Tuesday, October 03, 2006

Adalbert Stifter: Der Hochwald

Um den Eintrag von Spuren in Natur geht es im "Hochwald". Die Natur ist, sehr konkret, und geografisch genau benannt (ein ausgewähltes Experimentier- und Beobachtungsfeld) der böhmische Wald. Jungfräulich ruht er vor dem Auge des Betrachters. Der Betrachter ist ein Erzähler, der sich in diesen Raum hineinschreibt, gleich zu Beginn, denn hier hat er geliebt und diese Liebe prägt den Blick und verwebt Raum und Blick und eigene Geschichte zur "dunklen, warmen Zauberphantasie" (Sie tritt später, als es um Liebe geht, wieder auf, aber schon unsicher geworden in der Zuschreibungsrichtung: "ich weiß nicht, geht von dir dieser Zauber der Verwandlung aus oder von dem Wald"). Diese Phantasie schreibt sich mit ein, vielleicht weniger als Spur denn als Untergrund, als Leseanweisung, die man nicht ganz vergessen darf. Sie steht freilich im schärfsten Widerspruch – zum tragischen Geschehen, das sich entfalten wird; auch zum Streben des arrangierenden Blicks zur Rückgewinnung einer Unschuld von Natur, die Spuren abweist, auslöscht – und damit gerade aller Geschichtlichkeit widerstrebt. Dieser Widerspruch selbst ist nicht zu tilgen, er strukturiert den "Hochwald" vom geradezu kosmischen Natureingang bis zum Ausgang als fade-out, in dem die dramatis personae vor dem Auge des Lesers vergehen – und so doch der Zeitlosigkeit wieder anheimgegeben werden: "aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging." (Das ist der letzte Satz.)

Mensch/Geschichte und Natur/Unschuld werden ineinander verwoben, als Eintrag von Zeichen und Spur. Die Lesbarkeit aber wird zum Problem, denn die Übertragungsrichtung ist konsequent ungesichert. Die "Zauberphantasie" webt Fabeln in die Natur und die Natur ins Menschliche (so werden in vertrackter Übertragung gleich am Anfang der Waldsee und ein Tal als je ein "Auge" beschrieben). Das ist eine hochdynamische, an Einzelstelle für Einzelstelle nachweisbare Metaphern- und Wortfeldassoziations- und dissoziationsarbeit. Untergründig schon die Verbindung der Landschaftsbeschreibung (man kann das Wort hier aber kaum unschuldig verwenden) des Beginns, in die unversehens der Tod eingeschrieben wird, wenn von der schwarzen Erde die Rede ist, "dem dunklen Totenbette tausendjähriger Vegetation, worauf viele einzelne Granitkugeln liegen, wie bleiche Schädel von ihrer Unterlage sich abhebend, da sie vom Regen bloßgelegt, gewaschen und rundgerieben sind". Im quasi-romantisch hereingewehten Liedmotiv – das als Dokument einer Passion, aber wiederum als Lied, als bereits Form gewordener Ausdruck, nicht mehr reine Passion anzeigend, auf die widernatürliche, geschichtliche Seite des Disruptiven gehört, nämlich der Widernatur, während die Natur als Schließungs- und Tilgungskraft auftritt – ist dann wenige Seiten später im kurzen, rätselhaften Auszug die Zeile "Da lagen weiße Gebeine" zu vernehmen. Die Gebeine aber finden sich nicht nur in der Natur, sondern auch im Lied in nächster, nicht metaphorischer, aber metonymischer Nähe zum Stein: "Und wieder war ein König / Der ritt am Stein vorbei / Da lagen weiße Gebeine / Die goldne Kron dabei."

Das Wortfeld Stein und Felsen ist zentral für den Hochwald – im Lied ist der König, das sagt die zweite Strophe, vom Felsen gesprungen, als Strafe für den Mord im Wald an "seinem Lieb". In der Übergangs- und Übertragungszone von Wald/Holz, Stein/Fels, Garten/Mensch richtet die Erzählung sich sprachlich ein. Für die Geschichte, das Geschehene als im Maß menschlicher Zeit Vergangenes, zeugen nur noch Stein und Gebein. Aus Stein die Ruine von Wittinghausen, Denkmal für den Erzähler, der diesen Eintrag lesbar macht durch seine Geschichte als Vorgeschichte. Menschliche Geschichte ist also nur Vorgeschichte von Stein und Gebein. Als Lebender aber, in der Gegenwart, leistet der Mensch Vermenschlichungsarbeit an der Natur; aber immer – das zeigt die Topografie des Hochwalds – schroff am Felsen. Vermenschlichungsarbeit aber ist, in erster Linie, Haus- und Gartenbau. Das Schloss, Garant genealogischer Folge, wird geräumt und im Wald, schroff am Felsen, redupliziert, aber als Haus aus Holz. Diese Einräumung eines menschlichen Raums im Naturraum des Hochwalds jedoch bleibt prekär, ist ein Recht auf Zeit und zu Bedingungen, die Gregor, als Hüter des Rechts des Menschlichen, aber auch als Übergangsfigur zwischen menschlichem und natürlichem Reich ("Seinen ganzen Lebenslauf, seine ganze Seele hatte er dem Walde nachgedichtet und paßte umgekehrt auch wieder so zu ihm, dass man sich ihn auf einem anderen Schauplatze gar nicht denken konnte"), klar macht: "Baue an dieser Stelle kein Haus – du tätest dem Walde in seinem Herzen damit wehe und tötetest sein Leben aber – ja sogar, wenn diese Kinder wieder in ihr Schloss gehen, dann zünde jenes hölzerne Haus an, streue Kräutersamen auf die Stelle, dass sie wieder so lieblich und schön werde, wie sie es war seit Anbeginn, und der Wald über euer Dasein nicht seufzen müsse." Gregor verleiht dem Wald, metaphorisch, Leben – aber es ist dieses Leben unüberwindbar Metapher, denn mit dem Leben des Menschen ist es nicht in Einklang zu bringen, durch Beschreibung nicht, durch das Einweben von Fabeln nicht ("ohne dass die Menschen erst nötig hätten, ihre Fabeln hineinzuweben").

In gewisser Weise ist Gregor, der "Waldsohn", selbst freilich die Metapher als Übergang und Übertragung, eine unmöglich auf Dauer zu stellende Figur, Stein und Mensch zugleich, der das Steinige menschlich macht und den Wald, der Natur ist, in einer langen Parabel zum Garten erklärt: "Der Wald ist auch schön, und mich dünkt manchesmal, als sei er noch schöner, als die schönen Gärten und Felder, welche die Menschen machen, weil er auch ein Garten ist, aber ein Garten eines reichen und großen Herrn, der ihn durch tausend Diener bestellen lässt" – und weiter: "In allem hier ist Sinn und Empfindung; der Stein selber legt sich um seinen Schwesterstein und hält ihn fest, alles schiebt und drängt sich, alles spricht, alles erzählt, und nur der Mensch erschaudert, wenn ihm einmal ein Wort vernehmlich wird." Dies aber, was Gregor – kein Menschensohn – erzählt, widerlegt Stifters Geschichte. Wenn der Wald spricht, vernimmt der Mensch "Worte", die er aber nicht versteht, und drum erschaudert. Es mag ein Gott sein in der Welt und die Natur sein Garten – ein Platz für den Menschen und seine Geschichte ist darin nicht: "Ihr Garten, der Wald, unbekümmert um das, was draußen vorging."

Noch die Fabel – von der Großmutter, die wie stets für eine bestimmte Vorzeitlichkeit des Mythsichen und Märchenhaften steht – erzählt wiederum nichts als die Felswerdung des Menschlichen: Einer, der im Felsen den Schatz suchte, wurde vom Felsen eingeschlossen und verschlungen. (Natur ist Tilgung. Es bleiben nur Geschichten als Wiederbelebung von Stein und Gebein.) Wie sehr Gregor unmögliche Übergangsfigur ist, zeigt sich entsprechend an Stein- und Gebein-Metaphern. Im Verschweigen und Verstummen – und beides ist, was im "Hochwald" Natur ist, nämlich Totenstille: "so würden meine Zähle verschlossener sein, als die Steintore des Heidenschatzes", "manche höhnten ihn, und gegen diese verschloss er wie mit Felsen den Quell seiner Rede". Später einmal fällt Johanna "die Ree des Alten (...) wie ein Stein auf das Herz." Und beim ersten Auftritt wird er in aller Deutlichkeit als "Bruder des Felsens" apostrophiert. Gregor, als "Waldsohn" und "Bruder des Felsens" ist Verkörperung der begrenzten Einräumbarkeit und Bewohnbarkeit der Natur. Am Ende aber wird sein Name nicht mehr genannt werden und mit ihm geht die Zeit aus als menschliche Perspektive, es sei wiederholt: ""aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging."

Die Anfahrt auf den Raum, der Lebensraum sein wird, ist das Wunder einer Einräumung, die Einrichtung ermöglicht – auf Zeit, aus Holz. "die Felsenwand trat näher und stieg so mauerrecht aus dem See empor, dass man nicht absah, wie zu landen sein werde, da wohl kein handgroß Steinchen dort liegen möge, um darauf stehen zu können: allein zur größten Überraschung in diesem Lande der Wunder tat sich den Mädchen auch hier wieder eines auf. Wie man der Wand sich näherte, wich sie zurück und legte ein liebliches Rasenland zwischen sich und den See, und auf dem schönen Grün desselben sahen die Mädchen nun ach ein geräumiges hölzernes Haus stehen". Diese Einräumung von Lebensraum im Wald ist freilich erkauft durch die Entwirklichung des Vaterhauses aus Stein, das durchs Rohr nur noch sichtbar ist, "klein und zart, wie gemalt".

Auftritt Ronald, auch er ein Grenzgänger, aber nicht wie Gregor, der Sohn des Waldes und Bruder des Felsens bleibt von Anfang bis Ende (und Ronald wird nicht zu Natur, auch wenn er ihn liebt "wie ein Sohn"), sondern einer, der die unmögliche Identität von Menschlichem und Natur leben will, denn er "strebt nach Unerreichbarem. Er hat manchmal wollen den Sonnenschein auf seinen Hut stecken und die Abendröte umarmen!" Die Liebe zu Clarissa ist bei einem solchen, sagt das Gesetz des Vaters, immer nur "Scheinding", aber eben drum kann Ronald von ihr nicht lassen. Sein Wesen ist Übertretung schlechthin. Oder tödliche Verwechslung: "mir ist, als gäbe es gar kein Draußen, gar keine Menschen als die hier, die sich lieben und Unschuld lernen von der Unschuld des Waldes." Anähnelung an die Natur aber ist immer nur eines im Hochwald: Stein- und Gebeinwerdung. Charakteristisch denn der Abschied Ronalds vom Scheinding der Liebe, von Wald und Mensch und Clarissa: "dann nahm er die Flinte und schritt entschlossen der Felswand zu. Die Mädchen sahen in hoch lange, wie sich die graue Gestalt in dem grauen Gestein regte winzig klein, bis nichts mehr sichtbar war, als die ruhige schon im Nachmittagsschatten stehende Wand." Er wird nicht wiederkehren, erzählt wird noch seine Nachgeschichte, das Scheitern seines Vermittlungsversuchs, das den Tod des Vaters, die Ruinierung des Schlosses zur Folge hat. Vom Vater, immerhin, bleibt die steinerne Grabplatte in der abgebrannten Thomaskirche. Von Ronalds Grab aber ist nichts zu wissen; nur in Clarissas Rückübertragung in Natur lebt er fort - "in den goldnen Sternen sah sie seine Haare, in dem blauen Himmel sein Auge" -, aber gerade darum und darin verfehlt Clarissa ihr Leben. Und gerade darum widerfährt ihr, was Ronald widerfuhr: "kein Mensch kennt ihr Grab". Was bleibt, ist der Wald. Gregor hat das Haus angezündet und die "reiche Nachkommenschaft" der Natur löscht alle Zeichen des Menchlichen, "so dass wieder die tiefe, jungfräuliche Wildnis entstand, wie sonst und wie sie noch heute ist." Es bleibt so, als einziger Eintrag der Spur, nur die Erzählung, die von der Unmöglichkeit eines Eintrags erzählt. Nichts als Wort also, und Worte wie Stein und Gebein.

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