Thursday, January 18, 2007

Ernst Weiß: Der Augenzeuge

Ein Mann legt Rechenschaft ab, vor sich und der Welt. Er sieht sein Leben zugespitzt auf ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. Das sagt er zu Beginn und kommt erst im chronologischen Lauf des Erzählens darauf zurück. Es gibt Gravitationskräfte in diesem Buch, Erschütterungswellen, die es durchziehen, manchmal sind sie heftig zu spüren, manchmal vibriert es nur leicht. Vielleicht ist die Rekonstruktion, die der Ich-Erzähler, vom Ende her, vornimmt, nicht einmal zutreffend. Vielleicht gibt es gar kein Zentrum, sondern nur ein Feld, das sich im Rückblick homogenisiert. Im Rückblick erst nähme dann das Ereignis des Jahres 1918 die Bedeutung und Schicksalhaftigkeit an, die es am Ende, im Jahre 1936 haben wird. Dies Ereignis ist die Begegnung des Ich-Erzählers, der Arzt ist, mit dem Gefreiten A.H., der ihm als Patient entgegentritt. Er ist blind und er ist schlaflos, beides Symptome eines hysterischen Syndroms. Der Ich-Erzähler wird A.H. heilen, von der Blindheit, indem er an seine Willensstärke appelliert, indem er den Kranken sich unterwirft und zur Selbstheilung zwingt. Und doch ist A.H., natürlich, unheilbar. Er bleibt schlaflos. Er kommt zu sich selbst in der Aufpeitschung der Massen, die ihm sich, um die Peitsche bettelnd, unterwerfen. Und doch ist auch das nicht so einfach. Es gibt grandiose Szenen, in denen A.H.s Reden beschrieben sind, und es geraten diese Szenen in Resonanz zu anderen Momenten im Leben des Erzählers, in denen er Zeuge seiner eigenen Entmenschung wird. Es ist dieser Punkt, um den der Roman kreist, es ist dies dann wohl doch das eigentliche Zentrum: Wie der Mensch sich dem konfrontiert sieht, was hier behelfsweise auch "Unterseele" heißt. Es erlebt der Ich-Erzähler im Krieg sich als Berauschten, der töten will, voranstürmen, den Gegner, der ihm kein Mensch ist, sondern nur das zu Vernichtende, vernichten: "Man muss ihm mit einem geschickten Stoß an der richtigen Stelle das Bajonett zwischen die Rippen gebohrt haben, man muss ihn in seiner fremden kehligen Sprache aufheulen gehört haben, ihn erblassen gesehen haben und wie er seine Augen mit dem riesigen gelblichen Weiß um die Pupillen hin und her wälzte, wie er nach vorne griff, wie seine Hände sich blutig schnitten im Bemühen, das Bajonett aus der Wunde zu ziehen, während ich es in der Wunde mit Mühe umdrehte und tiefer in seinen Körper eindrang, damit schon alles schnell zu Ende sei, er erledigt und ich weiter zu andern –" Man muss das erlebt haben, denn vermitteln lässt es sich nicht: "Man kann nicht die Worte in einem stillen Zimmer niederschreiben, und ein anderer, in einem anderen stillen Zimmer, für sich allein, die Zigarre im Mund, den Hund zu seinen Füßen, soll dies begreifen und dann wissen, wie einem dabei zumute ist." Dies Buch ist, als Unternehmen der Selbstaufklärung, also zum Scheitern verurteilt. Es vermittelt nur den Schatten eines Eindrucks, als der Sprache, die das Erlebte verrät, anheimgegebenes Leben. Das ist eine Aporie, aber dies Buch trägt sie aus. Und es sucht eine Position, eine Stelle, von der aus sich das beobachten lässt. Der Titel spricht von dieser Position. Der Ich-Erzähler ist ein "Augenzeuge", aber das Zeugnis des Auges ist nicht verlässlicher als das Zeugnis der Vernunft und das Zeugnis der Sprache. Der Augenzeuge seiner selbst, der Augenzeuge der Blindheit des Gefreiten A.H., der Augenzeuge einer Weltgeschichte, die dem Abgrund zusteuert, er zeugt zuletzt vom Versagen der Augenzeugenschaft. (Und was ist zuletzt – im Aufbruch in den Spanischen Bürgerkrieg – der willentliche Übergang zur Tat? Ein Akt der Verzweiflung, aber in der Verzweiflung: ein Akt?)

Dem Buch ist schwer beizukommen. Es verweigert jene Schärfe der Trennungen, die Klarheit schaffen könnte. Von Anfang an eine Dopplung, zwei Ärzte im Heimatort des Erzählers, beide heißen Kaiser. Der eine ist der Judenkaiser, er wird den Jungen heilen, der vom Pferd getreten wird. Seine Tochter begehrt der Erzähler, später wird er sie heiraten, obgleich er der Mutter am Totenbett verspricht, niemals eine Jüdin als Braut in Erwägung zu ziehen. Der andere Kaiser, Geheimrat, später geadelt, ein Nervenarzt, wird zum Lehrer, Vorbild, Ersatzvater. Helmut, der Sohn, wird früher Freund und später, als hochrangiges SA-Mitglied, Retter im Tausch gegen den von der Frau, der Tochter des Judenkaisers, ausgeführten Verrat. (Sie rückt die Zeugnisse heraus, die Aufzeichnungen, die die hysterische Blindheit A.H.s beweisen.) In dieser Weise ist alles ineinander verstrickt in diesem Roman. Nichts ist nur Zeichen und Kürzel. Keiner kommt mit heiler Haut davon. Die Unterseele ist keinem fremd. Hoch kompliziert das Verhältnis zu Vater und Mutter. Der Vater stürzt tief. Die Mutter, die der Erzähler innig liebt, wird betrogen und lastet nun dem Erzähler diesen Betrug an. Es kommt zu Entfremdungen, zu einem Leiden, das die Beziehungen in diesem Buch immer wieder befällt. Nicht zu trennen sind – und damit haben auf ganz schwer zu beschreibende Weise diese Leiden zu tun – das Private und die Weltgeschichte. Das eine steht überhaupt nicht für das andere. Es geht mitnichten ums Exemplarische. Auch hier wieder dunkle Kanäle, Erschütterungen, die durch die Zeit und das Leben vibrieren, zentrumslos. "Der Augenzeuge" ist ein Zeitroman, aber nicht die Zeit ist das eigentliche Medium der Erzählung, sondern eine Kraft, von der die Sprache nur ahnungsweise Zeugnis ablegen kann. Dies macht der Roman spüren. Was immer darin geschieht, was immer sich darin schicksalhaft zuträgt, verweist, dunkel, aber mit ungeheurer Feinheit, auf diese Kraft, die behelfsweise im Roman "das Zermalmende" heißt. Aber das ist, wie die "Unterseele", nur ein Wort. Recht eigentlich ist "Der Augenzeuge" also ein Roman über die unerkennbare Kehrseite dessen, was er bezeugen kann. Ein Bericht, "nüchtern und klar, schmucklos und möglichst wahrheitsgetreu", der aber eine Ahnung in sich bewahrt von der fürs Zeugnis nicht greifbaren Wahrheit, deren sichtbarer Effekt das Schicksal ist, die Zeit, das Zerwürfnis, der Rausch, die Lust am Leiden und am Zufügen des Leides. Das ist nicht die Verfertigung eines Mythos, also Produktion einer Erklärung, gar Behauptung einer Kette von Ursache und Wirkung. Vielmehr scheint es darum zu gehen, die Wirkungen in äußerster Präzision, ja Nüchternheit und Klarheit, ja Schmucklosigkeit und Wahrheitstreue zu analysieren, zugänglich zu machen, zu bezeugen. Damit ist die Wahrheit, die zu sagen ist, gesagt. Das in der Wahrheit Unsagbare ist nicht numinos, es ist auch nicht im platten Sinn des Wortes verborgen, es ist nur je und je die Grenze, an der der Spaten des Erklärens und des Beschreibens umbiegt. Ernst Weiß erklärt, beschreibt, bezeugt, aber was dies Buch groß macht, ist, dass man die Erschütterungen dieses Umbiegens spürt, heftig manchmal, leise vibrierend an anderen Stellen.

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