Tuesday, October 18, 2005

Theodor Fontane: Stine

Unendlich viel Zeit nimmt sich der Erzähler, um den Leser in der Welt, in der er seine Tragödie ansiedelt, heimisch zu machen. Es bleibt kein Kuchen unerwähnt und auch keine Regung der Figuren, deren Lebensradius ausgeschritten wird. Wanda vom Theater, die verwitwete Pittelkow mit der unehelichen Tochter, Stine, die Schwester, weniger schön, weniger resolut, einem Schicksal anheimgegeben, das sie nie überblicken wird. Der Baron, der Graf, sein Onkel: die andere Welt des Adels, die als andere nur existiert, weil sie als andere behauptet wird. Fiele die Behauptung, dann bliebe nichts. Das sehen der junge Graf, der sich verliebt, und sein Onkel, der es verurteilt, nur von verschiedenen Seiten. Es ist doch nichts, sagt der Eine. Es bleibt dann nichts, der andere. Der Sinn Stines für diese Grenze, die Unmöglichkeit der Erhebung zu einem Blick darüber, machen ihr Unglück und das des Grafen, der die Kraft nicht mehr hat, diese Grenze von seiner Seite aus zu behaupten.

Wer von wo blickt und also weiß, mit welchen behaupteten Grenzen man sich arrangieren muss, damit alles bleibt, wie es ist, das ist das zentrale Thema, das Fontane hier, zur Tragödie ohne großes Drama weniger aufgipfelnd als eben ausbuchstabierend, in Szene setzt. Die Revolution bleibt für den alten Grafen ein Gedankenspiel, aber man kann ja sehen, wohin das führt für die, die besitzen. Die Festen, an denen der Graf hier rüttelt, aber nicht des Rüttelns wegen, stehen gar nicht mehr – und womöglich, so ließe sich Fontanes Institutionentheorie verlängern, standen sie nie; es ist nur egal, denn sie bleiben intakt im Aufrechterhalten der Erwartungserwartungen. Ausnahmen – und auch zum Ausnahmefall wird eine Theorie entwickelt – lässt man der Vorsicht halber nicht zu, denn sie bestätigen die Regel nicht, sondern sie höhlen sie aus, indem sie ihren Fiktionscharakter vor Augen führen. Fürs Außerhalb der Regel steht dann die Neue Welt, deren Realitäten freilich diejenigen, die sich auskennen, schon beschreiben können, und nicht als amerikanischen Traum.

Ins Zentrum der Geschichte, in der Stine und Waldemar nur Exemplifikationen sind, gerät so die Pittelkow. Sie kennt, mit einem Wort, das Leben, man hört’s schon am Berlinerischen. Was sie prophezeit, wird wahr. Sie ist die Agentin, die das Reale behauptet – und umso erfolgreicher, als sie es als Unveränderliches und gar keiner Behauptung Bedürftiges voraussetzt. Sie ist, auch in der Sprache, das Realitätsprinzip. Vielleicht hat sie das, was Stine erlebt, schon hinter sich, vielleicht aber behält auch der schreckliche realistische Rest eines griechischen Chors, das Ehepaar Polzin, Recht und Stine "wird nich wieder".

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