| Die Erfolge, die der Regisseur Hayao Miyazaki mit Prinzessin
		    Mononoke und dem im Wettbewerb der Berlinale gezeigten Spirited Away
		    in Japan feierte, sind ohne Beispiel. Keine Frage: eine Kultur, in der der
		    Manga (die japanische Version des Comic) eine so dominierende Rolle spielt,
		    ist eher bereit, den Animationsfilm als seriöse Kunstform zu akzeptieren.
		    Und obwohl Miyazakis Filme durchaus als Kinderfilme konzipiert sind, obwohl
		    die Kinder sie auch wirklich lieben, ist der Erfolg quer durch alle
		    Publikumsschichten riesengroß. Spirited Away hat mit sagenhaften 19
		    Millionen Besuchern den bisherigen Rekordhalter Titanic locker
		    abgehängt, zuvor war Prinzessin Mononoke bereits zum erfolgreichsten
		    japanischen Film aller Zeiten avanciert. Der oft gehörte Vergleich Miyazakis
		    und des von ihm gegründeten Animationsfilmstudios Ghibli mit Disney
		    ist, des Mediums und der Erfolge wegen, nahe liegend. Die ästhetischen
		    Unterschiede sind jedoch beträchtlich. 
		    Während Disney im Prinzip Musicals dreht und immer dann in
		    Schwierigkeiten gerät, wenn es etwas ernster zugehen soll (siehe zuletzt
		    den Flop Atlantis), sind Miyazakis Werke stets Spielfilme ohne
		    musikalische Auszeiten. Zudem geht es ihm nie um die Verfilmung existierender
		    Legenden, Mythen und Märchen; jeder seiner Filme spielt, trotz zahlreicher
		    Anspielungen und Bezugnahmen, in einer stets neu geschaffenen Welt, einem
		    Kosmos für sich, oder wenigstens einem Nebenkosmos, der durch
		    unzählige Motive mit dem Gesamtkosmos Miyazaki in Verbindung steht.
		    Prinzessin Mononoke war ein Epos aus grauer Vorzeit, spielte in einer
		    von Göttern und Zauberwesen bevölkerten Welt und thematisierte
		    sehr aktuelle Probleme (wie Umweltzerstörung) im Umfeld einer fantastischen
		    Welt von ungeheurem Detailreichtum. Verblüffend daran vor allem der
		    Verzicht auf eindeutige Moral und die klare Zuordnung von gut und böse.
		    In seinen oftmals drastischen Darstellungen von Gewalt und Zerstörungslust
		    war der Film ganz klar an ein jugendliches oder erwachsenes Publikum
		    gerichtet.
		     
		    Das ist bei Spirited Away etwas anders. Die Zeit ist die Gegenwart,
		    die Heldin ist ein Kind. Chihiro ist zehn Jahre alt und erfährt gerade
		    die erste einschneidende Veränderung ihres Lebens: sie zieht mit ihren
		    Eltern in eine andere Stadt. Auf dem Weg dahin verfährt sich Chihiros
		    Vater und sie stehen plötzlich vor einem mysteriösen Tunnel, hinter
		    dem sich ein verlassener Themenpark aufzutun scheint. Während ihre Eltern
		    in einer der menschenleeren Gassen ein Restaurant finden und sich die
		    Bäuche vollschlagen, erkundet Chihiro die kleine Stadt, die sich bei
		    Einbruch der Dunkelheit zu beleben beginnt. Dunkle Gespenster erscheinen
		    aus dem Nichts und Chihiros Eltern sind in Schweine verwandelt. Aus einer
		    in der Ferne hell leuchtenden Stadt am anderen Ufer eines großen Sees
		    legt ein Schiff ab und bringt eine eindrucksvolle Reihe tierähnlicher
		    Gestalten in die kleine Stadt. Es handelt sich, wie man erfahren wird, um
		    die Geister einstiger Gottheiten, zum zentralen Schauplatz wird ein Badehaus,
		    in dem sie es sich gut gehen lassen, aber auch ihre Wunden heilen
		    wollen.
		     
		    Chihiro, die sich ganz langsam vom verängstigten kleinen
		    Mädchen zur meist tapferen Heldin wandelt, erkämpft sich eine
		    Aufenthaltsgenehmigung als Arbeiterin im Badehaus - und verliert mit dem
		    Arbeitsvertrag ihren Namen. Die Chefin des Badehauses, die Hexe Yubaaba,
		    gewinnt Macht über ihr Personal, indem sie ihm den eigenen Namen raubt
		    und neue Namen gibt. Chihiro ist nun Sen. Die Abenteuer, die sie erlebt,
		    bevor sie ihren Namen zurückgewinnen, den mit einem mächtigen Fluch
		    im Bann der Hexe gefangenen Haku befreien und ihre Eltern in menschlicher
		    Gestalt wiedersehen wird, sind zahlreich und fantastisch. Verzauberte, verhexte
		    Wesen suchen Erlösung, es treten eine weise Spinne, ein verzogenes
		    Riesenbaby und kleine Kohleschlepperameisen auf. 
		     
		    Die Welt von Spirited Away ist dabei jedoch nur auf den ersten
		    Blick die Ausgeburt reiner Fantasie. In seiner sehr bewussten Verbindung
		    von uralten animistischen Vorstellungen, dem Themenpark aus der Edo-Zeit,
		    in der Japan sich gänzlich vom Westen abgeschottet hatte, westlichen
		    Elementen wie der Hexe Yubaaba oder der Anspielung auf die seit nun zehn
		    Jahren anhaltende ökonomische Misere ist der Kosmos von Spirited
		    Away immer auch die Allegorie des heutigen Japan. Hier wie in den anderen
		    Filmen Miyazakis fasziniert aber, wie wenig die einzelnen Momente sich in
		    eindeutige Botschaften auflösen lassen, wie durch und durch ambivalent
		    die Figuren bleiben. Noch die bösartige Hexe Yubaaba erweist sich als
		    rückhaltlos liebevoll ihrem Sohn gegenüber, ein gesichtsloser Geist
		    verwandelt sich vom unglücklichen Wesen zum Monster und wieder zurück.
		    Atemberaubend wie stets ist die Überfülle an fantastischen Kleinst-
		    und Großwesen, die Miyazakis Welten bevölkern, denen er eine
		    fürs Große und Ganze der Geschichte oft ganz überflüssige
		    Aufmerksamkeit widmet.
		     
		    Ein wenig schade ist es dennoch, dass nun Spirited Away als
		    erst zweiter Animationsfilm in der Geschichte der Berlinale im regulären
		    Wettbewerb läuft und nicht schon Prinzessin Mononoke. Spirited
		    Away ist ein reines Vergnügen, aber doch immer auch ein Kinderfilm.
		    Die monumentale Wucht des Vorgängers Prinzessin Mononoke, der
		    einen von einem Staunen ins nächste reißt, besitzt er nicht. Die
		    Kritiker wenigstens scheinen dem Werk wenig Verständnis oder Interesse
		    entgegenzubringen; in ungewöhnlich großer Zahl verließen
		    sie die Pressevorführung, der Applaus blieb spärlich. Eine beinahe
		    peinliche Angelegenheit war dann die Pressekonferenz, auf der allerdings
		    nur der Produzent des Films anwesend war - eine Grußbotschaft Miyazakis
		    wurde über Video eingespielt. Keine zwanzig Leute verloren sich im sonst
		    so dicht gedrängten Rund, ein großer Teil davon japanische
		    Korrespondenten. Einer von ihnen drehte vor dem Beginn der Veranstaltung
		    einmal den Spieß um und fragte seine deutschen Kollegen nach ihren
		    Eindrücken vom Film: die erste, die er fragte, hatte ihn leider gar
		    nicht gesehen, der zweite erwies sich als deutscher Miyazaki-Experte und
		    erklärte dem erstaunten japanischen Journalisten die inneren
		    Zusammenhänge in dessen gesamtem Oeuvre.
		     
		    Schön, dass es die eingeschworenen Fans gibt, aber eigentlich
		    ist Spirited Away ein Film für alle und jeden. Accept
		    Diversity lautet das Motto der Berlinale. Solange aber gut gemeinte
		    Fernsehspiele wie Bloody Sunday das allgemeine Interesse wecken,
		    während der vielleicht größte lebende Meister des Animationsfilms
		    von den Kritikern weitgehend ignoriert wird, gibt es weiß Gott noch
		    eine Menge zu tun.
		     
		    zur Jump Cut Startseite
		     
		   |