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ALLE WERDEN STEFAN RAAB

Ein Vorschlag, es in den Diskussionen um "Big Brother" doch mal mit ein paar
gesellschaftstheoretischen Thesen zu probieren


Der Raab der Woche

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von Carsten Zorn

"Wir fragen nicht nach dem Wesen oder der Unterhaltsamkeit der Unterhaltung, nicht nach ihrer Qualität und auch nicht nach Unterschieden im Anspruchsniveau oder nach den Eigenarten derer, die einer Unterhaltung bedürfen oder sich einfach gerne unterhalten lassen und etwas vermissen würden, wenn dies entfiele."

Niklas Luhmann

Jedenfalls zunächst nicht. Fraglos gehört "Big Brother" (im folgenden BB) zwar dem Unterhaltungssegment der Massenmedien an. Und ebenso fraglos ließe sich über den Unterhaltungswert von BB, über dessen Gründe wie sicher auch darüber lustig streiten, was mit Leuten los ist, die so etwas unterhaltsam finden - mit dem Autor dieses Textes jedoch vielleicht auch wieder gar nicht gar so lustig. Zumindest stünde meine Position von Anfang an fest: Ich finde BB (oder fand es doch wenigstens für lange Zeit) ausgesprochen unterhaltsam.

Glücklicherweise ist es aber gesellschaftstheoretisch sowieso um vieles interessanter, sich zunächst einmal genauer anzusehen, welche Funktion Unterhaltung in den Massenmedien neben der (im engeren Sinne) Unterhaltung des Publikums noch erfüllt. Daß - und in welcher Weise - nämlich auch die Unterhaltung an der Erfüllung der "eigentlichen" Funktion von Massenmedien mitwirkt. Wie also, genauer, und in unserem Fall: auch/sogar/gerade (?) "Big Brother" mitwirkt, in den Begriffen Niklas Luhmanns, am "Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems"; an der "Dauertätigkeit des Erzeugens und Interpretierens von Irritation", aus der "die Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen entstehen, an denen sich die moderne Gesellschaft innerhalb und außerhalb des Systems der Massenmedien orientiert". An der Herstellung also einer "gesellschaftsweit akzeptierten und auch den Individuen bekannten Gegenwart, von der sie ausgehen können, wenn es um die Festlegung von für das System wichtigen Zukunftserwartungen geht". Wie BB also an jener "Steigerung" und "Normalisierung einer darauf spezialisierten Kommunikationsweise" teilhat, der die "Ausdifferenzierung eines darauf spezialisierten Funktionssystems dient", eben die des Funktionssystems der Massenmedien.

Oder, wie es bei Luhmann in der eingangs zitierten Passage weiter heißt: "Sicherlich ist Unterhaltung auch eine Komponente der modernen Freizeitkultur, die mit der Funktion betraut ist, überflüssige Zeit zu vernichten. Im Kontext einer Theorie der Massenmedien bleiben wir aber bei der Frage, wie in diesem Fall die Codierung Information/Nichtinformation sich auswirkt." Jedenfalls zunächst einmal - wie gesagt.

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Selbststilisierung, sicher - bloß: Stilisierung welchen Teils des modernen Selbst genau?

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Sehr bald, nachdem BB angelaufen war, war wohl klar: "Das Fernsehpublikum, das entgegen den ersten Prognosen seit einigen Wochern stetig zunimmt, ist zum Beobachter und Richter (!) eines Wettbewerbs (!) der Selbststilisierung geworden. Proportional zum wachsenden Erfolg wurde auch die Kulturkritik leiser, die zu Beginn noch die schwersten, sonst längst verloren geglaubten Geschütze gegen die Sendung auffuhr. Sie musste erkennen, dass die ausgewählten Bewohner nicht bloß ohnmächtige Opfer einer maßlos gewordenen Medienindustrie sind, sondern durchaus selbstbewusste, raffinierte Taktiker der Kunst, sich selbst zu verkaufen." Spätestens seit Mark Siemons (in der FAZ v. 11.4.00) in dieser Weise, und stellvertretend für alle BB-Liebhaber formulierte, was sie - aller Kulturkritik einerseits wie der Eigenwerbung von RTL II ("Back to Basics") andererseits zum Trotz - an BB interessierte. Mittlerweile jedoch kann man es noch etwas genauer fassen - bei der Stilisierung, welchen Teils ihrer "Selbsts" nämlich man da einigen Menschen zuschauen konnte und kann.

Urlaub im Container

"Ich wäre ganz klar bereit für eine Beziehung, aber wir sehen das locker. Es ist, als hätte man sich im Urlaub getroffen: Das echte Kennenlernen geschieht zu Hause." Soweit Kerstin über ihre Container-Beziehung zu Alex - nachdem beide sich >draußen< wiedergesehen hatten (gegenüber dem FOCUS 20/2000). Auch Verona Feldbusch kam ihr Besuch bei den BB-Hausbewohnern, im nachhinein, als sie also wieder draußen war (>drinnen< gilt sowieso, wenigstens seit Jürgen und Sabrina ihr Spaßregime unangefochten ausüben können: "Man kommt keine Sekunde zum Nachdenken", Verena, im "Tagesstatement", ausgestrahlt am 1.5.00) - auch Verona Feldbusch kam es jedenfalls vor wie ein Kurzbesuch bei Leuten, die irgendwo ein paar Wochen Urlaub machen.

Urlaub im Container

Damit könnte auch die Sympathie-Verteilung beim Publikum klarer werden. Nicht wenige Zuschauer beobachten und beurteilen die Bewohner wohl unter dem Gesichtspunkt: Mit wem hätte ich Lust, einen lustigen Campingurlaub zu verbringen? Mit Baden, Grillen, Faulenzen, Quatschen, langem Zusammensitzen am Feuer, was auch immer. Ohne eines allerdings wohl ganz sicher: groß Nachdenken zu müssen. Und die nicht gerade große Popularität von Alex und Kerstin schließlich erklärte sich demnach einfach daraus - daß sie zuviel nachdächten?, vielleicht auch - vor allem aber schon daraus: daß Pärchen bei solchen Urlauben leicht nerven können. Zumindest, wenn die Gruppe nicht gleich ausschließlich aus Paaren besteht.

Sämtliche Bewohner stellten demnach dann jedenfalls im BB-Container von ihrem Selbst offenbar (überwiegend oder ausschließlich) nur jenen Teil aus, den man vielleicht als ihr Urlaubs- oder Freizeit-Ich bezeichnen könnte - und stilisieren diesen dabei vielleicht sogar nicht einmal viel mehr als wohl auch jeder andere sich selbst im Urlaub (unter lauter Unbekannten, entfernt von Freunden, Beruf und Alltag) oder in seiner Freizeit stilisieren würde; bei Gruppenfahrten, beim Zelten am Meer, beim Cluburlaub, wenn man "ausgeht"...

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Fernsehunterhaltung und der Freizeit-Profi

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Noch einmal (nein, an erster Stelle) erhellt aber natürlich das Schicksal Zlatkos, was bei Big-Brother gefragt und ausgestellt wird - um dann das Publikum darüber abstimmen zu lassen, wer bzw. welches Freizeit-Ich sich bei ihm auch noch weiter vermarkten läßt. "Zlatkos Welt" zeigt ja genau (und nichts als) dies: Wie Zlatko einen verlängerten Urlaub (auf Kosten der Unterhaltungsindustrie) verbringt - und wie man weiterhin versucht, ihm Gelegenheiten zu verschaffen, sein Freizeit-Ich ausagieren und ausstellen zu können (beim Friseur, beim Kegeln, beim Cart-Fahren...).Vor allem wird am Schicksal Zlatkos aber noch ein weiterer Aspekt dieser (der neuesten?) Art von Fernsehunterhaltung (von Fernsehunterhaltung überhaupt?) überdeutlich: Manch Glücklichem (?) verschafft sie die Gelegenheit, in der vormals vielleicht noch ungezielten Pflege seines Freizeit-Ichs seine wahre Berufung zu finden - zumindest jedoch: aus dem Ausstellen des Resultats (wenigstens vorläufig) einen Beruf zu machen.

Zlatkos Welt

Um sich (zunächst einmal) vor Augen zu führen, daß bereits die Existenz des Fernsehens "an sich" dies befördert, dies also auch "an sich" eigentlich nichts Neues darstellt, braucht man nur daran zu denken, wie viele Menschen, und seit wie Langem schon, von der professionellen Ausübung irgendeiner Sportart (und nicht gerade schlecht) leben können. (Und daß dies ohne Fernsehen offensichtlich undenkbar wäre.) Aber auch von vielen anderen Beschäftigungen, die in der Gesellschaft, ansonsten, dem reinen Zeitvertreib dienen. Wie Kreuzworträtsellösen oder "Trivial-Pursuit"-Spielen etwa. Jedenfalls vermögen ja auch Quizsendungen bei manchem massive Hoffnungen darauf zu wecken, als "Rateprofi" sein Auskommen finden zu können - wie gerade "Magnolia" noch mal eindrucksvoll vorführte.

Freilich kann man, angesichts dieser Beispiele, auch leicht auf den Gedanken kommen, daß die Geschichte dieses Trends mit BB dann doch in ein einigermaßen neuartiges Stadium eingetreten sein dürfte. Aber nicht nur die Geschichte dieses Trends.

Spiele im Fernsehen

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BB wurde zunächst einmal unter der Voraussetzung beurteilt, analysiert und angeschaut, daß sich in dieser Sendung eine neue Stufe des "reality-TV" verkörpert fände. Das ist vielleicht gar nicht so falsch. Allerdings müßte man "reality-TV" dann viel weiter fassen als gegenwärtig üblich. Man müßte BB im Vergleich zu einer uralten Sorte von "reality-TV" betrachten: Der (Live-)Übertragung von Spielen (oder Wettkämpfen).

Jedenfalls schaut man bei BB zweifellos Menschen dabei zu, wie sie sich in einem Spiel so machen; in einem Spiel, zu dem der eine mehr, der andere weniger Talent und Können mitbringen mag - jedenfalls genau wie die Teilnehmer an einer Game-Show oder die Mannschaften in der Bundesliga. Man könnte freilich einwenden, dort etwa, in der Bundesliga, müsse man aber doch immerhin noch einiges Talent im Fußballspielen mitbringen, und für Quiz-Shows müsse man einiges wissen - was aber muß man für BB mitbringen?

Nun, für "Big Brother" muß man eben Talent im Wohnen mitbringen - im Rumsitzen und Rumhängen also zum Beispiel, im Zeittotschlagen sowie noch in einigen anderen, letztlich aber artverwandten Disziplinen. Jedenfalls könnte man auf dieser Ebene des Vergleichs am Ende vielleicht doch noch auf mehr Vergleichbarkeiten als Unterschiede kommen - und damit: auf mehr Kontinuität als Diskontinuität. Worin aber könnte dann, im Vergleich zu den vertrauten Spielübertragungen im Fernsehen, der Unterschied liegen, "der einen Unterschied macht"? Worin liegt die wahre Diskontinuität?

Talent im Wohnen

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BB als Spiel, das der Gesellschaft erlaubt, sich über sich selbst zu informieren

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Niklas Luhmann geht so weit, daß man sich, will man verstehen, wie Unterhaltung in den Medien der Gesellschaft bei ihrer Selbstbeobachtung hilft, sowieso "am allgemeinen Modell des Spiels orientieren" sollte. Und ihm zufolge geht es bei Spielen darum: "Es wird eine bestimmten Bedingungen gehorchende zweite Realität geschaffen, von der aus gesehen die übliche Weise der Lebensführung dann als die reale Realität erscheint."

Man könnte daran anschließend und zusammenfassend sagen, daß das Neuartige an BB darin besteht, daß die "bestimmten Bedingungen" (man darf wohl übersetzen: die Regeln), denen jene spezielle "zweite Realität gehorcht", die BB für die Bewohner seines Containers errichtet hat, anders als bei den üblichen und bekannten Spielen, keine "künstlichen" sind - keine solchen also, die außerhalb des Spiels, in der "realen Realität", keine Geltung hätten, keine also auch, die eigens für das Spiel allererst hätten entwickelt werden müßten. Sondern, im Gegenteil: Die Regeln von BB sind direkt aus der "realen Realität" genommene, einfach in ein Spiel hineinkopierte Bedingungen: Man stellt sein Freizeit-Selbst aus und wird dabei von anderen beobachtet und bewertet - nach den verschiedensten Maßstäben.

Anders gesagt: Aus Sicht der Systemtheorie liegt es nahe, den gesuchten Unterschied in dem Umstand zu suchen, daß die Leistung der Mitspieler, auf die es bei BB ankommt, eine kommunikativ-soziale ist; und damit eine, wie sie im "realen Leben" auch ständig gefragt ist. (Dagegen gibt es bei BB zum Beispiel ganz offensichtlich keinerlei vorher feststehende, "künstliche" und auch keine "objektiven" Maßstäbe, mit denen die Leistungen der Bewohner gemessen würden, wie bei Spielen sonst offensichtlich üblich; im Sport etwa oder bei Game-Shows). Die Beurteilung der Mitspieler durch das Fernsehpublikum hängt von nicht durch das Spiel selbst definierten, vorgegebenen Maßstäben ab (Niemals hätte Percy Hoven etwa gesagt: "Wenn Sie jetzt darüber abstimmen, wer die WG verlassen soll, überlegen Sie sich bitte, wer Ihnen in den folgenden Hinsichten am besten gefiel: ..."), sondern diese Maßstäbe bleiben der Gesellschaft, der Kommunikation überlassen, die entsprechende Maßstäbe sowieso fortlaufend erzeugt und prüft. Der Ausgang des Spiels mag zwar auch von spielimmanenten Faktoren abhängen ("Wochenaufgabe"). Er hängt jedoch ganz sicher zu viel größeren Anteilen von eigentlich "spielfremden", nämlich gesellschaftlich erzeugten Faktoren ab.

So wird bei/durch BB "Spiel" zugleich zu einer Möglichkeit für die Gesellschaft, ihre "reale Realität" zu spiegeln - und: sich anhand dieses Spiegelbilds (und des Resultats des Spiels etwa) über sich selbst zu informieren. Zum Beispiel darüber also, welche Art von Freizeit-Ich die Mehrheit schätzt. Und in eben diesem Sinne trägt BB dann auch zur zitierten "Dirigierung der Selbstbeobachtung der Gesellschaft" bei.

Auf einer anderen Ebene könnte man außerdem sagen: BB scheint eine aktuell naheliegende Innovation in der sich fortsetzenden Entwicklung immer neuer Spiele zu sein, die irgendwann einmal einfach auf diese Herausforderung, die Grenze zwischen "realer Realität" und "zweiter Realität" stoßen (und dann: sie weitestgehend aufzuheben trachten) mußte.

Bleibt die Frage, warum die Zuschauer (die ja nicht selbst auch immer unmittelbar am Zustand der Gesellschaft interessiert, nicht alle Soziologen sind), warum moderne Individuen also auch für sich selbst an solchen Spielen, solchen Wettkämpfen interessiert sind, sich mit Vorliebe in ihnen als Richter gefallen, ja: vor allem (oder gar: nur noch?) für das Richteramt in solchen Fällen (über Freizeit-Ichs) ihr Urteilsvermögen in Betrieb setzen mögen?

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Der Beitrag der Unterhaltung zur individuellen Orientierungserleichterung

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Man könnte das über die Freizeit-Selbsts bei BB Gesagte noch einmal so zusammenfassen: Die Funktion der Fernsehunterhaltung scheint zunehmend (auch) darin zu bestehen, abzubilden (oder jedenfalls: als erfolgreich stellen sich zunehmend Formate heraus, die abbilden), wie man sich heute so unterhält, wie man seine Freizait verbringt, was man in ihr tut, welche und wie viele Möglichkeiten es heute gibt, sich in ihr zu unterhalten. Und dann scheint die Antwort, zumindest auf die erste der eben gestellten Fragen, auch schon auf der Hand zu liegen: Dies alles scheint von Interesse zu sein, weil man eben darüber informiert sein möchte. Sei es, weil man sichergehen will, nichts zu verpassen. Sei es, weil man bestätigt haben möchte, daß man sich immer noch besser unterhält als andere (oder: als die meisten). Sei es, weil man Anregungen sucht. Sei es, weil man bestätigt haben möchte, daß die eigenen Unterhaltungsweisen auch noch von anderen geteilt werden (man also auch, folglich, nicht vollends abartig ist; ein Bedürfnis, dem wohl insbesondere eine bestimmte Sorte von Unterhaltungssendungen entgegenkommt: die zahllosen Sex-Magazine).

Wie auch immer: "Mit diesen Überlegungen ist auch der Sonderbeitrag des Segments `Unterhaltung´ zur allgemeinen Erzeugung von Realität sichtbar geworden. Unterhaltung ermöglicht eine Selbstverortung in der dargestellten Welt. ... Das, was als Unterhaltung angeboten wird, legt niemanden fest; aber es gibt genügend Anhaltspunkte (die man weder in den Nachrichten noch in der Werbung finden würde) für Arbeit an der eigenen `Identität´". (Niklas Luhmann)

Unterhaltung in ihrer Funktion als Informationsquelle ist also nicht gerade unwichtig - und kann wohl nur noch wichtiger werden. Vielleicht könnte man sogar sagen, daß Unterhaltungssendungen künftig um so erfolgreicher sein werden, je mehr sie eine entsprechende Zweitver- und/oder -auswertung erlauben: Je mehr sie (außer, daß sie unterhaltsam ist) zusätzlich also auch noch informativ in dem Sinne sind, daß sich ihnen auch Informationen darüber (oder: Anhaltspunkte dafür) entnehmen lassen, wie sich freie Zeit (jeweils) verbringen läßt, welche Möglichkeiten die Gesellschaft dafür jeweils bereithält. Und außerdem am besten gleich noch: wie diese Beschäftigungen in der Gesellschaft jeweils eingeschätzt werden - bzw. welche Kriterien zu ihrer Bewertung es gibt. Und das Letzte ist zugleich der Punkt, der über das bisher Gesagte noch einmal hinausführt. Und so vielleicht zugleich erlaubt, auch auf die übrigen der oben gestellten Fragen noch Antworten anzubieten.

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Nachträgliche Bewertung der Unterhaltung im Medium der Unterhaltung selbst - in unterhaltsamer Form

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Zum festen Bestandteil einer jeden unterhaltsamen Unterhaltung, eines jeden guten Gesprächs in der Freizeit gehört zweifellos nicht nur, daß alle Anwesenden ein interessantes Freizeit-Ich darzustellen haben. Mindestens ebenso wichtig ist der Austausch von Urteilen über andere, vornehmlich nicht anwesende Personen; natürlich. Und wer gar seinen Anteil an der Unterhaltung ausschließlich dadurch zu bestreiten vermag, originelle, unterhaltsame Urteile über andere produzieren zu können (und deshalb unter anderem eben auch: nicht viel von sich preisgeben muß); wer als Parasit der anderen und ihres Sich-Abstrampelns bei der Stilisierung ihres Freizeit-Selbsts also gewissermaßen zu überleben vermag (und die Zuhörer darüberhinaus vielleicht auch noch: für seine Urteile zu gewinnen vermag), der ist unter allen Freizeit-Selbsts vielleicht in der denkbar komfortabelsten Position. Auf jeden Fall in einer sehr angesehenen. Das mag schon in den Salons so gewesen sein - auf jeden Fall aber ist heute innerhalb der Unterhaltungsbranche, wer dort aus seinem Prasiten-Talent dann auch noch: einen Beruf zu machen vermag, König. Schließlich wird er, nicht zuletzt, dann auch als Informationsquelle interessant.

Dieser Umstand scheint zum einen zu erlauben, daß ein entsprechendes Fernseh-Format im Unterhaltungssegment sich etablieren konnte. Sendungen also, die Kriterien anbieten, um die ganze Masse des Unterhaltsamen, der Freizeitbeschäftigungen, der Unterhaltungsformate, -angebote, -bedürfnisse und -dispositionen in einem zweiten Schritt zu sortieren und zu bewerten. Nach Kriterien wie peinlich, eitel, dumm, bigott, eingebildet, naiv, lächerlich, eklig: die "Harald Schmidt Show" und Stefan Raabs "TV-total" also vor allem. (Wobei H. Schmidt sich noch einmal als Letztinstanz empfiehlt, wenn er ein Kriterium anbietet, das wiederum Raabs Kriterien und Vorgehen abwerten soll: "Für mich kommen als Opfer nur Prominente in Frage, hoch bezahlte, eitle Menschen. (...) Wir brauchen jeden Tag standrechtliche Exekutionen, aber es muß die Richtigen treffen." DER SPIEGEL 19/2000).

Stefan Raab mit Jürgen-Kelle

Und zum zweiten erklärt dies, alles zusammengenommen, vor allem den Erfolg von BB noch einmal genauer. Zu den wichtigsten Gründen für ihren Erfolg dürfte jedenfalls zählen, daß diese Sendung dem Publikum die Möglichkeit einräumt, darüber zu urteilen, welche Freizeit-Selbsts, welche Arten von Beschäftigungen mit sich selbst (wenn man sich also nicht gerade anders ablenkt; durch Fernsehen, Kino, Internet, Theater, Zeitung...) und welche Art von Gesprächen man sympathisch und unterhaltsam, und welche man peinlich, lächerlich usw. findet, dies mittels Abstimmungen (und auf Internetseiten) öffentlich kundzutun - und sich auf diese Weise, nicht zuletzt, auch ein wenig: wie Raab oder Schmidt fühlen zu können. Die Art, wie sich das Publikum (dort, wo es, wie in Köln-Hürth vorm Container, leibhaftig erschien und selbst vor die Kamera drängte) etwa gegenüber Manu gerierte ("Manu raus!"), scheint allerdings darauf hinzuweisen, daß es sich vor allem an die Stelle von einem der beiden, von Stefan Raab (mit seinen "Pfui"-Kellen) wünscht - und dieses "Diskurs-Niveau" dem Publikum also wohl schon ausreicht; es sich darin wohl fühlt. Dafür spricht dann auch das Resultat der Abstimmung, der gemeinsame Nenner, auf den das Publikum sich hinsichtlich der heute anscheinend beliebtesten Freizeitbeschäftigungen offenbar geeinigt hat: das Witzchen machen, das Zoten erzählen, undsoweiter. Jedenfalls hat man sich offenbar nicht, um wenigstens mal eine alternative Möglichkeit zu erwähnen, zum Beispiel auf folgende Freizeitbeschäftigung einigen können: sich (und womöglich gar: kenntnisreich, originell und pointenreich) über aktuelle Musik, Filme, Politik, Literatur, Kunst usw. zu unterhalten. Natürlich hatte aber schon die vorliegende Auswahl von Bewohnern dieses Resultat ausgeschlossen. Man darf folglich hoffen, daß die Resulate auch noch mal ganz anders ausfallen würden, wenn die zweite Staffel von BB eine ganz andere Auswahl von Bewohnern bieten würde. Wenn! Und allzu sicher darf man wohl auch für diesen Fall nicht sein.

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Unterhaltung als Lösung für ein zunehmend drängenderen Bedarf in der modernen Gesellschaft

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Daß Unterhaltung, die in den beschriebenen Weisen von der Abbildung und Bewertung von Unterhaltung lebt, zu einer derart zentralen Stellung aufrücken konnte, wird man wohl (darauf bleibt nun zuletzt noch einzugehen) darauf zurückführen müssen, daß die Erwerbsarbeit alleine immer weniger über den Wert der eigenen Persönlichkeit zu entscheiden vermag; daß also, wie zufrieden man ist (aber auch: mit welcher Wertschätzung man in der Gesellschaft rechnen darf), immer weniger allein davon abhängt, was man gelernt hat, wie gebildet man ist, was und wo man arbeitet. Und immer mehr davon, wie man seine Freizeit verbringt. Ob man sie "kreativ" zu nutzen weiß, ob man ein "interessantes Hobby" hat, ob man "Interessen" hat, zu feiern und interessant zu erzählen weiß (oder erst mal: überhaupt etwas zu erzählen hat), ob man sexuell zufrieden ist, unterhaltsam oder einfach (und das scheint aktuell zugleich das Fehlen jeder anderen Qualität kompensiern zu können) witzig.

Der Wert der Persönlichkeit hängt jedenfalls immer mehr von von der Erwerbsarbeit wie vom "bürgerlichen Werdegang" unabhängigen Faktoren ab. Selbst, wenn die soziale Wertschätzung (auch und immer noch), davon abhängt, daß man überhaupt Arbeit hat (und wieviel man verdient), muß heute selbst, wer gut verdient, zunehmend erfahren, daß dies weder am Arbeitsplatz noch außerhalb genügt, um sich sozialer Anerkennung dauerhaft sicher sein zu können.

"Distinktionssinn desFreizeit-Profis. Zlatko zu Jürgen: >Wir zwei lachen, wenn es zum Lachen ist. Wenn es dumm ist, schauen wir uns nur an. Der John, der lacht bei jedem Scheiß.<"

Anders gesagt: Es stellen sich, mit der sich allgemein vermehrenden freien Zeit, mittlerweile für alle Einzelnen ähnliche Probleme wie jene, aus deren Bearbeitung der arbeitslose Stand, der Adel, einmal die Anlässe für seine Kultur gewann. Jeder Einzelne braucht eben inzwischen (wieder) einen ausgeprägten Distinktionssinn, um sich in dem komplizierten Netz von Distinktionsmöglichkeiten und -gelegenheiten im "Freizeit-Bereich" zurechtzufinden, über das heute ganz wesentlich über die Verteilung sozialer Chancen entschieden wird. Und dies vielleicht sogar, weil eine Verteilung im Modus dieses Mediums ("Attraktivität des Freizeit-Ichs") der Komplexität der aktuellen Gesellschaft adäquat und sehr funktional angepaßt sein könnte, und vielleicht noch am ehesten eine Inklusion aller erlaubt; sich also alle, wie einmal der Adel unter sich, in diesem Medium als Gleiche begegnen können, und weil die nötigen Informationen zur Ausbildung eines Freizeit-Ichs eben, über die Massenmedien, allen zugänglich sind; was jedenfalls dann sehr funktional sein könnte, wenn die Gesellschaft auf diese Weise die Möglichkeit entwickeln würde, die richtigen Leute in die richtigen Positionen zu bringen - also auch Leute, die, ginge es (nur) nach den üblichen, bürgerlichen Verteilungsmechanismen, dort gar nicht hingelangen würden, gar nicht hingelangen könnten.

Natürlich strickt unter diesen Umständen aber jeder zugleich, indem er dieses Medium nutzt, auch immer weiter an der Steigerung seiner Komplexität. Und so scheint dann gegenwärtig zwar noch die größte Anerkennung zu genießen, wer in seiner Freizeit einfach und unübersehbar "Spaß hat". Das aber könnte sich dann eben schon bald als kurzlebige Mode herausstellen. Keine bloße Mode allerdings, sondern eine sozialstrukturell verankerte, also dauerhafte (und ausgenommen folgenreiche sowie: in ihren Folgen noch kaum absehbare) Neuerung scheint dagegen darin zu bestehen, daß die Gesellschaft (und alle Einzelnen) sich mittlerweile dauernd Rechenschaft darüber ablegen müssen, welche Unterhaltungsdispositionen in der Gesellschaft vorkommen und möglich sind, was in ihr alles als unterhaltsam empfunden wird und wie und womit man seine Freizeit verbringen könnte - um dann: dies alles noch einmal (und naheliegenderweise: vermittels unterhaltsamer massenmedialer Möglichkeiten) nach "angesagten"/"abgesagten", angesehenen/nicht angesehenen, sinnvollen/schädlichen, geschätzten/verachteten Unterhaltungsmöglichkeiten und Freizeitbeschäftigungen zu sortieren. Das hängt natürlich damit zusammen, daß die Gesellschaft ohne Spitze auskommen muß; weshalb nicht mehr einfach für alle (und ein für allemal) zwischen abzulehnendem und akzeptablen "Unterhaltungen" unterschieden werden kann. Das muß stattdessen nun der Kommunikation überlassen bleiben. Dafür müssen ihr dann aber eben auch erst einmal, und nach Möglichkeit: alle möglichen Unterhaltungsmöglichkeiten bekannt sein. Und dies dürfte dann auch als Grund dafür anzusehen sein, daß die Massenmedien sich zusehends der Abbildung wirklich jeden Alltags und wirklich jeder Freizeitbeschäftigung öffnen; also auch im Unterhaltungssegment zusehends weniger als grundsätzlich "unsendbar" gelten zu können scheint (wie eben auch, freilich aus anderen Gründen: im Segment der "Nachrichten und Berichte").

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Zum Schluß eine Bitte

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Manche mögen in diesem Zusammenhang an eine Neuauflage der Theorien denken, die sich, seit ihrem ersten historischen Auftreten, mit dem Problem der "Langeweile" beschäftigen. Sie werden sich fragen, ob die Sensationen, die zu ihrer Bekämpfung erdacht werden, nicht langfristig Abstumpfung, also im Gegenzug auch immer "stärkere" Sensationen nach sich ziehen müssen.

ARTE ZUSCHAUERDIENST
2A, rue de la Fonderie
F-67080 Strasbourg Cedex
Tel: 0180/500 24 88 (nur von Deutschland aus)
 Fax: (00 33) 3 88 14 21 60

Es reicht jedoch, davon auszugehen, daß es, seit der Freigabe von Geschmack, möglich geworden ist, daß sich letztlich ebensoviele Bedürfnisse nach Unterhaltung (und Dispositionen für so viele verschiedene Unterhaltungen) ausbilden können wie es Individuen gibt. Und daß die Gesellschaft eben damit umgehen muß, daß es immer auch dazu passende Angebote geben wird - über deren Beurteilung und deren soziales "Geachtet-Sein" dann in einem zweiten Schritt immer neu und flexibel entschieden werden muß. Und daß es für dieses Problem, eben: sehr verschiedene Lösungsmöglichkeiten geben mag. Künftig dann aber vielleicht doch wenigstens noch etwas Raffiniertere als "Big Brother"? Man möchte es hoffen. Wenigstens eine "Big Brother"-Variante mit komplexem, interessantem Personal? Ja? Das wäre ein Anfang? Also dann: Schreiben Sie, liebe Leser, doch bitte alle an Arte, auf daß es dort bald, am besten parallel zur nächsten BB-Staffel, eine Konkurrenz-WG gibt. Gewissermaßen: Attraktive und lustige Intellektuellen-Freizeit-Ichs treten in unmittelbaren Wettstreit mit Hantel-Hanseln. Wollen doch mal sehen, wie die Gesellschaft dann entscheidet.

Leserbriefe


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