Sunday, October 16, 2005

Arthur Schnitzler: Fräulein Else

Reizvoll, "Fräulein Else" als Gegenstück zur "Marquise von O." zu lesen – als das Geschwätz, das längst an die Stelle eines Gedankenstrichs getreten ist. In einer seltsamen Ökonomie der Wichtigkeiten passt es dann auch, dass das endlose Gerede als dem Fräulein ins Hirn gelegtes einem weit weniger gravierenden Vorfall entspringt: als vorgestelltem, als verschoben sich ereignendem, einer Blöße, die mit einem Redeschwall bemäntelt und zugedeckt wird, der vor allem eines deutlich macht: Fräulein Else ist ein Durchlauf- eher als ein Knotenpunkt für das Geschwätz und die Diskurse ihrer Zeit, eine Offenlegung der Denkbarkeiten einer Gegenwart, die längst mit großer Lust die Grenzen dessen, was sie als sagbar behauptet, kreuzt – um doch aus diesem Kreuzen, als der virtuellen Aufrechterhaltung der Grenzen, die höchste Lust zu ziehen, jene, die ein junges Mädchen in eine katatonische Ohnmacht fallen lässt, die keine ist. Der Zustand, in den Else gerät, wach und sprachlos, von Gedanken gejagt, die sie nicht mehr aussprechen kann, ist der Zustand einer Kultur. Vor ihren Augen wird sich längst schamlos geküsst. Nur die schöne Leiche, auf die es hinausläuft, ist dann ein – gewiss wahrer - Anachronismus. Die Wahrheit über die Equilibristik eines vom Bürgertum nicht durchschauten, aber virtuos gehandhabten Bewusstseinszustands der verbotenen Erlaubtheiten und der erlaubten Verbotenheiten, also des längst eingeübten Denkens des Undenkbaren, wäre wohl eher die: dass es dann halt weitergeht mit dem Weitergerede. Fräulein Else ist ein letztes Opfer, weil sie an das, was sie längst hinter sich hat, zu sehr dann doch noch glaubt.

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