Gerüchte, Gerüchte: Die italienischen Zeitungen, allen voran
der unermüdlich auf die nationale Trommel schlagende "Corriere della
Sera", schubsten einen der drei am Ende leer ausgehenden italienischen
Wettbewerbsbeiträge, "Le chiavi di casa" von Regisseur Gianni Amelio,
mit ihren euphorischen Zeilen bereits vor und nach seiner Premiere am vorletzten
Festivaltag vehement aufs Siegertreppchen.
Die linke Tageszeitung "Il manifesto" wusste dagegen in ihrer Ausgabe vom
11. September über Spekulationen am Lido zu berichten, dass eine
Entscheidung für den vom italienischen Fernsehsender RAI produzierten
Film von Amelio "peinlich" sein könne, da Jury-Präsident John Boormann,
dessen Position eigentlich erst der amerikanische Regisseur Spike Lee einnehmen
sollte, für seinen nächsten Film einen Vertrag mit eben diesem
Sender in der Tasche habe.
Immer wieder wurde die (Verschwörungs-)Theorie laut, dass Moritz de
Hadeln dem Festivalchef Marco Müller Platz machen musste, weil er im
letzten Jahr nicht verhindert konnte, dass die Jury den Film "Buongiorno,
notte" vom italienischen Regisseur Marco Bellocchio (eine Produktion der
RAI) bei der Löwen-Vergabe nicht berücksichtigt, sondern nur mit
dem weniger prestigeträchtigen Drehbuchpreis bedacht hatte. Ein deutscher
Kollege fragt ob dieser Spekulationen zu Recht: Wer vergibt in Venedig eigentlich
die Preise? Die Jury oder der Festivaldirektor?
Casino, Casino: Am ersten Wochenende herrschte Chaos. Der Hauptdarsteller
aus "Finding Neverland" - Johnny Depp in der Rolle des schottischen Theaterautors
Barrie, der "Peter Pan" schrieb - musste morgens um zwei Uhr über den
roten Teppich laufen, der in diesem Jahr nicht über eine geschwungene
Holzrampe wie aus dem Baumarkt gespannt war, die eher zum Skaten denn Flanieren
geeignet schien, sondern parallel zur Front des Palazzo del Cinema verlief.
Dieses Jahr spendierte das Festival für geschätzte 800 000 Euro
ein Megalithgrab vor dem Palazzo del Cinema aus rosefarbenen Monolithen,
ähnlich den mit Schwarz abgesetzten "Chanel"-Parfümflaschen, auf
denen zur Krönung mit Goldglanz besprühte geflügelte Löwen
thronten. 60 an der Zahl sollen's gewesen sein, einer für jeden Gewinner
des Goldenen Löwen aus den letzten 60 (in der offiziellen
Geschichtsschreibung) Festivaljahren. Jeweils einen geflügelten Löwe,
das Symbol von Venedig, platzierte man auf zwei Stelen hinter dem Casino,
wodurch der abendliche Sprint in Richtung Bootsanleger zum Hindernislauf
geriet. Für die Inszenierung der bombastischen Kulisse vorm Palazzo
del Cinema engagierte die Biennale den Produktionsdesigner Dante Ferretti.
Die Premiere von "Finding Neverland" verschob sich also bis in die Morgenstunden
vor spärlichem Publikum. Für den zum Teil in der Lagunenstadt gedrehte
öden Kostümschinken "Der Kaufmann von Venedig" wurden am selben
Abend zu viele Karten verkauft, so dass Al Pacino mangels Sitzplatz vor Wut
geschäumt haben soll.
Das Angebot des Produzenten von Miramax, Harvey Weinstein, Festivalleiter
Müller wegen der Präsentation von "Finding Neverland" zum
Frühstück mit Beton an den Füßen wahlweise in der Lagune,
dem Canal Grande oder dem Pool eines der Hotels am Lido zu versenken, wurde
mit Freude am Skandal in allen Zeitungen zitiert.
Dieses Jahr traf das Chaos in Venedig die Stars und Produzenten auf dem roten
Teppich sowie die Journalisten, die mit ihrem dichten Programm aus
Pressevorführungen, -konferenzen und Interviews in akute Zeitnot gerieten.
Nie zuvor seien die Versäumnisse so dramatisch gewesen, hieß es.
Die täglich erscheinende Festivalzeitung "Ciak in Mostra" klagte über
"pathologische Verspätungen" und offenbarte Sehnsucht nach dem wenigstens
immer pünktlichen Ex-Festivaldirektor Moritz de Hadeln. In der Rubrik
"Supermüller" bilanzierte die Redaktion täglich von neuem das Desaster,
gab darin Erklärungsversuchen der Direktion Raum.
Aber in Venedig ist's wie mit dem Wetter. Zwölf Monate später erinnert
sich keiner mehr an die skandalösen Zustände vor einem Jahr: Schlangen
vor dem Kino, dramatische Szenen beim Einlass, wenn Akkreditierte oder Publikum
außen vor bleiben musste, da zu viele Tickets verkauft worden waren
bzw. das Festival nicht auf die Zahl der Akkreditierten eingestellt zu sein
schien. Im Drei-Klassen-System à la Venezia (Industrie und Tagespresse;
Zeitschriften; Kino) blieb 2003 der "3. Stand" außen vor. Dieses Jahr
traf es - vorwiegend - die "Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen
essen"-Elite. Ihr Echo hallte entsprechend lauter über die Lagune.
Sampling, Sampling: Eine technische Panne bei der Pressevorführung des
außer Konkurrenz laufenden Films "Eros" führte zu einer bizarren
Implantierung in Steven Soderberghs Beitrag "Equilibrium". Die Filmspulen
wurden vertauscht. Dadurch geriet eine Szene aus dem kanadischen Beitrag
"Stryker" in die Praxis des gelangweilten, Papierflugzeuge bastelnden
Psychonalytikers bei Steven Soderbergh. Bemerkenswerter Weise passte der
Anschluss: Der Analytiker verlässt den Raum (gedreht in Schwarzweiß),
cut, die Banden aus "Stryker" treffen bei einer Schlägerei in der Bar
aufeinander (in Farbe). Dem Gleichgewicht des Beitrags schadete die
Fremdbespielung nicht - so kam endlich etwas Leben in die Bude.
*Zitat aus der Ausstellung "viverevenezia3 - in the labyrinth. Progetti per
un sistema di orientamento urbano a venezia. Palazzo Fortuny, Campo San Beneto,
San Marco 3985, bis zum 3. Oktober 2004, 10 bis 18 Uhr, montags geschlossen.
Alle Gewinner der diversen Auszeichnungen unter
http://www.labiennale.org
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