Michael Kohlhaas - 1

von Ekkehard Knörer

I

Ein klares, wenngleich zweischneidiges Urteil

Heinrich von Kleists Erzählung vom 'Michael Kohlhaas' beruht, wie man so sagt, auf einer wahren Begebenheit. Geschildert wird ein historischer Fall aus dem 16. Jahrhundert. Die Erzählung selbst weist im Untertitel darauf hin: 'Aus einer alten Chronik' heißt es dort. Ganz genau scheint allerdings auch dieser Hinweis nicht, denn in der Erzählung selbst ist einmal von den "Chroniken, aus deren Vergleichung wir Bericht erstatten" die Rede und davon, dass sie an einer "Stelle, auf befremdende Weise, einander widersprechen und aufheben."(99). Das zeigt: die Geschichte erzählt sich nicht von selbst. Die dichterische Freiheit schafft sich ihren Spielraum zwischen Singular und Plural der historischen Quellen.

Die historische Geschichte von Michael (in Wirklichkeit: Hans) Kohlhaas (in Wirklichkeit: Kohlhase) ist ein Rechtsfall, auch, oder vielleicht sogar in erster Linie: ein politischer Fall. Ein Rechtsfall, der zum Politikum wird. Kleist erzählt eine alte Geschichte neu. Nicht einer juristischen Revision wegen, sondern als Literatur. Dennoch scheint Kleists Text, als diese Grenzüberschreitung vom Hirstorischen, Juristischen zum Literarischen (und zurück), die Kraft zu haben, diese Grenzüberschreitung immer neu zu duplizieren. Über kaum einen anderen literarischen Text (und das bleibt er ja wohl) haben so viele Juristen etwas zu sagen gehabt, über kaum eine andere literarische Figur der deutschen Literatur sind so viele verschiedene Urteile gefällt worden.

Kleists Text selbst beginnt und endet mit einem Urteil. Am Anfang spricht der Erzähler, am Ende das Recht. Beider Klingen schneiden scharf und doch sind beide Urteile zweischneidig. Michael Kohlhaas bekommt, am Ende wie am Anfang Recht wie Unrecht. Dazwischen liegt die Geschichte seines Falles, der Worten, Schriften und Taten Michael Kohlhaas' in seinem Rechtsbegehren nachzeichnet. Diese Rechtsgeschichte ist in fortgesetzter Bewegung, geradezu haltlos, hin und her zwischen Überstürzung und Verschleppung. Im Kleistschen Prozess des Erzählens dieses Falles erweisen sich noch die zweischneidigen Verankerungen im Urteil, die an den Anfang und an das Ende gesetzt werden, als Vereinfachungen.

Am Anfang steht, exponierend, ein Urteilsspruch. Nach dem Titel und dem Untertitel spricht eine Stimme:

"An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit."

Ein historisch, geografisch und genealogisch identifiziertes Subjekt wird eingeführt, vorgeführt oder vorgeladen und abgeurteilt. Dieses Urteil aber ist, im besten Sinne, paradox. Das 'zugleich und' des Urteils verbindet, was sich mit der Strenge der Logik genommen ausschließt. Beschrieben wird das Übertreten einer Grenze zwischen Tugend und Laster, die aber nicht zum Umschlag des einen ins andere führt, sondern den Raum eines aporetischen Zugleich eröffnet. Dieser Raum ist es, den die Exposition als Urteil eröffnet, den die Erzählung konsekutiv ausmisst. Der Setzung der ersten Sätze wird die Geschichte des Falles Kohlhaas nachgetragen, als Fallgeschichte eines fortgesetzten Setzens, das seinen Stillstand in einem abschließenden Urteil findet. Urteil und Erzählung stehen vermeintlich in einer Beziehung der Veranschaulichung des einen durch das andere, der Erklärung, vielleicht sogar der Beweisführung. Wie so oft aber erweist sich die veranschaulichende Fabel noch in ihrer Verkleidung als Historie und wahre Begebenheit als Figur, die ihrer rhetorischen Performanz, in diesem Falle also der Veranschaulichung, davonläuft.

II

Jenseits der Grenze

Auch was man Handlung nennt, das Vor-Augen-Führen nun des bereits abgeurteilten Helden, beginnt in Kleists Erzählung mit einer Grenzüberschreitung. Ich zitiere den ersten Satz:

"Er ritt einst, mit einer Koppel junger Pferde, wohlgenährt alle und glänzend, ins Ausland, und überschlug eben, wie er den Gewinst, den er auf den Märkten damit zu machen hoffte, anlegen wolle: teils, nach Art guter Wirte, auf neuen Gewinst, teils aber auch auf den Genuß der Gegenwart: als er an die Elbe kam, und bei einer stattlichen Ritterburg, auf sächsischem Gebiete, einen Schlagbaum traf, den er sonst auf diesem Wege nicht gefunden hatte."

Kohlhaas, der Händler, begibt sich über eine Grenze, von Brandenburg ins sächsische Ausland. Die Setzung dieser Grenze ist selbstverständlich, institutionalisiert und von einer Behinderung der munteren Profitkalkulation kann hier nicht die Rede sein. Die Landesgrenze, die Kohlhaas, wie wir erfahren werden, bereits siebzehn Mal unbehelligt übertreten hat, öffnet die Märkte dem Austausch, der Weg zur Leipziger Messe ist ein durch Wiederholung gebahnter. Der Schlagbaum aber ist neu; das Gesetz, das im Übergang zwischen den landesherrschaftlichen Rechtsräumen unsichtbar geblieben ist, gerät an diesem Schlagbaum ins Sichtbare ebenso wie Kohlhaas' Bewegung ins Stocken kommt. Leipzig wird er im späteren Verlauf belagern und beinahe niederbrennen - hineingelangen wird er nicht. Diese Setzung einer gewissermaßen parasitären Grenze verdoppelt weniger die erste als dass sie die an ihr sich definierenden Rechtsräume in eine heillose Sichtbarkeit stülpt. Diese Räume führt die Erzählung als heterogene, in sich institutionell und personell gespaltene vor. Vor allem werden sie als widerständig inszeniert. Es sind diese Widerständen will und muss Kohlhaas, in seinem Rechtsbegehren, seiner Insistenz, seinem Kampf, der Maß und Ziel verliert zugunsten leerer Dynamik und Aggression, etwas entgegensetzen. Kleist schildert, an dieser Grenze, an der die Frage des Rechts nach recht oder unrecht aufbricht, wie man zum Rechtssubjekt wird; durch Anruf nämlich:

"Er war aber noch kaum unter den Schlagbaum gekommen, als eine neue Stimme schon: halt dort, der Roßkamm! hinter ihm vom Turm erscholl, und er den Burgvogt ein Fenster zuwerfen und zu ihm herabeilen sah."

Der Befehl zum Innehalten erfolgt von höherer Warte, deren Legitimität nicht gesichert ist - der alte Herr ist gerade gestorben -, das behauptete landesherrliche Privilegium aber hat in der 'stattlichen Ritterburg' seine kaum bezweifelbare Evidenz. Kohlhaas spricht beim Burgherrn, Junker Wenzel von Tronka vor - und die Verbindung von Recht, Macht und demütigender Unterwerfung unter das angemaßte Recht der Macht deutet sich im Text bereits an:

"Es traf sich, daß der Junker eben, mit einigen muntern Freunden, beim Becher saß, und, um eines Schwanks willen, ein unendliches Gelächter unter ihnen erscholl, als Kohlhaas, um seine Beschwerde anzubringen, sich ihm näherte."

In diesem Lachen ist die vollkommene Geringschätzung des Pferdehändlers als Untertan bereits zu hören, und sogleich wird er mit seinen Rappen auch der Geschäftsgrundlage verlustig gehen. Die weitere Erzählung beschreibt nichts als den Versuch von Michael Kohlhaas, diesem ersten Akt des Unrechts und der Demütigung etwas entgegenzusetzen. Von einer Instanz nach der anderen wird Kohlhaas dabei zurückgewiesen und die Logik des Insistierens, des entschlossenen Entgegensetzens wird in ihrer Eigengesetzlichkeit vorgeführt, in Verwicklungen, unvorhersehbaren Wendungen in einer Menge, die die Beschreibungskapazitäten des Vortrags überschreitet. Immer geht es für Kohlhaas dabei um Versuche, sich als sprachmächtiges und handlungsmächtiges Subjekt zu restituieren. In den Grenzen des vorgefundenen, sich entgegenstellenden Rechts und dann im Widerstand dagegen. Die Instanzwerdung des Rechtssubjekts ist im lateinischen 'instantia' bereits vorgefasst. Ich zitiere aus dem Wörterbuch:

"instantia 1. das Drängen/Heftigkeit der Rede; emsiger Fleiß - beharrliche Verfolgung (e-r Rechtssache); zuständige Stelle, Instanz"

Wenn die zuständigen Stellen (die ohnehin im Rechtssystem des 16. Jahrhunderts, in den vorgesehenen Verfahren zumindest, nur schriftlich adressierbar sind) sich entziehen, führt Instanz als beharrliche Verfolgung (einer Rechtssache) zur eigenen Instanzwerdung. und wo das Drängen der Rede nicht mehr hilft, in seinen Performanzen hilflos abprallt, ist das Drängen der Tat die notwendige Folge.

Kohlhaas wird von der Geheimschreiberei in Dresden wie dem dort ansässigen Gericht abgewiesen - wobei es, wie Kohlhaas selbst und dem Leser unmissverständlich klar gemacht wird, nicht mit rechten Dingen zugeht -, den Versuch der persönlichen Intervention beim Landesherrn bezahlt seine Frau Lisbeth mit dem Leben. Darauf übernimmt er, wie es lakonisch heißt, "das Geschäft der Rache" (31). "Er setzte sich nieder und verfaßte einen Rechtsschluß, in welchem er den Junker Wenzel von Tronka, kraft der ihm angeborenen Macht, verdammte, die Rappen, die er ihm abgenommen , und auf den Feldern zu Grunde gerichtet, binnen drei Tagen nach Sicht, nach Kohlhaasenbrück zu führen, und in Person in seinen Ställen dick zu füttern." Nach dieser Selbsteinsetzung als Rechtsinstanz schreitet er zur Tat. Er überfällt den Junker Wenzel von Tronka auf seiner Burg:

"Der Engel des Gerichts fährt also vom Himmel herab, und der Junker, der eben, unter vielem Gelächter, dem Troß junger Freunde, der bei ihm war, den Rechtsschluß, den ihm der Roßkamm überreicht hatte, vorlas, hatte nicht sobald dessen Stimme im Schloßhof vernommen: als er den Herren schon, plötzlich leichenbleich: Brüder, rettet euch! zurief, und verschwand." (23)

Kohlhaas setzt sich selbst als Kämpfer, der gegen den Teufel zieht, an die Stelle des Erzengels Michael, zu dem ihn, den historischen Hans, Kleist ernannt hat. Die beschriebene Szene ist als genaue Kontrafaktur (Gegen-Setzung) des ersten Auftritts von Kohlhaas auf der Tronkenburg gearbeitet. Dem vermeintlich nichtigen Akt des Rechtsschlusses wird performativ gehöriger Nachdruck verliehen. Kohlhaas' Stimme, die des Empörers, die nun in umgekehrter Richtung vom Schlosshof empordringt, ist selbst die Stimme der Macht, die dem zuvor verlachten Sprechakt Autorität verleiht. Kohlhaas' (oder Kleists) etwas übertriebener Sinn für Äquivalenzen wird deutlich, als das Schloss niedergebrannt, der Schlossvogt ermordet und der Junker Wenzel von Tronka geflohen ist. Es folgt die triumphale Umkehr der Verhältnisse, die sehr literal zu verstehende Einnahme und Besetzung des Ortes angemaßter Macht:

"Kohlhaas bestieg den Turm der Vogtei, in dessen Inneren sich noch ein Zimmer, zur Bewohnung brauchbar, darbot, und verfaßte ein sogenanntes 'Kohlhaasisches Mandat', worin er das Land aufforderte, dem Junker Wenzel von Tronka, mit dem er in einem gerechten Krieg liege, keinen Vorschub zu tun." (34)

Es ist derselbe Turm, von dem er zuvor angerufen worden war, den er nun in Besitz nimmt, um seinerseits die Stimme einer angemaßten Macht über das ganze Land erschallen zu lassen. Und seine Selbst-Einsetzung ist, zunächst, von Erfolg gekrönt.

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