Friday, October 21, 2005

Adalbert Stifter: Der Kuss von Sentze

Topografisches Schreiben als Verortung, als Bändigung dessen, was sich regt und im Regen die immerzu erschriebene Ordnung zu stören droht. Die Statik beim späten Stifter nicht als Ruhe, sondern als gefesselte Störung denken, versteintes Chaos.

Zuerst eine Anlage errichten, die drei Häuser oder Schlösser in den Fels hauen: die drei Sentze, rot, weiß, gestreift. Das hybride Mutterhaus, das die Klarheit hervorbringt, eine Ordnungsbewegung. Die Menschen, die sie besiedeln und ihre Geschichte, kommen erst nach der Anlage. Diese Reihenfolge ist wichtig, das Produkt – die Anlage – ist irreduzibel, der Mensch ist es nicht, im Erzählen bei Stifter.

Die Zimmer beim Onkel, Durchdringung und Verwindung von menschlichem Maß und Haus gewordener, ins Heimische geholter Natur. Die Moose, die der Onkel sammelt und presst und denen er die Namen und Ordnung gibt nach Maßgabe der Bücher, der Schriften. Das Geschriebene und die Tradition sind die Wiederauftritte der festen Anlagen, in Stein gehauen, im Erzählten. (Ermäßigung des Steins zur Schrift, zum Brauch.)

Der Mensch findet sich im Brauch. Stifter will ihn sich als zutiefst instituiert vorstellen und bannt so und fesselt das Chaos. Will Streit in Frieden verwandeln mit einem Kuss. Die doppelte Bedeutung des Kusses (Kuss des Friedens, Kuss der Liebe) ist nicht Ambivalenz, sondern geradezu Erfüllung des Kusscharakters des Kusses, der Ritus als Sakrament, das den Menschen die Freiheit gibt, es im eigenen Willen zu vollenden. Das Gesetz ist ein Gegebenes, nie geht es um blinden Vollzug, sondern um ein Anerkennen, eine Re-Instituierung der Ordnung. (Der fünfundzwanzigste Geburtstag als Datum der Mündigkeit: die Abweichung von der Regel, an der sich die Freiheit zur Zustimmung zu dieser Abweichung manifestiert.)

Der traktathafte Einschluss der politischen Erörterung zur Freiheit des Menschen ist kein Zufall, sondern der Kern der Geschichte. Wie der Mensch sich nicht nach Art der Natur, sondern nach Art des Menschen in das Gegebene fügt, als ein sich selbst Gegebenes, sich selbst Gebendes. Der Aufschub der Liebe ist der Dollpunkt der Freiheit. Darum auch die Latenz des Kusses, der als ein wiederholter erst erkannt werden kann und in diesem Erkennen die alte Ordnung feierlich bekräftigt, gerade weil sie in Frage stand, in frei zur Antwort aufgegebener Frage. Die Hochzeit dann der verbleibenden Sentze, das Aufmöbeln der in Stein gehauenen Anlage, sind Allegorie der Institution als Re-Instituierung in Freiheit nicht von, sondern zur Tradition.

0 Comments:

Post a Comment

<< Home