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Neil Marshall: The Descent (GB 2005)

Kritik von Stefan Höltgen 

Angst im Dunkeln

Nicht wissen, wo oben und unten ist, ob man sich tiefer in das Labyrinth hinein oder aus ihm heraus bewegt, das war der Sinn des in den 90er Jahren erschienen Computerspiels „Descent“. Mit einem Raumschiff flog man durch enge Gänge, war gezwungen, sich ständig um alle möglichen Achsen zu drehen, um voran zu kommen und nur ein hin und wieder auftauchender Schriftzug auf einer der Wände um einen herum, verriet dem Spieler, in welcher Position zur „Wirklichkeit“ er sich gerade befand. Dass es in Neil Marshals Film „The Descent“ um ein ganz ähnliches Thema geht, liegt angesichts der Titelbedeutung auf der Hand. Zusammen mit dem sechs Protagonistinnen, die ein unbekanntes Höhlensystem erforschen, verliert hier auch der Zuschauer mehr und mehr die Orientierung. Die dann auftauchenden „Crawler“, in den Tiefen der Höhle lebende, menschenartige Raubtiere, wären in diesem Sinne dann als ein höheres Level zu verstehen.

Dass die Frauen sich in der Höhle verirren und unter den extremen Umständen nach und nach immer agressiver gegeneinander werden, liegt in der Natur des Thriller-Genres. Die kannibalischen Lebewesen, die übrigens sehr an den „Gollum“ aus Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Adaption erinnern, sind jedoch neu und führen ein Element in den Film ein, das den Verirrungsplot und mit ihm seine Protagonistinnen voran treibt. So kommt zum Horror, in den engen Gangsystemen stecken zu bleiben, noch der Thrill, diesen Wesen entkommen zu müssen, die zwar blind sind, sich aber über ihren Gehörsinn bestens orientieren können und die auch kopfüber über die Wände und Decken huschen. Nach und nach werden die Amateur-Höhlenforscherinnen zum Fraß der Monster, die oft wie aus dem Nichts auftauchen und wieder in der Dunkelheit verschwinden.

„The Descent“ ist ein extrem affektreicher Film. Auf die unangenehmsten Weise schafft er es, die Platznot der Situation auf den Zuschauerkörper zu übertragen, indem er die Körper in extremen Nahaufnahmen und die Gesichter in heller Panik vor Augen führt. Hinzu kommt der recht hohe Blutanteil, der die Zusammentreffen der beiden Spezies bestimmt. Unwohlsein im Zuschauerraum stelllt sich also auf jeden Fall auf die eine oder andere Weise ein. Leider, aber das ist nur ein minimaler Kritikpunkt, leider fehlt es bei all dem Spannungsreichtum, dem Horror und der Affektproduktion an einer ordentlichen Motivation, die vor allem zu den erzählerischen Wendepunkten hinführen könnte. So wird zwar zu Beginn des Films irgendwie angedeutet, dass der Autounfall, bei dem eine der Frauen ihre gesamte Familie verliert, für das Folgende Bedeutung bekommen wird; wie sich diese Bedeutung dann allerdings auf das Verhalten in der Gruppe auwirkt, ist nur unzureichend geklärt. Das wäre zu vernachlässigen, wenn eben diese Frau nicht eine besondere Rolle für das Ende des Films bekommen hätte.

Als Unterhaltungsprodukt ist „The Descent“ ist ein überaus dichter und gelungener Film, der zu Beginn exzellent, im weiteren Verlauf aber nur noch „gut“ ist, weil er sich dann ausschließlich auf den Horror der Situation und den Reiz des Settings verlässt. Neben der Handlung selbst (sechs Frauen steigen in ein Loch und werden dort von wilden Männern gefressen) lädt vor allem der Schluss zur Interpretation und Diskussion ein. So kann man über die monierten Schwächen der Erzählung hinwegsehen, wenn man den Film als Metapher für individual-psychische oder Gruppen-Prozesse liest. Das verleiht dem Film neben seinen Schock- und Horrorsezenen, die bei einer zweiten Sichtung nicht mehr wirken, einen besonderen Reiz.

The Descent
(GB 2005)
Regie: Neil Marshall
Länge: 99 Minuten
Verlieh: Lions Gate

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