Monday, September 25, 2006

Adalbert Stifter: Das Heidedorf

Auf den ersten, diminutivsatten Seiten entwirft Stifter eine klare Differenzstruktur: das Horizontale der Heide/das Vertikale des Roßbergs. Warum der Roßberg so heißt, bleibt aber im unklaren. Wie ja schon die "Heide", das sagt der erste Satz der Erzählung, "im eigentlichen Sinne" keine Heide ist. Auch im weiteren nichts als Entzugsfiguren. Deren Verkörperung ist Felix, der Sohn der Heide und von einem erhabenen Sitz aus auch ihr König. Der König sitzt, herrscht über Pflanze und Tier und träumt. Seine Kraft ist die Phantasie, als Entzugs- und Verkennungsfigur. Felix sieht, was nicht da ist, und predigt denen, die nichts verstehen. Er baut ein Babylon ohne Volk, dann schläft er ein und träumt weiter. Bei all dem "wusste er nicht, wie ihm geschah". Felix ist nicht das Subjekt seines Tuns; die Heide kennt eines nicht: das Realitätsprinzip. Auch darum steht in der Heide nichts nur für sich selbst, ohne doch schon symbolisch etwas zu bedeuten. Fast willkürlich scheinen die Szenen im ersten Teil – "Die Heide" betitelt – mit biblischen Kontrafakturen und Namensübertragungen übermalt, ohne dass sich eine schlüssige Verbindung ergibt. Es stellt sich schon die Frage: Ist Felix eine pagane Gestalt oder ein Heiliger? Oder ein paganer Heiliger?

Es ist nur so viel klar: Diese Palimpseste aus Diminutiv und Bibelzitat verunsichern die basale Differenzstruktur. Nebendifferenzen kommen hinzu: die von Nähe und Ferne, die von oben und unten; womöglich aber sind sie nur unwesentliche Umorientierung der Horizont- und Vertikalstruktur. Kaum differenziert freilich sind von Anfang an: das Wachen und das Schlafen. Die krypto-biblische Heidelandschaft ist ein Wachtraum mit Felix als Kippfigur, die das Verhältnis der Zeichen und Dinge imaginär ins Unklare bringt und im Unklaren belässt. Grundsätzlich gilt: Nicht um Klärungen geht es hier. Im Schlaf erträumt wird wenn nicht ein Paradies der Entdifferenzierung, so doch die umstandslose Verbindung: Die Sonne küsst den träumenden Knaben wach.

(Man wird auf das Ende sehen müssen, um einer Entscheidung sich zu nähern, ob hier eine Utopie entworfen oder eine Pathologie beschrieben wird. Die bewusste, wenn auch halb unfreiwillige Entsagung des Endes wirft dann ein nüchternes Licht auf den Traumbeginn. Übergriff des Realitätsprinzips. Ein Haus wird gebaut, eingeräumt wird im zweiten Zimmer ein Platz für die Frau, die ausbleibt. Man müsste genau nachlesen, welche Figuren in Felix sich kreuzen: Jakob, der auszieht, aber ins Gelobte Land, und zurückkehrt als verlorener und wiedergewonnener Sohn, die Güte selbst, wenn nicht ein Erlöser – selbst aber unerlöst. Entzugsfiguren. Bitterer Abschluss: "Von seinem Wirken und seinen Früchten liegt nichts vor." Es gibt für diese Geschichte kein befriedigendes Ende, sie läuft ins Leere eines unbestimmten Urteilsspruchs, der nur bedingt Trost verheißt. Ein halbleeres Haus,ein halbleerer Ausgang.)

Dann die Einsetzung der Figur ins Genealogische – aber auch darin hat sie nicht im eigentlichen Sinne ihren Platz. In der Heide steht ein Haus, darin leben Vater, Mutter, Felix. Vor allem aber, meist im Garten, die Großmutter, die der Tod vergessen zu haben scheint. Sie verkennt ihren Felix als Jacobus – und erscheint so als die Agentin der fortwährenden Bibel- und Heidevermischung. Von ihr hat Felix die Phantasie und die Bibel. Sie, könnte man sagen, schickt ihn weg. Er macht sich auf, davon, ins Gelobte Land, auf die Suche nach "sich selbst", aber weniger in einem psychologischen Sinne, als sozusagen intertextuell: Welche Bibelfigur bin ich? Kann man sagen, dass er sich findet?

An Stelle einer Antwort setzt Stifter: die Zeit. Er ist ein großer Beschreiber des schieren Vergehens der Zeit. (Aber was für eine Zeit das ist, das müsste man gerade genauer untersuchen. Vergehzeit, Wartezeit. Wie verhält sie sich zum Erzählen?) Er bevölkert die Heide, er erschafft – in Felix' Abwesenheit – im Heidedorf eine Zivilisation, aber nicht so sehr in moderner als in mythischer Machart: "Und dann kamen wieder Tage und wieder." Die Zeit bleibt zyklisch, die Vergesellschaftung bleibt rudimentär, die Großstadt fern, nur gelegentlich eine Ahnung als Botschaft von Abgesandten. Die schiere Zeit wartet. Es gibt Einbrüche von Ereignissen: ein Bürgermeister wird gewählt, das erst Mal "seit Erschaffung der Welt". Das Kleine, das Große, die mythische Heide, aber in der Mythe der Bürgermeister. Und, wie ein Romantik-Import (Brentano), die Großmutter, die nicht stirbt und nicht stirbt. Wie im Märchen der Blick auf die Veränderung: "Es kamen einmal viele Herren und vermaßen ein Stück Heideland."

Dann kehrt Felix zurück, er wird überschwänglich, fast wie ein Messias, begrüßt, aber recht eigentlich gebraucht wird er nicht. Er ist nur gut, das reicht. Er verändert nichts. Er errichtet ein steinernes Haus. Er wartet auf eine Entscheidung, die naturmythisch untermalt wird. Der Regen bleibt aus wie der Brief. Beides wird eintreffen, also auch, auf der Ebene dieser Entscheidung: Klärung. Was aber ist vom mythischen(!) Junktim von Natur und Liebe zu halten? Wie und warum steht halbleer das steinerne Haus in der Heide. Warum endet die "Wisschenschaft" von Felix als einem, der auszog, ja: was eigentlich?, zu lernen, just hier. Und doch mit einem Urteil, das halb leer und halb offen bleibt. Entzugsfiguren.

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