Monday, October 09, 2006

Adalbert Stifter: Die Narrenburg

Sich-Einschreiben in die Geschichte, genauer: in die genealogische Geschichte einer Familie. Aber nicht, durchs Leben und Sterben, Werden, Treiben und Vergehen in aller Selbstverständlichkeit. Sondern, Buch führend und Vorgeschichten lesend: buchstäblich. Dies ist, in seiner Buchstäblichkeit, eine Verdopplung; und diese Verdopplung ein Unglück. Ja, mehr als das: eine Belastung, ein Fluch. Die Inschrift, als Verdopplung des Lebens, die Lektüre der Genealogie in aller Ausführlichkeit: eine Narrheit, die der Burg (als Welt) der Scharnasts den Namen gibt: die Narrenburg.

Es beginnt, sehr ungewöhnlich, nicht mit einem installativen Stifterschen Natureingang, sondern mit einem geradezu Kleistschen ersten Satz: "Hans von Scharnast hatte ein lächerliches Fideikommiß gestiftet." Es geht um Erbe und Recht, verknüpft durch den Eid, mit dem man sich verpflichtet. Zum Lesen wie zum Schreiben. (Aber im Eid bindet das "Ich" sich an ein "Es", das im Moment der Verpflichtung immer unabsehbar bleibt. Hier: Als Vergangenheit, die jede Gegenwart einholt.) Das eigene Leben wird zum Exempel in der genealogischen Reihe der Exempel. Wer die Scharnast-Burg(Welt) erbt, muss ins Arkanum des Roten Steins gehen, muss lesen, was geschrieben steht. Mit dieser Lektüre kommt Bewusstsein in die Welt. Der Stifter Scharnast unterstellt, dass aus den Erzählungen, zu denen die Leben der Vorfahren verfasst sind, Lehren zu ziehen seien. Der Erzähler Stifter sagt ein ums andere Mal: lächerlich.

Genauer gesagt: kontraproduktiv. Denn die neuen Besitzer nehmen sich gerade am detailliert überlieferten Irresein der Vorfahren "ordentlich (...) ein Exempel" und tun "so viel verrücktes Zeugs (...), als nur immer in eine Lebensbeschreibung hineingeht". Nicht anders denn als Exempel kann nun die Geschichte, die Stifter erzählt, dienen, als Exempel von einem freilich, der sich von außen nähert, einem, der selbst "lächerlich" genug daherkommt, aber doch neu und anders sich aneignen muss, was ihm gehört – und wohin er gehört. Auftritt er "wie ein wandelndes Kreuz" – und ein leiser christologischer Zug liegt genau darin, dass er sich und sein Geschlecht vom Fluch des Lebens und Schreibens mutmaßlich erlöst. (Aber sterben muss er dafür nicht, was angesichts der Selbsterlösung, um die es zu tun ist, auch kein Wunder ist. Und über die Gewissheit des Heils, das im Ende liegt, muss man diskutieren. "Und so, du glückliches Paar, lebe wohl!" Das ist weniger eine Erlösung als eine Entlassung in die Zukunft. Andererseits: Die Eröffnung einer Zukunft im Einschreibungszwangszusammenhang der Scharnasts ist womöglich genau und gerade der einzige Akt der Erlösung. Es steht von den Scharnasts weiter nichts geschrieben. In Aussicht gestellt wird am Ende nur das Nachholen von Vorgeschichten – eingelöst mit der "Mappe des Urgroßvaters" und dem "Prokopus".)

Der Held und womögliche Erlöser seines Geschlechts bleibt lange namenlos – spät erst wird er, im Ausruf der Geliebten, ein Heinrich. Der Übergang in die symbolische Ordnung der Genealogie erfolgt später – und in seltsamer Verkennung: durch Ruprecht, das Gespenst des Schlosses, grau wie das Schloss selbst, als Sixtus, dem er gleich sieht, der er aber nicht ist. Diese verkennende Einschreibung ist vielleicht weniger Kontinuität als Diskontinuität, zerreißt den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart, öffnet einen Zeit-Raum des Heils im Unheilszusammenhang. In diesem Zeitraum siedelt sich – wenn das geht – auch Stifters eigenes Erzählen an. "Allein der Zweck der vorliegenden Blätter führt uns aus dieser harmlosen Gegenwart, die wir mit Vorliebe beschrieben haben, einer dunklen schwermütigen Vergangenheit entgegen, die uns hie und da von einer zerrissenen Sage oder einem stummen Mauerstücke erzählt wird, denen wir es wieder nur ebenso dunkel und mangelhaft nacherzählen können." Eingeleitet wird damit jedoch nicht eigentlich ein Rückblende, sondern nur der Besuch des Schlosses. Die Vergangenheit wird nacherzählt zunächst nur als in die Gegenwart als Ruine ihrer selbst eingeschriebene. Das Mauerstück zeugt, zerrissen und stumm, aber zur Erzählung – und damit zur Verlebendigung – auffordernd, vom Vergangenen. Dies aber wird nicht vom Erzähler verlebendigend vor Augen gestellt, sondern nur – dazu gleich mehr – als Präsentation eines Schriftstücks, Heinrich und zugleich dem Leser zur Lektüre gegeben. (Es gibt den Gegen-Raum dazu, nämlich den grünen Bildersaal. Die Bilder, überlebensgroß und großer Meister Werk, stehen, Vergangenheit in Fülle und Ganzheit bezeugend, gegen die Schrift und gegen den Stein als Ruine.)

Ruprecht aber, der verrückte Vermittler von Gegenwart und Vergangenheit, ist wie Gregor im "Hochwald" eine Übergangsfigur; metonymische Verkörperung von Stein und – hier nicht Gebein, sondern: Schrift. Aber Schrift – und zwar: im Stein, eingelassen in den roten Stein – ist hier das Gebein, das bleibt, verbürgend und belastend. Gerade darum aber ist Ruprecht auch eine zutiefst unheimliche Figur, ein a-sozialer Abgrund an "Verrückung" – nämlich "jener Gesetze, auf deren Dasein im Haupte jedes andern man mit Zuversicht baut, als des einzigen, was er untrüglich mit uns gemein hat". (Was auch heißt: Heinrich teilt den Wahnsinn nicht, anders als, könnte man sagen, die in den Wald als Gregors Welt ihr Leben einräumenden Figuren des "Hochwald").

Und der Stein ist natürlich das Schloss, die Burg als Welt für sich. Als Scharnast-Welt, in die jeder sich einträgt mit einem eigenen Bau und eigenen Garten, eigenen Pflanzen und eigenen Häusern, "eine Sammlung von Schlössern, eine halbe Stadt von Schlössern". Eine genealogische Welt in vollständiger Un-Ordnung. Jeder richtet sich ein im eigenen Haus, fügt an im fremden Stil. Die "Narrenburg" ist, mit einem Wort: das Fremdeste. Christoph, der letzte Graf, ist in Afrika gestorben. Jodokus bringt aus Inden sich Chelion die Frau und mit ihr das Unglück mit, das seine und das ihre.

Quelle dieses Durcheinanders ist gerade die Schrift als "Wust" der erzählten Leben. Alles ist niedergelegt im roten Stein, der so zur Quelle des Unheils wird. Die Übernahme dieser Last bleibt Heinrich nicht erspart. Ihm – und uns – werden die Blätter des unglücklichen Jodokus zu lesen gegeben. (Während zugleich schon das große Restaurationsprojekt läuft: die Einrichtung der Schloss- und Bergwelt, ihre Belebung und Lebbarmachung als Vorbereitung zur Begründung einer neuen Geschichte: Anna aus der Fichtau und Heinrich als Neubegründer des Geschlechts.) Das Leben und die Schrift fallen ineinander, aber um den Preis des Verlusts eines Selbst, das kontrolliert, was es tut, und zwar lebend wie schreibend: "Was ich hier schreibe, bin nicht ich – mich kann ich nicht schreiben, sondern nur, was es durch mich tat." Was dieses "es" ist – außer eben: kein "Ich" – bleibt grammatikalisch unklar: das Leben oder das Schreiben? Oder das Schicksal oder das Scharnast-Geschlecht? Oder das Lesen des Schreibens der Vorfahren?

Es geht von diesem Riss aus eine kosmische Tilgungsfantasie, die das groteske Missverhältnis des einzelnen Lebens und des Zusammenhangs der Zeit, von "Ich" und "Welt" dramatisch darstellt: "aber da rollt alles fort – wohin? das wissen wir nicht. – Millionenmal Millionen haben mitgearbeitet, dass es rolle, aber sie wurden weggelöscht und ausgetilgt, und neue Millionen werden mitarbeiten und ausgelöscht werden. Es muss auch so sein: was Bilder, was Denkmale, was Geschichte, was Kleid und Wohnung des Geschiedenen – wenn das Ich dahin ist, das süße, schöne Wunder, das nicht wiederkommt! Helft das Gräschen tilgen, das sein Fuß betrat, die Sandspur verwehen, auf der er ging, und die Schwelle umwandeln, auf der er saß, dass die Welt wieder jungfräulich sei und nicht getrübt von dem nachziehenden Afterleben eines Gestorbenen." Was "rollt" in dieser Vision, ist die Welt als "Es", dem das Ich nicht Einhalt tun kann; und auch durch Schreiben und Einschreiben nicht, denn alle Schrift sei, so Jodokus, getilgt. (Es ist kein Zufall, dass die Scharnast-Schriften später selbst als "Rollen" bezeichnet werden, als Schriftrollen, in denen das "Es" west und das "Ich" nie sein kann.)

In seltsamer – und mancherlei schauerromantische Anleihen nehmender – Weise steht dieser Tilungswunsch gegen die Unmöglichkeit der Tilgung eines einzigen Moments ("Aber [das Schrecknis] war nicht mehr auszutilgen.") Jodokus, der Chelion – die ihn mit dem Bruder betrogen hat – töten will in einem Moment der Ver-rückung, kann diesen Riss nicht mehr tilgen. Was Chelion verliert, ist sehr genau die "Zuversicht" in sein Ich. Gerade und ausgerechnet der Moment, in dem ein "es" als frevles Spiel" ins "Ich" fährt, bleibt untilgbar. Das "Ich", das sich verliert, findet sich nicht wieder. Jodokus setzt sein Haus in Brand – aber das Schloss als Ganzes kann er nicht zerstören, die Schriften lässt er unangetastet.

Heinrich hat die Kraft nicht zur Tilgung, nur zur Einsicht: "Das ist keine gute Einrichtung unserer Vorfahren". Eine Einrichtung nämlich, die zu nichts führt als einem "Garten voll Gespenster", von der Jungfräulichkeit der Welt weit entfernt. Alles, was Heinrich unternehmen kann, ist die aneignende und in der Aneignung dem Leben rückerstattende Einrichtung dieser Welt, aus der die Gespenster nicht zu tilgen sind. Sie bekommen ihren Platz, wie exemplarisch Ruprecht, der "Geschichten [erzählt], die niemand versteht" – als eingemeindetes, eingeräumtes Fremdes. So ist die Idylle, in der alles endet, zwar Glück in Beschränkung, aber nicht reine Provinz: Heinrich sammelt "Pflanzen aller Länder", "Herden ausgestopfter Tiere" und die "Erze und Steine der Welt". Das "Es", das als gesetzloses, menschlichem Gesetz und Fideikommiß entzogenes Gesetz durch die Welt zieht, ist, mit einem Wort: befriedet, aber nicht getilgt.

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