Sunday, November 05, 2006

Adalbert Stifter: Brigitta

Schauplatz ist Ungarn und dort erst einmal die Steppe. Aber was ist zu sehen: "feierliche Öde", der reine Horizont als "der feine Ring, in dem sich Himmel und Erde küßten". Links die Karpaten, rechts die Steppe, dazwischen Nichts. Ein Ort fürs Leben, ein Ort fürs Schließen eines Bundes, ein Ort fürs Verweilen des Erzählers, fürs Erzählen also ist das nicht. "Das Auge begann zu erliegen" vom vielen Nichts. Hinein in diese Steppe gehört, als einer der auch "Männer bethörte", auf Frauen aber "wahrhaft sinnverwirrend" wirkte, ein Major. Und vor die Steppe, als Überlegung ins Allgemeine hinein, gehört "ein unermeßlicher Abgrund, in dem Gott und die Geister wandeln". Es ist der Abgrund der Unlesbarkeit, das gewisse Etwas der Ununterscheidbarkeit von "schön" und "hässlich". Das Herz fühlt, wir aber wissen nicht warum. So steht der Text "Brigitta", der mit "1. Steppenwanderung" beginnt, im Zeichen der Desorientierung. Es muss, wie stets noch bei Stifter, eine Ordnung hergestellt werden, durchs Erzählen.

Erzählordnung: "Ehe ich entwickle, wie wir nach Marosheli geritten sind, wie ich Brigitta kennengelernt habe, und wie ich noch recht oft auf ihrem Gute gewesen bin, ist es nöthig, daß ich einen Theil ihres früheren Lebens erzähle, ohne den das Folgende nicht verständlich wäre. Wie ich zu so tief gehender Kenntniß der Zustände, die hier geschildert werden, gelangen konnte, wird sich aus meinen Verhältnissen zu dem Major und zu Brigitta ergeben, und am Ende dieser Geschichte von selbst klar werden, ohne daß ich nöthig hätte, vor der Zeit zu enthüllen, was ich auch nicht vor der Zeit, sondern durch die natürliche Entwicklung der Dinge erfuhr." Dass einer, der Erzähler, nicht verrät, was er weiß, verrät er uns und gräbt sich ein in die Steppe und blickt zurück, auf dass "vor der Zeit" sich nichts offenbare. Im Kleinen hatten wir das schon unter Punkt 1, denn da begegnet er, auf dem Weg zum "Steppenhaus", einer Frau, von der wir wohl ahnen, aber noch nicht mit Gewissheit sagen dürfen: sie ist die Titelheldin "Brigitta". Sie verbirgt sich noch, sie trägt Kleider und reitet "wie ein Mann". (Ein bisschen seltsam ist uns hier schon zumute: Eine Frau als Mann, ein Mann, der Männer betört? Eine Geschichte, die wie ein Pferd von hinten aufgezäumt wird.) Unter Punkt "3. Steppenvergangenheit" gibt sich der Erzähler dumm. Die Pointe der Erzählung bleibt aufgeschoben bis wir zu Punkt "4. Steppengegenwart" gelangen. (Erzählgegenwart ist immer, aber in der schaltet und waltet selbstherrlich der Erzähler mit "vor der Zeit" und "natürlicher Entwicklung".) Freilich liegt ja Punkt "2. Steppenhaus" noch mittenmang. Darauf ist zurückzukommen.

In der Steppe nämlich das Haus. Schloß und Garten des Majors. Ein großer landwirtschaftlicher Betrieb. Ja, eine große landwirtschaftliche Betriebsorganisation. Vier Musterhöfe. Ein Bund. Alles in Nachahmung einer Vorreiterin. (Die wie ein Mann zu Pferde sitzt. Später erweist sie sich als eine, die sich früher Kleid und Kopfputz selber machte.) Brigitta. Ihr Anwesen: "und in der That, ich bekam immer mehr Ursache, mich zu verwundern. Wie wir höher kamen, öffnete sich zusehends das Thal hinter uns, ein ganzer ungeheurer Gartenwald lief von dem Schlosse in die Berge hinein, die hinter ihm begannen." Der Gartenwald wiederholt sich, auf dem Nachahmerschloss des Majors, der "Männer bethörte". Dazwischen aber liegt die "Wüste", ein "Steinfeld" und der Erzähler wähnt sich auf dem Weg, auf dem er kam: "sinnverwirrend". Das Gut Brigittas aber ist wie "eine Fabel" in der Wüste. Eine Fata Morgana, darinnen die androgyne Fee Brigitta. Von einem Gitter ist nicht die Rede. Die Weinberge gehen über in die Steinwüste, wie unvermerkt. Anders das Nachahmerschloss – eine Mauer, ein Gitter, ein Abschluss. Dazwischen liegt der Galgen als Ort des Außen. Hier bricht das Wilde aus, das Verdrängte, was auch immer. Die Wölfe jedenfalls, buchstäblich, hier tauchen sie auf wie aus dem Nichts. Wofür stehen die Wölfe? Die Leidenschaft, die Todesnähe, whatever. Wir sind in Ungarn und die Wildniß ist nie fern, auch wenn eine/r "auf dem Steinfelde fast Wunder" wirkt. Der Abgrund bleibt und droht und aus dem Abgrund, in dem "Gott und die Geister wandeln", brechen die Wölfe.

Aber similia similibus curantur. Die leidenschaftliche Liebe, zur Freundschaft künstlich gehegt, findet zur gehegten Leidenschaft der Ehe (zurück) am Einbruch von Ereignissen. Die Todeskrankheit Brigittas war nicht genug. Die Lebensgefahr des Sohnes Gustav aber reicht hin. Brigitta und der Major, der sich aber als ihr Ehemann und als Träger des Namens Stephan Murai erwiesen haben wird – nun eilen wir aber vor und zurück zugleich zu Punkt "3. Steppenvergangenheit" –, finden zueinander in die Hegnis der Verbindung, die sie aus eigener Schuld einst wenn nicht lösten, so doch ins Weiter einer scheinbaren Verbindungslosigkeit dehnten. Es handelt sich um eine Art Tragikomödie der Wiederverheiratung, an Eduard und Charlotte darf man denken – aber hier geht alles gut aus. Die Ottilie, die hier im Spiel war, als Schönheit und Wildheit (gegen Augenglut und Hässlichkeit Brigittas) wird nämlich, als Siegel und Ende dieser Geschichte, lässig entsorgt: "Ich sah auf dem Rückwege Gabrielens Grabmal, die schon vor zwölf Jahren im Gipfel ihrer jugendlichen Schönheit gestorben war." Kurz gesagt: "Die Welt stand wieder offen."

Und Punkt "3. Steppenvergangenheit" lässt sich vielleicht wie folgt zusammenfassen: "Es ging die Zeit mit rosenfarbnen Flügeln, und in ihr das Geschick mit seinen dunklen Schwingen." Der Rest ist Buchstäblichkeit.

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