Backlist: Orson Welles: Die Lady von Shanghai

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Orson Welles: Die Lady von Shanghai

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Mit den Dingen, auf die Orson Welles in Die Lady von Shanghai pfeift, bestreiten andere Regisseure ganze Lebenswerke. In erster Linie: Kohärenz, dreiaktige Wohlgeordnetheit, Psychologie als Erklärung von Motivationen, durchschaubare Handlung, greifbare Charaktere. Nichts davon in diesem Film. Orson Welles' Inszenierung ist stattdessen theatral, in dem Sinne, dass es Auftritte, Szenen, extrem künstliche Arrangements von Körpern, stilisierte Dialogtexte gibt. Rechtfertigungen der üblichen Art für die Übergänge von einer Szene zur nächsten hält der Film nicht für nötig. Nur einen Beteiligten gibt es, der alles Theatrale von den Füßen auf den Kopf stellt, das ist die Kamera. Camera stylo, eigenwilliger Blick, sie zersetzt das Vokabular der Hollywood-Kamera-Ästhetik. Es gibt Großaufnahmen von allen Beteiligten in erstaunlicher Zahl, in altmeisterlicher Manier gesetzte Glanzlichter und Weichzeichner, aber nichts ergibt hier den üblichen Sinn. So groß und so nah die Gesichter auch sind, die Opazität der Charaktere verhindert alle Adoration, alle Identifikation. Die Gesichter sind Zombies, Wiedergänger eines Sinns, den die Geschichte der Lady von Shanghai im zugrundeliegenden Roman (und dem verlorenen eine Stunde längeren Director's Cut) vielleicht einmal gemacht hat.

Alle Figuren des Films sind erratisch. Nichts macht sie transparent, verständlich, begreifbar, sie bleiben reine Präsenz, Drohung, Oberfläche, die alles verspricht und nie durch Erklärung eingelöst wird. Sie sind, beinahe, abgelöst von der wüsten Geschichte, die dennoch erzählt wird, konstelliert in Attraktionsbeziehungen, die einem ständigen Wandel zu unterliegen scheinen. Der aber gehorcht nicht nur keiner narrativen, sondern überhaupt keiner Logik. Im Mittelpunkt Elsa Bannister und Michael O'Hara, die die meiste Zeit auf Halbdistanz bleiben, aber diese Halbdistanz scheint der Punkt, an dem sich extreme Kräfte - Begehren wie Hass - neutralisieren. Nur zweimal sind sie vereint - nur zum Kuss, beim zweiten Mal aber als ausgerechnet vor dem Hintergrund von Aquarien mit bizarren Meerestieren verschmelzende Schattenrisse. Dieses Verhältnis ist so fluid wie die Kamera, die gerade in dieser Szene ein Eigenleben entwickelt, das Oktopusse mit demselben Interesse ins Bild bringt wie das Liebespaar. Auch Arthur Bannister und sein Partner George Grispy sind physische Präsenzen, an denen die sie beinahe verschlingende Kamera eine Art Wahnsinn aufspürt, wildes Zucken und Grimmassieren in Grispys Gesicht, bei Bannister bleibt das schielende Auge ein ständiges Irritationsmoment.

Es gibt in Die Lady von Shanghai, etwas überspitzt gesagt, keine kontinuierliche Geschichte, sondern nur wilde Ausbrüche aus ihr. Szenen. Großaufnahmen. Schieren Wahnsinn. So die Szene vor Gericht, die nach recht zivilen Anfängen in die Groteske ausartet, in der, als sollte alle Konstanz von Charakteren und Rollenzuweisung verlacht werden, Bannister sich selbst zum Zeugen beruft und ausfragt. Der reinste Karneval, nichts hält diesen Film (und vielleicht nur: diesen Michael O'Hara, den schwarzen Iren, der auf keinen Nenner zu bringen ist) in irgendwelchen Grenzen, das Recht schon gar nicht. O'Hara entkommt als vermeintliches Mitglied der Jury eines anderen Prozesses, landet - hier wird das Shanghai-Motiv vom Anfang ohne klare Motivierung wieder aufgenommen - im chinesischen Theater und dann in einer Mischung aus Spiegelkabinett und Geisterbahn, die gut und gerne der einzige Grund für Orson Welles gewesen sein könnten, diesen Film zu machen. In der Vervielfachung der Figuren geht es nicht um Schizophrenie, eher um die weitere Auflösung der Identität der Figuren, oder auch: Ikonisierung in Kaleidoskopform. Ein Verfehlen, Schuss um Schuss, bis kein Glas mehr heil ist - nicht zuletzt das Glas der Kamera scheint in einer kurzen Einstellung selbst gesprungen. Die Lösung ist dann wieder ganz noir-gemäß: alle sind tot, bis auf den Helden, der keiner ist, das hat er uns gleich zu Anfang schon gesagt. Er tritt hinaus und zurück in die geordnete Welt, spricht letzte Worte in diesem unsäglichen Irish Brogue, dann fällt der Vorhang.


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