Filmkritik Lars von Trier, Jorgen Leth: The Five Obstructions (F 2003)

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Lars von Trier, Jorgen Leth: The Five Obstructions (F 2004)

 

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Lars von Trier, Jorgen Leth: The Five Obstructions (F 2003)
Kritik v
on Ekkehard Knörer

 

"The Five Obstructions" stellt Unklarheiten her. Darüber, ob das, was wir sehen, ein Spiel ist oder Ernst. Oder, anders gesagt: Klar ist, dass es sich um ein ernstes Spiel und spielerischen Ernst handelt, ohne Scheidelinie dazwischen. Wenn aber - Definitionen, die ich jetzt nicht ganz ad hoc setze - das Spiel sich dadurch auszeichnet, dass es dabei gegebene Regeln einzuhalten gilt und der Ernst durch die Unmöglichkeit, sich an feste Regeln zu halten, durch die Notwendigkeit, über mögliche Regeln nachzudenken, dann ist das Spiel, das die Regisseure Lars von Trier und Jorgen Leth hier miteinander treiben, eine sehr ernste Sache, weil das Geben von Regeln ins Spiel kommt, zum Spiel gehört, Teil des Spiels wird, das so seinen Charakter potenziell immerzu verändert.

Jorgen Leth hat im Jahr 1967 einen Film gedreht, "Der perfekte Mensch". Der Film kennt keinen Ort, nur einen weißen Raum, er spielt Szenen durch, ein Mann, eine Frau, Körperteile, Tätigkeiten (sich rasieren, essen, springen, fallen, Strümpfe ausziehen); der perfekte Mensch zerfällt in Körperteile und Tätigkeiten und einen Kommentar, der Fragen stellt, der beschreibt, was zu sehen ist: so fällt der perfekte Mensch; jetzt hören wir Musik; jetzt hören wir keine Musik mehr. Jorgen Leths "Der perfekte Mensch" ist Teil von "The Five Obstructions", nicht einfach, sondern vielfach. Der alte Film, 12 Minuten lang, ist über den neuen Film verteilt. Zerstückelt, zerschnitten, aber - so ist anzunehmen - vollständig, in zerstückelter Gänze.

Der neue Film rückt nur nach und nach mit der Sprache heraus, konfrontiert uns und sich mit dem alten Film über den Umgang mit ihm, der in den Regeln liegt, die Lars von Trier gibt, den Regeln, denen er Jorgen Leth unterwirft, damit neue Filme entstehen als Remakes des alten. Der alte Film ist also mehrfach präsent: als zerstückelter Körper; der perfekte Mensch, der perfekte Film: zerstückelt. Und als Ausgangs- und Bezugspunkt, aus dessen Rippe Jorgen Leth (sich) unter Anleitung von, in Auseinandersetzung mit, im Widerstand gegen Lars von Trier weitere Filme schneidet, die willkürlichen Änderungskategorien sich unterwerfen und zugleich gegen sie aufbegehren.

Grundlage des Spiels ist, auf den ersten Blick, eine Umkehrung. Jorgen Leth war der Lehrer Lars von Triers auf der Filmhochschule. Er bewundert seinen Lehrer und dessen Film, den er, wie er sagt, zig Mal gesehen hat. Und doch plant er einen Vatermord, mit offenem Visier. Er will den Vater töten, genauer gesagt: Er will, dass der Vater sich unter Anleitung des Sohnes selbst tötet. Im Spiel, im Ernst. Die Obstruktionen sind Anweisung zur Zerstörung dessen, was - für Lars von Trier - die Filme Jorgen Leths ausmacht: ihre Virtuosität, ihre Perfektion. Jorgen Leths Filme entziehen sich, verweigern sich dem Leben und, dies wiederum Lars von Triers Schlussfolgerung, auch der Filmemacher selbst schützt sich durch diese Virtuosität. Lars von Trier will seinen Lehrer zwingen zu scheitern. Scheitern als Chance, und zwar als einzige Chance für den Perfektionisten Jorgen Leth, zum Leben zu finden. Ästhetisch wie biografisch, mehrfach spricht Lars von Trier von der Depression Leths, der als Botschafter in Haiti lebt. Die Obstruktionen sind also eine Therapie. Der Schutzpanzer eines Perfektionisten ist zu durchdringen, wunde Punkte und Schwachstellen des virtuosen Filmemachers sind ausfindig zu machen. Vatermord, als Therapie. Der Therapeut inszeniert sich als Souverän, der den Patienten brechen will, zu dessen Nutzen. Die Obstruktionen sind Strategien in diesem Spiel.

Jorgen Leth spielt mit. Er unterwirft sich diesen Regeln. Er akzeptiert die Therapie. Darin aber liegt seine Souveränität. Die Regeln des Spiels sind, das zeigt sich schnell, weit weniger klar als zunächst schien. Die Souveränität des Gebens der Regel sieht sich mit der Souveränität der Akzeptanz der Regeln konfrontiert. Es kommt dazu: Jorgen Leth weigert sich zu scheitern. Die Obstruktionen erweisen sich als Gelegenheiten, als Anstoß für eigene Produktivität. Der Angegriffene nutzt den Angriff des Gegners für einen souveränen Wurf und verwandelt vor den Augen des Souveräns die Situation. Der Schüler, der Lehrer war, der Vater, dem vom Sohn die Waffe zum Suizid immer wieder neu in die Hand gedrückt wird, entzieht sich dem Tod nicht durch Widerstand, sondern gerade durch Übererfüllung der Regeln.

Überaus elegant gelingt die erste Übung, ein Dogma seltsamer Art: Kein Set und nur zwölf Bilder pro Einstellung. Die Perfektion wird zerstört, so die Strategie des Lars von Trier, durch den Schnitt als Disfiguration. Wo die "Dogma"-Regeln - deren Charakter hier auch verhandelt wird, das versteht sich von selbst, das ganze ist immer auch ein "Dogma"-Nachspiel - (vorgeblich) Natürlichkeit herstellen wollten im Abbau der "falschen" Mittel des Films, da soll nun, in der ersten Obstruktion, die Natürlichkeit der Film-Bewegung zerstört werden durch die ständige Unterbrechung, den Bruch, den Schnitt, die Gewalt gegen den Willen des Auges zur Bewegungsillusion. Der Zug scheint genial, denn er setzt an am tiefsten Fundament des Films, dieser Illusion und der Lust daran. Dem Avantgardefilmer Leth aber, das wird schnell klar, spielt von Trier damit nur in die Hände. Der zaubert aus der Reduktion eine Schnittpreziose, deren Virtuosität sich gerade am Umgang mit der Disfiguration erweist. Aus der vermeintlichen Ungestalt macht der Regisseur eine neue bella figura, deren Voraussetzung gerade die Regel zur Disfiguration der natürlichen Bewegungsfigur ist. Der Virtuose zaubert gerade aus dem Schnitt, der Beschneidung, eine neue Fülle.

Der zweite Versuch setzt nach dem Scheitern des ersten anders an. Nicht an der Form, sondern an der Moral. Hier liegt vielleicht der entscheidende Punkt dieses ernsten Spiels. Lars von Trier will die Form zur Moral zwingen, Jorgen Leth will die Form und weigert sich, sie moralisch zu lesen. Für Lars von Trier, dessen Karriere als Regisseur mit formal virtuosen Manierismen begonnen hat, liegt in der Verweigerung der virtuosen Form seit seiner "Dogma"-Wende die Wahrheit. Er ist ein zum Jansenisten gewendeter Katholik, oder - da er im Grunde zu durchtrieben dafür ist - er wäre es gerne. "The Five Obstructions" ist ein Missionierungsunternehmen, am Lehrer, der ihn die Lüge gelehrt hat, die Lüge, die Lars von Trier virtuos auszutreiben in immer neuen Anläufen unternimmt. Wie man aber - wirklich, nicht nur zum Schein - hinter die Virtuosität zurückfallen kann, wie eine Rückkehr zur wirklichen Einfachheit gelingen soll, das ist Lars von Triers Frage, die er an Jorgen Leth so vergeblich wie an seinen eigenen Projekten exekutiert. Denn auch das Scheitern des Lars von Trier ist eine Scheitern am Scheitern: Es gelingt ihm nicht zu scheitern, alle Reduktionen laufen auf die Virtuosität der Reduktion hinaus.

Die Regel zur Reduktion der Form auf die Moral: Suche das Elend auf, drehe deinen Film inmitten einer Situation, die zur Aufgabe der Form zwingt - und schließe diese Umgebung aus, zeige sie nicht. Jorgen Leth fährt in den Rotlichtbezirk von Bombay, dreht seinen Film mitten auf der Straße, inmitten des Elends. Er zieht sich den Frack an, er speist feudal. Die entscheidende Regel aber "interpretiert" er, wie er sagt. Die Wand, die ihn von der Umgebung trennt, ist halb transparent. Sie zieht eine Grenze, macht aber den Akt der Grenzsetzung deutlich, indem sie die Menschen durch die Wand, die eine Scheibe ist, mit ins Bild rückt. Lars von Trier tobt. Nicht weil die Regel gebrochen ist (obwohl er genau das behauptet), sondern weil Jorgen Leth noch mit der Perversion spielt. Er macht aus der Moral eine Form, er pervertiert den Willen des Therapeuten zur Ethik. Er nimmt die Regel und stellt sie auf den Kopf. Er macht, kurz gesagt, die Idee Lars von Triers, dass der Künstler auf seine Umwelt reagieren muss, eine exemplarisch moralische Idee, die hier exemplarisch vorgeführt werden soll, lächerlich durch die Form, die er ihr gibt. Indem das Elend spielerisch zur Form wird, durch Einfügung ausgegrenzt, als ausgegrenztes vorgeführt, negiert der Film den Ernst, auf den Lars von Trier hinaus zu wollen behauptet - während er sich auf perverse Spiele, wie dieser Film eines ist, umso lustvoller immer erneut einzulassen bereit ist.

Die dritte Obstruktion ist ein erneuter genialer Zug: Lars von Trier streckt, zum Schein, die Waffen und verzichtet auf das Geben von Regeln. Jorgen Leth, der alle Obstruktionen virtuos zu wenden wusste, soll die totale Freiheit als Widerstand erleben. Tatsächlich, könnte man sagen, gelingt es dem Schüler als Therapeuten hier am ehesten, den Lehrer vorzuführen als zwanghaften Virtuosen. Leth dreht einen formal brillanten Thriller mit Split Screens und der Andeutung eines Plots, der sich doch entzieht. Dieses Scheitern auf nicht nur hohem, sondern geradezu erst auf dem Meta-Niveau genügt Lars von Trier nicht. Statt die Leere der Virtuosität und damit gerade wieder nur die Notwendigkeit der Therapie vorzuführen, will der Therapeut, dass sein Lehrer und Patient Mist baut. Einen schlechten Film dreht, als Ausweis der Authentizität, des Menschlichen. Nicht die Perfektion, sondern das Menschliche, so das Mantra Lars von Triers, so das Mantra einer von Beginn an zu simplen Entgegensetzung.

Nächste Obstruktion: Ein Animationsfilm. Ich hasse das, sagt Jorgen Leth und fährt nach Austin, Texas, wo Bob Sabiston lebt, der virtuose Zauberer der Rotoskopie, des Zeichentricks als Verfremdung von Realfilmaterial (vgl. Richard Linklaters "Waking Life"). Das Ergebnis, wiederum: eine formal brillante Variation, nun nicht mehr nur auf das Original, sondern auch schon auf die Remakes. Steigerung der Remake-Form zur Meta-Form, die Künstlichkeit des Zeichen-Tricks lädt Jorgen Leth ein zum Um-Schnitt und zur Re-Komposition, spielerisch triumphiert der Virtuose im unvertrauten Medium, eignet es sich an und erkennt sofort sein Potenzial zur Refigurierung der zuvor den Obstruktionen abgetrotzten Form.

Als Coda führt Lars von Trier die Therapie ad absurdum. Er dreht einen letzten Film, selbst, nennt aber Jorgen Leth als Regisseur. Er schreibt einen Text, einen Brief Jorgen Leths an Lars von Trier, den Leth selbst vorlesen muss, er legt ihm Worte in den Mund; dazu sieht man Material, das bei den Vorbereitungen zu den Obstruktions-Remakes entstanden ist. Was aber wäre dieser letzte Film, diese letzte Obstruktion anderes als die Perversion des Spieles selbst? Der zuvor gewahrte Schein der Trennung von Dokument und Fiktion löst sich in der Verkehrung der Rollen auf und fällt zurück auf den ganzen Film. Wie Ernst war es Lars von Trier mit der Therapie, mit den Regeln, mit dem Spiel? War das Scheitern in der Anlage des Spiels schon programmiert, gar mit Absicht? Hatte Lars von Trier nicht von Beginn an nichts weiter als die perverse Verstrickung in eine Lust des Scheiterns an der Virtuosität des anderen als Genuss dieser Virtuosität im Sinn? Und wäre das nicht genau die Fortsetzung seines eigenen Projekts, in dem Jorgen Leth nicht mehr als ein Mittel zum Zweck wäre? Ist nicht Lars von Trier derjenige, dem das Scheitern unmöglich ist, ein Virtuose der Obstruktion, der über jede Regel und jeden Widerstand immer nur triumphieren kann? Der an der Lust leidet, die ihm das bereitet und der an diesem Leid Lust hat? In fünf Obstruktionen führt sich Lars von Trier an Jorgen Leth, der dieses Spiel gerne mitspielt, als großer Perverser vor. Die Unklarheiten, die auf diesem Wege produziert werden, können das nicht verschleiern, weil in ihrer lustvollen Entfaltung die Perversion dieser Lust des Lars von Trier nur immer neue, virtuose Gestalt gewinnt. Lars von Trier baut sich mit "The Five Obstructions" ein Spiegelkabinett aus Ambivalenzen, in dem ihm ein ums andere Mal nichts anderes als die eigene Fratze entgegenblickt. Ein Spiel, in dem der Teufel sein Treiben mit teuflischer Lust am eigenen Leiden betrachtet.

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