Theater Corner: Rabih Mroués: Biokraphia (HAU 1, Berlin, Juni 2004)

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Theater Corner
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Rabih Mroués: Biokraphia (HAU 1, Berlin, Juni 2004)

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Rabih Mroués: Biokraphia (HAU 1, Berlin, Juni 2004)
Kritik von Ekkehard Knörer

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Das Ausscheiden der deutschen Mannschaft fand für mich in arabischer Sprache statt. Im Foyer des HAU 3, eher lustlos gefüllt, stehen, rauchen, sitzen junge Menschen und verfolgen, oder auch nicht, das Geschehen auf dem Bildschirm des Fernsehers, der da in der Ecke steht, nicht das Zentrum des Raums, aber auch nicht verschämt platziert. Wer es sehen will, der sehe. Als ich aufbrach von zuhause, mit dem Rad, ich war überrascht, wie kühl es geworden war, stand es einszunull für Deutschland, sehr schönes Tor von Ballack. M. hatte angerufen, vorher noch, er sei jetzt früher fertig und die üblichen Verdächtigen würden sich versammeln, um Fußball zu sehen. Tut mir Leid, sagte ich, aber ich muss ins Theater, Karte gekauft, vor längerem schon, Terminüberschneidungen nicht abzusehen. Und, übrigens, ich hätte noch eine Karte übrig, S. macht eine Reise nach Petuschki. M. wollte lieber Fußball sehen.

Im Foyer die Menschen, der Fernseher, recht still ist es, man hört den Kommentator (es war einer der beiden furchtbaren, natürlich, Kernerbeckmann, will, kann das gar nicht mehr unterscheiden; Bela Rethy, der ist ok, wirklich), es steht inzwischen einszuseins, aha, die Vorstellung verzögert sich um zehn Minuten. Nicht wegen Fußball, sagt ein mitteljunger Mensch mit Brille, der unbestimmt zuständig scheint, es kommen noch Leute vom HAU 1 rüber. Pause, einseins, Neuankömmlinge sind nicht zu bemerken, Tür auf, hinein in den Saal, ein Stuhl auf noch abgedunkelter Bühne, mit einem weißen Bademantel darüber. In der Mitte platziert: ein Tischchen mit etwas darauf, ein Mikro davor. Eine merkwürdige Rahmenkonstruktion, ein Fenster, aber mitten im Zimmer, metallen umrandet, ein Vorhang, dunkelrot und dunkelblau, scheint jedenfalls so, im Dunkeln, Halbdunkeln der Vorbeginnstimmung. Türen dann zu, gar nicht voll, durch den Vorhang, der aber auch nur mitten im Raum die Szene gibt, sich nicht fortsetzt zu den Seiten hin, tritt Lina Saneh.

Spot an. Spot auf das Tischschen, auf dem, nun zu erkennen, ein Kassettenrekorder steht. Die Frau, in weiß, nimmt eine Kassette, steckt sie in das Gerät, klappt zu, drückt den Knopf. Es beginnt ein Interview, alles in arabischer Sprache, ich eile den Übertiteln hinterher. Die Stimme auf dem Band fragt, Lina Saneh antwortet. Immer rascher, immer inquisitorischer. Biografisches, der Titel des Abends "Biokraphia" setzt sich zusammen aus "bios", erklärt Saneh, der Frau, die fragt, mit ihrer Stimme, vom Band. Und "kraphia" heiße Scheiße. Scheißlebensbeschreibung. Verantwortlich zeichnet Rabih Mroués. Das Band fragt. Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit. Theater im Libanon, ist das, was du machst Theater. Spielst du eine Rolle. Verrätst du nicht deine Heimat, bis du nicht in Paris ausgebildet. Scheißselberlebensbefragung. Fragen zur Kunst, dann Fragen intimerer Art. Wie oft schläfst Du mit deinem Mann? Es geht dich nichts an. Welche Stellungen bevorzugst du. Es geht dich nichts an. Dann füllt sich die Scheibe des Rahmens in der Mitte des Raums. Milchiges Wasser, das Gesicht von Lina Saneh verschwindet, wird ersetzt durch eine schattenhafte Projektion auf der Milchglasscheibe. Die Fragen gehen weiter, die Antworten auch. Jetzt aber beides vom Band, Saneh setzt sich auf den Stuhl, zieht den Bademantel über.

Dann lässt sie das milchige Wasser ab, füllt es in kleine Fläschchen. Der Spot nun etwas unangenehm auf das Publikum, das stutzt. Schon vorbei? Keine dreißig Minuten vergangen. Saneh packt die Fläschchen, auf denen ihr Gesicht zu sehen ist, auf ein Tablett, baut einen Sitz auf vor dem Ausgang, hängt ein Schild davor: meine Seele zu verkaufen, 55 Euro pro Fläschchen. Das Publikum ist verwirrt, Fragen, Repliken nun von arabisch sprechenden Besuchern. Einer legt einen Euro hin, nimmt eine Flasche, die Schauspielerin wirkt irritiert, sagt aber nichts. Andere gehen, ohne zu zahlen. Eine Frau gibt immerhin fünf Euro. Sie kommt bald darauf zurück und sagt etwas wie: astreines Zeug. Ich schwebe, sagt sie. Es beginnt nach Ouzo zu riechen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich weiß nicht, ob die Vorstellung vorbei ist oder ob ich bis zum Schluss bleiben muss, um bis zum Schluss geblieben zu sein. Vorbei ist, denke ich kurz, wenn alle gegangen sind. Dann dämmert mir, dass ja kaum Zeit vergangen ist, dass draußen noch Fußball sein müsste.

Ich eile nach draußen, ins Foyer, Tatsache, sie spielen noch, einszuzwei. Dreinull im anderen Spiel. Ich muss lachen. Gesten ostentativen Jubels bei anderen Besuchern. Ich bleibe bis kurz vor Schluss, dann fahre ich nach Hause, will hören, was alle zu sagen haben. S. ist zurück aus Petuschki. Sehe zuhause die Chancen der zweiten Halbzeit. Was passierte, während ich arabisches Theater sah. Falls es Theater war. Milchglasselberlebensscheißbefragung. Deppen Europas. Ich muss nochmal lachen.

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