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Fortsetzung: Der mindfuck als postmodernes Spielfilm-Genre (II)

zu Teil 1

Von  Alexander Geimer

 2 Das postmoderne Genre des mindfuck-films

 

Genres sind Typisierungen, die sowohl von Filmschaffenden als auch Filmzuschauern als orientierungsstiftende Heuristiken zur Klassifikation von Filmen genutzt werden und die zur "Routinisierung und Ritualisierung der Film- und Fernsehkommunikation" (Mikos, 2003: 253) beitragen: Aus dem Wissen um das Genre eines Films, d.h. der Anwendung von im Laufe einer Medienbiografie verinnerlichter "Genre-Schemata" (Schwan, 1995: 35) auf einen bestimmten Film, leiten sich insbesondere Erwartungen an den Inhalt der Narration (vgl. Schwan, 1995), ihre Dramaturgie (vgl. Eder, 2000) und Konventionen des filmischen Erzählens (vgl. Mikos, 2003: 251) ab. Winter spricht in Anlehnung an Goffmans Rahmen-Konzept von Genre-Rahmen, welche "eine Definition der sich auf der Leinwand ereignenden Geschehnisse [offerieren] und auf diese Weise die Erfahrung der Rezipienten [organisieren]" (Winter, 1992: 38). Die Genretheorie der Filmwissenschaft kennt unterschiedliche Verfahren der Klassifikation von Filmen. Tutor unterscheidet beispielsweise vier Methoden, um Filme einem Genre zuzuordnen (vgl. dazu Staiger, 2000: 63): Induktive Bestimmung anhand eines spezifischen Films, deduktives Vorgehen anhand eines Samples, theoretische Festsetzung von Bestimmungsmerkmalen und der Rekurs auf konventionalisierte Zuschauererwartungen. Im Folgenden soll anhand eines Samples entsprechender Filme das postmoderne Genre des mindfuck-Films durch Homologien in Erzählstruktur, Themenschwerpunktsetzung und Heldentypik dargestellt werden (deduktive Methode). Dazu werden auch Zuschauerhaltungen hinzugezogen in der Form von Kritiken (Rekurs auf konventionalisierte Zuschauererwartungen). Anhand der Beobachtung von inhaltlichen und strukturellen Homologien in aktuellen Filmen wird also auf ein typisches Muster geschlossen, welches als postmodernes Genre, die Erwartungen von Zuschauern strukturiert.

Ausgesprochen viele aktuelle Spielfilme thematisieren und problematisieren in ihrer Narration die ‚Identität' ihrer Hauptfiguren. Auch Eder stellt diese "Häufung von Themen […], die mit einer Verunsicherung der Identität zu tun haben" (Eder, 2002: 24) fest. Thomas Elsaesser hat darauf hingewiesen, dass jene ‚Verunsicherung' in vielen neueren Werken radikal gesteigert ist bis zur Auflösung einer einheitlichen, souveränen Identität der Helden und dafür den Begriff vom ‚Post-Mortem-Film' geprägt (vgl. Elsaesser, 2004), da die Figuren gleichsam wie Tote gelöst aus der Ordnung der Realität über die Leinwand wandeln (vgl. auch Elsaesser / Stüttgen, 2005). Die Helden in neueren Großproduktionen sind also überzufällig oft Subjekte, deren ‚Identisch-Sein-mit-sich-selbst' das Produkt eines Traumas und psychotischer Halluzinationen oder der Effekt virtueller Realitäten und der Simulation von Wirklichkeit(en) ist. Vielen der entsprechenden inhaltlich augerichteten neueren Filmen ist aber nicht nur diese Thematisierung und Problematisierung der Identität der Hauptfiguren gemeinsam, sondern zugleich eine besondere Struktur der Narration.

Die Narration regelt, welche Informationen der Zuschauer an welchem Punkt des Films zur Verfügung hat (vgl. Branigan, 1992: 76). Es kann unterschieden werden zwischen der Geschichte, wie sie der Film darstellt, also die "Abfolge der Ereignisse, wie sie in einer bestimmten Auswahl und Anordnung im Film vorliegt" (Eder, 2000: 10) und der Geschichte als im Nachhinein rekonstruierbares Geschehen im Sinne einer "kausal-chronologisch geordnete[n] Folge dargestellter Ereignisse" (Eder, 2000: 10). Ersteres wird unter dem Begriff Sujet geführt, letzteres Fabula genannt. Die typische Struktur des Sujets populärer Filme soll eine möglichst einfache Rekonstruierbarkeit der Fabula ermöglichen, weshalb sich im Laufe der Zeit ein "kanonisches Story-Schema" (Eder, 2000: 26) herausgebildet hat, dem viele populäre Geschichten (nicht nur solche im Film) folgen. Diese typische Struktur besteht aus dem Schema "Exposition-Konflikt-Auflösung" (Eder, 2000: 36). Die Filmprotagonisten begegnen, nach ihrer Vorstellung und der Einführung in Ort und Zeit des Geschehens (Exposition), mindestens einem Problem, das zu lösen ist (Konflikt), was sie schließlich - zumeist unter Aufbietung trickreicher Mittel und dem Einsatz aller Kräfte - auch schaffen (Auflösung).

In neueren Filmen mit Bezug zur Identitätsthematik ist die ‚Auflösung' allerdings keine ‚Problemlösung', vielmehr wird die bisher erzählte Geschichte (Exposition und Konflikt) ‚aufgelöst' in einem anderen Sinne, jenem der Dekonstruktion: Exposition und Konflikt erweisen sich als Ablenkung von dem eigentlichen Problem, als eine Sinnverschiebung, welche in der verzerrten Wahrnehmung der Hauptfigur begründet ist ? vgl. z.B.:

JACOBS LADDER, USA 1990 / FIGHT CLUB, USA, GER 1999 / THE SIXTH SENSE, USA 1999 / MEMENTO, USA 2000 / CHASING SLEEP, USA, CAN, F 2000 / THE OTHERS, F, SP, USA 2001 / MULHOLAND DRIVE, USA, F 2001 / DONNIE DARKO, USA 2001 / SESSION 9, USA 2001 / SPIDER, F, Kanada, GB 2002 / CYPHER, USA 2002 / THE MACHINIST, SP, USA 2003 / THE I INSIDE, UK, USA 2003 / IDENTITY, USA 2003 / DEDALUS, F 2003 / HIGH TENSION, F 2003 / A TALE OF TWO SISTERS, SK 2003 / SECRET WINDOW, USA 2004 / THE DEAD WILL TELL, USA 2004 / ONE POINT ZERO, USA, RUM, IS 2004 / NOVEMBER, USA 2004 / THE JACKET, US, GER 2005 / HIDE AND SEEK, USA 2005 / STAY, USA 2005 / THE DARK HOURS, CAN 2005.

So glaubt ein Versicherungsangestellter in FIGHT CLUB, erst Freund und dann Feind des Anführers einer weltumspannenden Untergrundorganisation zu sein, der er aber eigentlich selbst ist. Die bereits toten und dies verdrängenden oder gerade sterbenden und dabei sich in ein anderes Leben halluzinierenden Hauptfiguren in JACOB'S LADDER, THE SIXTH SENSE, THE OTHERS, THE I INSIDE, DONNIE DARKO, NOVEMBER, THE JACKET, STAY halten sich bis zum Ende der Geschichte für lebendig und ‚normal'. In A TALE OF TWO SISTERS und IDENTITY entpuppt sich die Geschichte als Imagination der Hauptfigur und die handlungstragenden Helden kommen lediglich durch die wahnhafte Vorstellungswelt der Hauptfigur zustande. Die Helden in SECRET WINDOW, SESSION 9, CHASING SLEEP, HIGH TENSION, DEDALUS, HIDE AND SEEK und THE DARK HOURS fliehen vor bzw. suchen einen Mörder, der sie selbst sind. Und die Hauptfiguren in SPIDER und THE MACHINIST folgen den Spuren eines Verbrechens bzw. Komplotts, das nie begangen wurde und das sie sich konstruiert haben, um sich über sich selbst und ihre Biografie hinwegzutäuschen.

Das Sujet kommt in all diesen Filmen seiner Aufgabe der Wissensvermittlung in höchstem Maße ‚unzuverlässig' nach und steht in einem krassen Missverhältnis zu dem was eigentlich passiert (Fabula). Dieses Missverhältnis beruht auf Auslassungen des ‚wirklichen' Geschehens im Sujet, einer zeitlicher Non-Linearität des Gezeigten (Flashbacks, Antizipationen) und vor allem: der Präsentation der Narration aus der verzerrten Perspektive des Helden. Dies führt dazu, dass der Zuschauer Zusammenhänge konstruiert, welche sich erst am Ende, wenn die ganze Geschichte rekonstruierbar wird, als falsch herausstellen. Die Narrationsstruktur des Films (Sujet) ist also aus der Perspektive der ‚Wirklichkeit' im Film (Fabula) infolge ihrer Orientierung an den Verwirrungen ihrer Hauptfigur ‚dysfunktional' für den Zuschauer und bildet nicht das tatsächliche Geschehen ab. Das eigentliche Problem - die verzerrende Wahrnehmung des Helden - wird zunächst nicht geschildert, stattdessen entwickeln sich mit dem Konflikt und seiner scheinbaren Lösung Fragen, die das Erkennen des eigentlichen Problems - der Identität des Helden - verunmöglichen. Mit anderen Worten: Der Zuschauer hat durch die Struktur des Sujets an der imaginierten bzw. simulierten Realität des Helden, seinen Wahnvorstellungen und Halluzinationen oder Träumen ohne dies zu wissen teil.

Die Auflösung dieser ‚Täuschung' am Ende des Films wird oft mittels eines Rückblicks gegeben, der nicht nur die Funktion hat, dem Zuschauer die eigentliche Geschichte zu erklären und das tatsächliche Handeln der Hauptfiguren zu zeigen, sondern zugleich auch die plötzliche Einsicht des Helden in seine verzerrte Wahrnehmung und sein eigentliches Handeln darstellt, (so z.B. die Wiederkehr des ‚verdrängten' Mordes in SESSION 9, HIDE AND SEEK, THE SECRET WINDOW, SPIDER, THE MACHNIST, CHASING SLEEP oder des ‚verdrängten' eigenen Todes in SIXTH SENSE, THE OTHERS, THE I INSIDE, THE JACKET, THE DEAD WILL TELL, STAY). Dieser unverzerrte Blick auf die ‚Eigentlichkeit' des Geschehens kommt stets überfallartig über den Helden sowie den Zuschauer, der also schlagartig eine völlig neue Perspektive auf das Gesehene und als bisher konstruierte ‚Filmgeschichte' einzunehmen hat. Der Filmkritiker Höltgen sieht in Werken der geschilderten Machart gar eine "Neudefinition des Thrillers als Genre der Introspektion" (Höltgen, 2005 vgl. auch Höltgen 2003) heraufziehen:

   "Reale Angst- und Spannungssituationen werden […] zu    ‚sinnbildlichen' Psychogrammen. Dabei geraten Handlungselemente    oder sogar komplette Erzählungen zu Introspektionen, die dem    Zuschauer die teilweise psychotischen Weltzugänge und    Realitätsauffassungen der betreffenden Protagonisten vor Augen    führen sollen" (Höltgen, 2005).

Auch Höltgen stellt fest, dass die Täuschung des Zuschauers "zumeist mit einem finalen Plot-Twist verbunden ist, in welchem das zuvor gezeigte als Traum oder Imagination entlarvt wird" (Höltgen, 2005). Unter Kritikern und Fans hat sich als Label für derartige Filme (mit dem Merkmal der Täuschung des Zuschauers in Kombination mit der Problematisierung der Identität der Hauptfiguren) jüngst der Begriff ‚mindfuck' etabliert.1 Die Definition eines interessierten Laien in einem amerikanischen Mindfuck-Online-Diskussionsforum über die Eigenschaften von ‚mindfucks' sowie diesbezügliche Neuigkeiten auf dem Filmmarkt, lautet folgendermaßen:

 "The protagonist has identity doubts. - She/he does not know who he  is or who he's supposed to be.
  The protagonist has reality doubts. - She/he doubts the reality of the  world she/he lives in or she/he questions certain aspects of the world  she/he lives in.
   Plot twists. - The whole story is turned upside down by a major plot  twist which is often made in the end of the movie"
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Der amerikanische Filmwissenschaftler und Drehbuchautor Jonathan Eig greift in seinem Aufsatz über "hollywood structures of identity" (2003) die Kategorie des ‚mindfuck' auf und sucht eine professionell filmwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den entsprechenden Werken. Wie auch die Kritiker und Fans attestiert er dabei dem mindfuck-Film jene spezifische, bisher in der Filmgeschichte noch nicht da gewesene, Struktur:

   "Narrative surprises about the identity of major characters are not    new in Hollywood film. But three characteristics distinguish movies    like The Sixth Sense, Fight Club, Memento, Mulholland Drive, and    Donnie Darko from past, more typical, Hollywood identity-surprises.    First, in these films the character with the surprise invariably is the    protagonist, as opposed to a supporting character who affects a more    "normal" hero. The next two characteristics work in tandem. The hero   in question does not know the true nature of his identity and so is not    simply keeping a secret from us. And the audience does not know the    backstory either. We are not let in on a secret the hero does not know.    […] In critical circles, these movies have developed a trendy name:    mindfucks" (Eig, 2003).

Das wohl bekannteste Exemplar, welches den ‚mindfuck'-Merkmalen gerecht wird, ist der mittlerweile als Klassiker kanonisierte FIGHT CLUB (USA 1999). Hier wird das Prinzip des mindfuck auch versprachlicht, wenn der Erzähler in dem Moment der Aufklärung der Spaltung der Identität der Hauptfigur in zwei Figuren, welche bisher als eigenständige Charaktere dargestellt wurden, feststellt:

   "It's called a changeover. The movie goes on, and nobody in the    audience has any idea."

Der Widerspruch zwischen der Tagline des Genre-Vertreters THE I INSIDE und dessen Handlung bringt die Differenz zwischen dem ‚mindfuck' und anderen Filmen zur Identitätsthematik deutlich zum Ausdruck: "When you don't have a memory how can you remember who to trust" (vgl. imdb.com). Die Person, welcher der Protagonist in THE I INSIDE nicht trauen sollte, ist (ähnlich wie schon in MEMENTO) er selbst.

Eine Szene in NOVEMBER kurz vor der Schlüsselszene, in der die Heldin tödlich verwundet wird, was die Halluzination der Sterbenden auslöst (die der Zuschauer im Laufe des Films zusammen mit der Heldin bis zu ihrem Tod durchlebt) verdeutlicht, dass sich der mindfuck selbst als postmoderne Erscheinung zu verstehen gibt: Die Heldin blättert in der Zeitschrift "New Times", welche den Titel trägt: "Is modernism dead?". Dass später im Film Buñuels berühmter Schnitt durchs Auge stilisiert in Szene gesetzt wird, ist im Kontext dieser Frage zu sehen: Es wird gewissermaßen visualisiert, dass die moderne Avantgarde die Postmoderne vorwegnahm - oder wie Lyotard formulierte: mit ihr schwanger ging (vgl. Lyotard, 1994 [1986]: 205).3

Der Unterschied zu Filmen, in denen ebenfalls das Thema Identität auch in Bezug auf die Funktion von Traumata, Simulationen und fantasierten Wirklichkeiten abgehandelt wird - was schon immer Suspense-Thrillern oder Detektivgeschichten nach dem ‚Whodunit'-Prinzip als spannungsteigerndes Element diente (z.B. Hitchkocks VERTIGO, USA 1956 oder SPELLBOUND, USA 1945) - ist deutlich: Sowohl Scottie Ferguson (James Stewart in VERTIGO) als auch Dr. Edwards (Gregory Peck in SPELLBOUND) wissen schon zu Beginn oder rasch um ihren traumatisierten Zustand bescheid - ebenso der Zuschauer, der an einem detektivischen Verwirrspiel um die Entdeckung der wahren Identitäten teilhat. Der Zuschauer ist mit diesem ‚Verwirrspiel', das sich durch die Geschichte des Kinofilms zieht, bestens vertraut (- aktuelle Beispiele sind etwa THE TRUMAN SHOW, USA 1998 / THE BOURNE IDENTITY, USA 2002 / ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND, USA 2004 / THE FORGOTTEN, USA 2004 / THE ISLAND, USA 2005). Neu bzw. anders im mindfuck-Film ist hingegen, dass der Zuschauer der Täuschung bis zum ‚ent-täuschenden' Ende aufsitzen muss, da die Erzählstruktur die Identität des Helden und dessen Perspektive auf den Gegenstand der Erzählung nicht oder kaum infrage stellt und erst am Schluss unvermittelt Aufschluss gibt. Der Zuschauer konstruiert also ein ‚falsches' Modell der Handlung, identifiziert sich mit oder positioniert sich gegenüber einem Helden, der sich als ein völlig anderer herausstellt. Ent-täuschend ist am Ende auch, dass zwar das bisher Gesehene als eigentlich ganz anders dargestellt wird, zumeist nicht jedoch eindeutig aufgelöst wird, was ‚wirklich wirklich' ist, und was also den Helden letztendlich zu seiner inadäquaten Wahrnehmung, welcher der Zuschauer aufgesessen ist, veranlasst hat. Diese Interpretationsleistung im Umgang mit einem offenen Ende fordert der ‚mindfuck'-Film vom Zuschauer.

 

zu Teil 3

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1 Vgl. die Internetforen ‚Mindfuck Movie Board' oder ‚Class Real'.
2 Definition des Forum-Mitglied YKL vom 8.2.2005.
3 Entsprechend hat bereits Eig darauf hingewiesen, dass der mindfuck dem Surrealismus viel verdankt: "From the avant-garde Un Chien Andalou and the "is it real?" documentary Land Without Bread early in his career, right up until the final shot of The Discreet Charm of the Bourgeoisie and the double female lead in That Obscure Object of Desire, Buñuel played with our perceptions of his characters, simultaneously involving us in fictional lives and reminding us that what we are seeing is flickering light in the image of actors-a representation of a representation" (Eig, 2003).

copyright Alexander Geimer

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