| Der Film führt zwei Menschen zusammen, sanft erst, in ineinander
		    synkopierten Ton- und Bildspuren, sehr unsanft dann, narrativ, mit einem
		    Crash auf dem Roosevelt Drive, der Ost-Umgehungsstraße in Manhattan,
		    die keinen anderen Zweck hat als den Fluss der Fahrzeuge in Richtung von
		    Bestimmungsorten, die anderswo liegen, in Gang zu halten. Im Zusammenprall
		    aber bricht der Fluss, der, und das ist gewiss keine Überinterpretation,
		    zugleich für die institutionell abgesicherten Selbstverständlichkeiten
		    des Zusammen-, genauer Nebeneinanderherlebens in der modernen, ausdifferenzierten
		    Gesellschaft steht. Die Interaktion, die, in der alltäglichen
		    Geschäftigkeit des Miteinanderauskommens, in den Bahnen routinisierter
		    Skripte und eingespielter Rollenverständnisse abläuft, ohne dass
		    der einzelne viel von sich und seiner Privatheit dazutun müsste oder
		    sollte (oder darf), findet hier statt als Crash zweier Individuen, die, das
		    ist ein gewaltiger Unterschied, nicht als Individuen im Hollywood-Sinne
		    schlüssiger Charaktere vorgeführt werden, sondern als Modelle dessen,
		    was Individuen als Störfaktoren, gerade als Überschuss über
		    ihre Rollen sein können. Dieser Crash ist ein Moment der Entautomatisierung
		    des Sozialen, nicht mit Notwendigkeit - es gibt, Versicherungskarte etc.,
		    auch für Unfälle Routinen -, aber doch in diesem Fall, in dem der
		    Eigensinn des einen Beteiligten im Bund mit einem Zufall, der wiederum nicht
		    aus Zufall der eines "falschen" Tauschs, also ein im allgemeinen Verstand
		    ökonomischer ist, einen Riss schlägt in den nur scheinbar festen
		    Boden der doppelten Kontingenz, auf dem sich Gesellschaft konstituiert, als
		    wäre sie das Selbstverständlichste.
		     
		    Dass sie das nicht ist, das zeigt "Spurwechsel". Und nichts anderes
		    hat der Film vor als anschaulich zu machen, wohin die Verweigerung der Routine
		    führen kann. Hier wird, mitten im Alltag, mitten im Zentrum der Zivilisation
		    (Manhattan) der Mensch dem Menschen wieder zum Wolf. Nahe läge, gerade
		    in Hollywood, die Reduktion des Konflikts auf das Psychologische. Auf raffinierte
		    Weise aber unterlaufen das Drehbuch (an dem der immer große Michael
		    Tolkin, als Ko-Autor genannt, gewiss beträchtlichen Anteil hat) und
		    die Regie alle Psychologie, während sie ihren Anschein trügerisch
		    bestehen lassen. Der Bedarf nach Motivierung des Verhaltens wird erfüllt,
		    ja, übererfüllt: Doyle Gipson steht unter Druck, als Ex-Alkoholiker,
		    als Kämpfer auf verlorenem Posten um das Sorgerecht seiner Kinder. Und
		    Gavin Banek muss um den Preis einer erfolgreichen Zukunft als Anwalt die
		    Akte, die ihm abhanden gekommen ist, wiedergewinnen. Die
		    Übererfüllung aber ist zugleich Verselbständigung. Zum Schauplatz
		    des doppelten Rachedramas, das der Film inszeniert zum einen - und Ausweitung
		    des anderen Raumes, des anderen Sprechens, das der Film auf der Rückseite
		    von plausibler Figurenentwicklung und Dramaturgie ohne alle Scham praktiziert.
		    Nichts anderes nämlich ist "Spurwechsel" als eine durch und durch
		    allegorische Versuchsanordnung, deren Künstlichkeit sich zum mindesten
		    an der Verdichtung auf einen einzigen, an Ereignissen und Prüfungen
		    reichen Tag markiert. Allegorie aber ist das Gegenteil von Psychologie:
		    während diese zur Rundung der Geschichte durch Motivierung in sich selbst,
		    und zwar durch Ausarbeitung von konventionellen Verhaltensplausibilitäten,
		    führt, hat jene immer auch und vor allem anderes im Sinn als justament
		    diese Figuren, als justament diesen Fall, als justament diesen Grund für
		    jenes Verhalten. Allegorie ist eine Einstellung, der alles Konkrete zugleich
		    Abstraktes ist, in der allgemeine Fragen am scheinbar Individuellen verhandelt
		    werden können. Im Grunde ist das Hollywood mit seinem Anspruch auf globale
		    Verständlichkeit wie auf Minderheitenrepräsentation gar nicht fremd:
		    schon die Besetzungspolitik nach Schwarz und Weiß, die in den scheinbar
		    politikvergessensten Blockbustern die Zusammensetzung von Rettungsmannschaften
		    regiert, macht Sinn nur unter der allegorischen Prämisse, dass der Film
		    mehr als diese eine gänzlich kontingente Geschichte ist. Jeder
		    Hollywood-Film versteht sich zugleich als Mikrokosmos der amerikanischen
		    Gesellschaft. Und camoufliert das durch jene Schein-Individualität und
		    Schein-Konkretion, die über Psychologie wie von selbst sich
		    einstellen.
		     
		    Freilich wird schwarz-weiße Besetzungspolitik reguliert von
		    den im Quantitativen sich erschöpfenden und deshalb regelmäßig
		    zu kurz springenden Maßstäben der political correctness: Schwarze
		    Helden in Hollywood sind in der Regel falsche, aber per Augenschein einleuchtende
		    Antworten auf ein gesellschaftliches Problem, das mit dem Begriff rassischer
		    Diskriminierung natürlich nach wie vor richtig beschrieben ist. Die
		    schiere Tatsache der ganz allgemein allegorisch bleibenden Repräsentation
		    verdeckt die Probleme, die sehr viel grundsätzlicherer Natur wenigstens
		    so lange bleiben, wie sie als solche beharrlich ignoriert werden. "Spurwechsel"
		    ist auch an genau dieser Stelle subversiv. Dass Doyle Gipson schwarz ist,
		    ist alles, nur kein Zufall. Die Agression, die von ihm ausgeht, der Ausbruch
		    des aufgestauten Hasses gegen den erfolgreichen, weißen Anwalt, verdankt
		    sich der sehr genauen sozialen Situierung. Gipson lebt in Queens, er hat
		    einen erbärmlichen McJob als Versicherungsvertreter am Telefon im
		    Großraumbüro; der Konflikt, der zum Verlust von Frau und Kindern
		    führt, wird zwar im Dialog (und dafür ist natürlich der
		    weiße Kontrollengel und Gesellschaftswauwau William Hurt zuständig,
		    selbst eine auf geradezu groteske Weise allegorische Figur) auf seine psychische
		    Disposition geschoben ("du bist ein Chaos-, ein Katastrophensüchtiger")
		    - zugleich aber deutlich genug als durch und durch sozial konditioniert
		    beschrieben. Natürlich ist der Richter weiß, der ihn nicht wirklich
		    zu Wort kommen lässt, der ihm die Tür des Rechts vor der Nase zuknallt
		    (und nur weil er zum Recht unterwegs war, ist er überhaupt in Manhattan),
		    - und natürlich ist die heruntergekommene Gegend in New York, in der
		    er lebt, in der noch der Rest seiner Zunkunftsutopie (ein Haus für seine
		    Söhne) seinen Ort hat, für den Antipoden Banek terra incognita.
		    Gipson und Banek, die sich so gewaltsam begegnen, leben nicht in derselben
		    Welt. Der eine hat alle Chancen, sein Glück zu machen, der andere hat
		    keine. Der Kampf, den Gipson beginnt, ist nichts anderes als ein Kampf um
		    Anerkennung, Reaktion auf die Kränkung, die sein Leben ist: der stinkreiche
		    Weiße nimmt ihn nicht zur Kenntnis. Aus diesen Tatsachen macht der
		    Film (fast bis zum dann doch ideologischen Schluss) keinen Hehl, ja, er
		    expliziert sie noch einmal an der Konfrontation Gipsons mit zwei weißen
		    Typen aus der Werbung, mit denen er (in Manhattan) in einer Kneipe, die für
		    ihn wiederum terra incognita ist, konfrontiert wird. Die Kluft zwischen den
		    Welten entlädt sich hier als ungeschützte Verachtung, zuletzt in
		    schierer Gewalt. Es ist, als würde hier, wie zur Verdeutlichung, der
		    große Konflikt im kleinen noch einmal durchgespielt.
		     
		    Auf der anderen Seite steht Gavin Banek, im Grund eine Figur aus einem
		    Grisham-Roman - die Besetzung der Position des Kanzleichefs und "Vaters"
		    mit Sidney Pollack (vgl. "Die Firma") macht das hinreichend klar. Er macht
		    auch, Anlass dazu wird ihm die Konfrontation mit Gipson, die Grisham-Erfahrung,
		    dass die Welt des Rechts nicht heil ist. Grisham-Helden aber renken das Recht
		    wieder ein, sie sind Heroen seiner abenteuerlichen und mordsgefährlichen
		    Wiederherstellung. Banek freilich ist von Beginn an mitschuldig. Er will
		    es, vielleicht, nicht wahrhaben, aber er weiß es. Die Akte, die er
		    an den Schwarzen verloren hat, wird so zum McGuffin einer lupenreinen
		    Purgatoriums-Geschichte, an deren Ende - soviel Optimismus muss sein - der
		    Held geläutert ist und wenigstens punktuell die Gerechtigkeit zum Sieg
		    gelangt. Der sozialen Ständeregel ganz gemäß werden an Banek
		    (wenn auch in gleicher Weise allegorisch) andere Diskurse verhandelt als
		    die psycho-sozial-politischen im anderen Fall, nämlich solche des Recht
		    und der Moral. Wohin Banek auch tritt, stößt er auf ein neues
		    moralisches Dilemma: die Frau, die er betrügt (Nebendilemma), verzeiht
		    ihm unter der Voraussetzung, dass er die Durchstechereien seines Chefs, der
		    ihr Vater ist, weiter deckt: in einer Lüge, die alle Beteiligten leben,
		    lebt und lügt sich's eben ganz ungeniert privilegiert. Die Frau, mit
		    der er seine Frau betrügt, wiederum vermittelt ihn an einen kleinen
		    Vernichtungsteufel (das Gegenstück zu William Hurts Engel), der dem
		    Rest von Gipsons Existenz mit einem einzigen Knopfdruck - Michell kristalliert
		    diesen Moment hübsch heraus in einer separaten Einstellung des angehaltenen
		    Atems - den Garaus macht. Das Recht und seine Wege sind, anschaulicher
		    geht's nicht, suspendiert, die Bahn ist frei für den Atavismus der
		    Rache.
		     
		    Gipson ist nun zu allem, soll heißen: zum Mord, zur
		    rücksichtslosen Vernichtung, des anderen bereit. An dieser Stelle, an
		    der sich soziale Verachtung und Amoral (wenngleich mit schlechtem Gewissen)
		    zur Verachtung der basalsten gegenseitigen Anerkennung knäueln, sind
		    alle sozialen Sicherungssysteme endgültig außer Kraft. Es ist,
		    andererseits, eine ironische Pointe (auf die einschlägige Ökonomien
		    des Exzesses gerne hinweisen), dass der Moment des blinden, zu allem
		    entschlossenen Hasses der einer intensiven Nähe der beiden, der Moment,
		    ob man will oder nicht, ihrer tiefsten gegenseitigen Anerkennung ist. Die
		    Produktion dieser irrationalen Konfrontationsenergie fiele jedoch - letzten
		    Endes tödlich - aus der Ökonomie gesellschaftlicher Anerkennung
		    heraus. Dem Film steht der Sinn dagegen nach Rücklenkung in die geordneten
		    Bahnen. Die Energie dazu entsteht nicht aus diesem Exzess (das wäre
		    denn doch zu viel des Vertrauens in die Kraft der rohen Gewalt), im Gegenteil:
		    es ist die Ermattung, die die Gegner zu dem kommen lässt, was man
		    kommunikative Vernunft nennen und für den Urgrund des sozialen Miteinanders
		    halten möchte. Womit ich von Luhmann zu Habermas gelangt wäre,
		    aber es ist die Bewegung des Films. Jedoch kann nicht übersehen werden:
		    "Spurwechsel" beschäftigt sich mit den Grundlagen des Sozialen über
		    den Moment ihrer totalen Krise. Das Ende mag ein nicht weniger frommer Wunsch
		    sein als die Ethik, auf die Habermas' Theorie - vielleicht nicht verzweifelt
		    genug - zuletzt zurückfällt. Darüber freilich, wie sich
		    Ausnahmezustand und Normalität nicht allegorisch (bzw. ethisch), sondern
		    empirisch zueinander verhalten, also danach, wieviel Ausnahmezustand immer
		    schon in der Normalität steckt (Luhmanns Grundthese von der "doppelten
		    Kontingenz" wäre ein leiser Wink in diese Richtung) machen ja weder
		    Habermas noch dieser faszinierende Film eine Aussage. Der allegorische Titel
		    gibt aber einen durchaus quietistischen Hinweis: alles bleibt so wie es ist,
		    nämlich ordentlich und friedlich, wenn arm und reich und schwarz und
		    weiß brav nebeneinander herleben, die Spur nicht wechseln und die Lage
		    der Dinge akzeptieren, weil sie ist, wie sie ist. 
		     
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