Thursday, October 19, 2006

Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters (Studienfassung)

"Längst vergessen" ist Egesippus, dessen Motto der Erzählung voransteht – eine Ironie, denn ums Erinnern von "dicta factaque" geht es im Motto selbst wie auch in der Erzählung. Freilich treten, bezeugt durchs Geschriebene, das was heute erzählt wird, und das, was einst getan wurde, auseinander und erzeugen so Legenden. Möglich wird dies im Bruch der Generationenkette, die vor allem "Bruchstücke im Munde der Leute" bewahrt, die das Ganze des Gewesenen in das Hören und Sagen von Worten auflösen. Im Rahmen, in dem Stifter nah am biografischen Ich bleibt, geht es um das Finden von "Dingen", die zeugen, aber beinahe schon sprachlos geworden sind. Denkmale, die freilich "verkommener und trüber" werden und mehr ans Denken gemahnen als ans wirklich Geschehene selbst. Ein solches melancholisches Mahnen ist recht eigentlich auch dieser Rahmen, der die eigenen Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft setzt, aber als etwas, das sich – über kurz oder lang – abschneiden wird von dieser wie jener. Was war, ist vergessen, was ist, wird vergessen sein. Zwischen diesem und jenem Vergessen ruhen erstarrend die Dinge und Worte, "dicta factaque", als verstummende Denkmale in modernden Truhen, auf dem Weg immer schon zum Plunder und Abfall. (Diese Denkmale kehren wieder, in der Geschichte, etwa in der Einsenkung gegenwärtiger Dinge ins Fundament eines Hauses. Dies Haus freilich wird am Ende der Erzählung nicht mehr stehen, ein Satz löscht es aus: "ich muss endlich erzählen, wie das obere Haus weggekommen ist"...)

Dagegen steht, wie in der "Narrenburg" – und in der ersten Fassung ist die "Mappe" noch Teil des geplanten "Scharnast"-Zyklus – ein Lebensaufschreibeprojekt. In der "Studien"-Fassung ist es gelöst aus der genealogischen Folge des Unseligen und eingefügt in die Sorte Adoptivgenealogie, die sich bei Stifter so häufig findet. Ein älterer Mann und ein junger – der Obrist hier und der Doktor, der der Urgroßvater des Rahmenerzählters ist - adoptieren einander als Vater und Sohn; wie stets steht die Tochter des Alten als "Pfand" dieser Übereignung dazwischen. Wie noch im "Nachsommer", der ohnehin ein Nachfolgeprojekt in mancherlei Hinsicht ist, steht die Begegnung zwischen "Vater" und "Sohn" als ein Erkennen auf den ersten Blick vor der Zusammenführung von "Sohn" und "Tochter". Und mit dem Erkennen ist es nicht getan; der Aufschub der Liebe, sei es im Schürzen eines Konflikts (wie in der "Mappe"), sei es in fortgesetzter wie fast vorsätzlicher Blindheit im "Nachsommer", einer wahren Anagnorisisverweigerung, dieser Aufschub ist Raum nicht des Entfaltens der Liebesbeziehung zwischen "Sohn" und "Tochter", sondern Raum und Zeit für das Erziehungsprojekt des "Vaters", der den "Sohn" lehrt, ihm gleich zu werden und gleich zu tun. In diesem Sinne inszeniert Stifter mit Vorliebe die Verbindung von "Bruder" und "Schwester", gründet Genealogien auf dieser Verbindung. Der Idee nach ist das freilich gerade nicht inzestuös, sondern Umformulierung noch des Ehebundes in ein asexualisiertes Adoptionsmodell. (Von Kindern ist entsprechend kaum oder nur am Rande die Rede, obgleich doch der Ich-Erzähler "Stifter" anders denn wahlverwandtschaftlich gezeugter Nachfahre dieses Bundes sein muss.)

Die Schrift, die in der Mappe, aufhebt und bewahrt, was gewesen ist, in den Worten dessen, dem es widerfuhr, ist freilich beinahe unleserlich, "alte, breite, verworrene Schrift". Die Entzifferung des Verworrenen ist das der Vergangenheit zugewandte Kulturationsprojekt, das der Zeit das Geschehen entwirrend entreißt. Dem korrespondieren, in der Geschichte des Urgroßvaters, die üblichen Kulturationsprojekte von Haus-, Garten- und Landbau. Für den Obristen ist es wie folgt beschrieben: "Dort lichtete er den Wald um die Hütte, legte sich eine Wiese an, davon er ein paar Rinder nährte, ließ seine Ziegen und Lämmer in das Gesträuche des Waldes gehen und machte sich wohl auch ein Feld und ein Gärtchen, das er bearbeitete." Dem Hausbau, Lichten, Anlegen, Bearbeiten – mit einem Wort: der Umwandlung des Waldes in Garten – steht der Wald hier noch in "ursprünglicher Schönheit und Unentworrenheit" gegenüber. Leben als Mensch in Kultur ist Entwirrung des Unentworrenen, das freilich – jedenfalls in der "Mappe" – als Wiederzerwirrung des Menschlichen seine zerstörenden Auftritte hat. Als Geschehen im stummen Tod der Frau des Obristen, die in die Tiefe stürzt ohne Wort und Wehr, wie im Moment des Sturzes schon wortlso zurückfallend und zurückgefallen ans Unentworrene.

Als Zwischenzustand zwischen Bannung und Wiederzerwirrung aber hat der Eissturz seinen über Seiten und Seiten beschriebenen Auftritt. Zwischen unheimlicher Todesstille und unheimlichem Fall der Bäume im Wald. Was hier dargestellt wird, ist das schiere Drohliche, schwankend zwischen Zerstörung als Defiguration und der Schönheit des durch Überzug des Eises Defigurierten. Im Eissturz ist angezeigt, dass der Rückfall des Menschlichen an den Wald als Möglichkeit des Daseins immerzu gegenwärtig ist. Kulturation ist Aufhaltung. Verwandlung des unentworrenen Waldes in Garten ist Aufhaltung, Entzifferung der verworrenen Schrift ist Aufhaltung, das Bezeugen im Erzählen, das Fortzeugen im Genealogischen sind Aufhaltung. Auf Zeit. In der Studienfassung der "Mappe" ist der Starrnis des Drohlichen im Eis noch nicht die Starrnis des Heglichen der Sprache entgegengesetzt. Darauf aber läuft Stifters Werk widersinnig und starrhalsig zu: die Bannung des Drohlichen in der Sprache, die selbst aber dadurch zum Überzug aus Eis wird und eben dadurch in einen Zwischenzustand der Unentscheidbarkeit von Leben und Tod eintritt, der zugleich ein Zustand der Schönheit des durch Vereisung des Sprachlichen Defigurierten ist.

1 Comments:

Juliana Berlim said...

Lieber Herr,

Ich heisse Juliana Berlim aus Brasilien und moechte mehr ueber Stifter wissen, weil ich Thomas Bernhard studiere und weiss, dass Bernhard viele Verbindungen mit Stifter hat. In Brasilien gibt es nicht Vieles ueber diese Autoren, denn die Forscher im Fach Germanistik studieren hier normalerweise die deutschen Schriftsteller. Koennten Sie mir Angaben ueber Stifter geben? Meine Email ist: desorientacaototal@hotmail.com.

Im Voraus verdanke ich Ihre Hilfe,

Mit freundlichen Gruesssen aus Rio de Janeiro,

Juliana Berlim

6:19 AM  

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