bleiben, wie sie als solche beharrlich ignoriert werden. "Spurwechsel" ist auch an genau dieser Stelle subversiv. Dass Doyle Gipson schwarz ist, ist alles, nur kein Zufall. Die Agression, die von ihm ausgeht, der Ausbruch des aufgestauten Hasses gegen den erfolgreichen, weißen Anwalt, verdankt sich der sehr genauen sozialen Situierung. Gipson lebt in Queens, er hat einen erbärmlichen McJob als Versicherungsvertreter am Telefon im Großraumbüro; der Konflikt, der zum Verlust von Frau und Kindern führt, wird zwar im Dialog (und dafür ist natürlich der weiße Kontrollengel und Gesellschaftswauwau William Hurt zuständig, selbst eine auf geradezu groteske Weise allegorische Figur) auf seine psychische Disposition geschoben ("du bist ein Chaos-, ein Katastrophensüchtiger") - zugleich aber deutlich genug als durch und durch sozial konditioniert beschrieben. Natürlich ist der Richter weiß, der ihn nicht wirklich zu Wort kommen lässt, der ihm die Tür des Rechts vor der Nase zuknallt (und nur weil er zum Recht unterwegs war, ist er überhaupt in Manhattan), - und natürlich ist die heruntergekommene Gegend in New York, in der er lebt, in der noch der Rest seiner Zunkunftsutopie (ein Haus für seine Söhne) seinen Ort hat, für den Antipoden Banek terra incognita. Gipson und Banek, die sich so gewaltsam begegnen, leben nicht in derselben Welt. Der eine hat alle Chancen, sein Glück zu machen, der andere hat keine. Der Kampf, den Gipson beginnt, ist nichts anderes als ein Kampf um Anerkennung, Reaktion auf die Kränkung, die sein Leben ist: der stinkreiche Weiße nimmt ihn nicht zur Kenntnis. Aus diesen Tatsachen macht der Film (fast bis zum dann doch ideologischen Schluss) keinen Hehl, ja, er expliziert sie noch einmal an der Konfrontation Gipsons mit zwei weißen Typen aus der Werbung, mit denen er (in Manhattan) in einer Kneipe, die für ihn wiederum terra incognita ist, konfrontiert wird. Die Kluft zwischen den Welten entlädt sich hier als ungeschützte Verachtung, zuletzt in schierer Gewalt. Es ist, als würde hier, wie zur Verdeutlichung, der große Konflikt im kleinen noch einmal durchgespielt.

Auf der anderen Seite steht Gavin Banek, im Grund eine Figur aus einem Grisham-Roman - die Besetzung der Position des Kanzleichefs und "Vaters" mit Sidney Pollack (vgl. "Die Firma") macht das hinreichend klar. Er macht auch, Anlass dazu wird ihm die Konfrontation mit Gipson, die Grisham-Erfahrung, dass die Welt des Rechts nicht heil ist. Grisham-Helden aber renken das Recht wieder ein, sie sind Heroen seiner abenteuerlichen und mordsgefährlichen Wiederherstellung. Banek freilich ist von Beginn an mitschuldig. Er will es, vielleicht, nicht wahrhaben, aber er weiß es. Die Akte, die er an den Schwarzen verloren hat, wird so zum McGuffin einer lupenreinen Purgatoriums-Geschichte, an deren Ende - soviel Optimismus muss sein - der Held geläutert ist und wenigstens punktuell die Gerechtigkeit zum Sieg gelangt. Der sozialen Ständeregel ganz gemäß werden an Banek (wenn auch in gleicher Weise allegorisch) andere Diskurse verhandelt als die psycho-sozial-politischen im anderen Fall, nämlich solche des Recht und der Moral. Wohin Banek auch tritt, stößt er auf ein neues moralisches Dilemma: die Frau, die er betrügt (Nebendilemma), verzeiht ihm unter der Voraussetzung, dass er die Durchstechereien seines Chefs, der ihr Vater ist, weiter deckt: in einer Lüge, die alle Beteiligten leben, lebt und lügt sich's eben ganz ungeniert privilegiert. Die Frau, mit der er seine Frau betrügt, wiederum vermittelt ihn an einen kleinen Vernichtungsteufel (das Gegenstück zu William Hurts Engel), der dem Rest von Gipsons Existenz mit einem einzigen Knopfdruck - Michell kristalliert diesen Moment hübsch heraus in einer separaten Einstellung des angehaltenen Atems - den Garaus macht. Das Recht und seine Wege sind, anschaulicher geht's nicht, suspendiert, die Bahn ist frei für den Atavismus der Rache.

Gipson ist nun zu allem, soll heißen: zum Mord, zur rücksichtslosen Vernichtung, des anderen bereit. An dieser Stelle, an der sich soziale Verachtung und Amoral (wenngleich mit schlechtem Gewissen) zur Verachtung der basalsten gegenseitigen Anerkennung knäueln, sind alle sozialen Sicherungssysteme endgültig außer Kraft. Es ist, andererseits, eine ironische Pointe (auf die einschlägige Ökonomien des Exzesses gerne hinweisen), dass der Moment des blinden, zu allem entschlossenen Hasses der einer intensiven Nähe der beiden, der Moment, ob man will oder nicht, ihrer tiefsten gegenseitigen Anerkennung ist. Die Produktion dieser irrationalen Konfrontationsenergie fiele jedoch - letzten Endes tödlich - aus der Ökonomie gesellschaftlicher Anerkennung heraus. Dem Film steht der Sinn dagegen nach Rücklenkung in die geordneten Bahnen. Die Energie dazu entsteht nicht aus diesem Exzess (das wäre denn doch zu viel des Vertrauens in die Kraft der rohen Gewalt), im Gegenteil: es ist die Ermattung, die die Gegner zu dem kommen lässt, was man kommunikative Vernunft nennen und für den Urgrund des sozialen Miteinanders halten möchte. Womit ich von Luhmann zu Habermas gelangt wäre, aber es ist die Bewegung des Films. Jedoch kann nicht übersehen werden: "Spurwechsel" beschäftigt sich mit den Grundlagen des Sozialen über den Moment ihrer totalen Krise. Das Ende mag ein nicht weniger frommer Wunsch sein als die Ethik, auf die Habermas' Theorie - vielleicht nicht verzweifelt genug - zuletzt zurückfällt. Darüber freilich, wie sich Ausnahmezustand und Normalität nicht allegorisch (bzw. ethisch), sondern empirisch zueinander verhalten, also danach, wieviel Ausnahmezustand immer schon in der Normalität steckt (Luhmanns Grundthese von der "doppelten Kontingenz" wäre ein leiser Wink in diese Richtung) machen ja weder Habermas noch dieser faszinierende Film eine Aussage. Der allegorische Titel gibt aber einen durchaus quietistischen Hinweis: alles bleibt so wie es ist, nämlich ordentlich und friedlich, wenn arm und reich und schwarz und weiß brav nebeneinander herleben, die Spur nicht wechseln und die Lage der Dinge akzeptieren, weil sie ist, wie sie ist.

zur Jump Cut Startseite

.

Suche


powered by crawl-it
.

Newsletter

Anmelden zum Jump Cut Newsletter mit wöchentlichen News und Updates

Powered by KBX7

.

Jump Cut Partner

DVDs & Videos
Suchbegriffe:



In Partnerschaft mit Amazon.de

.

Internet Movie Database


Filmtitel Person
Powered by www.IMDb.com