Monday, October 23, 2006

Adalbert Stifter: Abdias

Die Eröffnung der Erzählung und die Erzählung selbst verhalten sich zueinander wie ein Rätsel und seine – freilich, wie es scheint, verweigerte – Lösung. Das Rätsel, das das Leben des Abdias dem Betrachter, als der der Erzähler sich hier ausgibt, stellt, ist das nach dem Grund für das, was einem widerfährt: "Warum nun dies?" Also die Frage nach Schicksal und Vorsehung. Recht heillos verstrickt sich der Erzähler bei der theoretischen Antwort auf diese Frage in eine große Metapher, die Metapher von der "heit're [n], blumenreiche[n] Kette" von "Ursachen und Wirkungen". Als lückenlose Kette enthält sie noch den Betrachter selbst – die Vernunft als "Auge der Seele" –, die hinten und vorne und Sinn und Verursachung erkennt. (Das wäre freilich der paradoxale Kern der Verstrickung: Wie soll der Betrachter als Teil der Kette auf die Kette als Ganze blicken können, schon gar, wenn er sich selbst noch – zählend, erzählend – zu "jener Hand, welche das Ende der Kette hält" hinabbewegen muss? Eva Geulen stellt fest, dass diese Hand nur die des Erzählers selbst sein kann – damit ist das Paradox scharf benannt, aber nicht aufgelöst.) Der Wurf der Metapher geschieht in einem langen, von Gedankenstrichen unterbrochenen, oder über Gedankenstriche und das, was sie als Nebengedanken einräumend absondern, sich erläuternd fortsetzenden langen Satz. Dieser Satz freilich schiebt sich und die als Ende der Kette in Aussicht gestellte Lösung selber auf und vertröstet auf ein "dereinst", das recht besehen nichts anderes sein kann als das Ende der Welt und also, noch rechter besehen, eine göttliche, keine menschliche Perspektive mehr. Nur konsequent, dass der Erzähler – bei Lichte besehen natürlich der Entwerfer dieser lückenhaften Kette, als die das Leben des Abdias sich darstellt - sich erklärtermaßen darauf beschränkt, "einfach und schlicht von einem Manne zu erzählen" und diese Erzählung als exemplarisch, aber wohl exemplarisch für die Unlösbarkeit des Problems im Hier und Jetzt des Erzählens selbst zu präsentieren.

Es ist die Geschichte des Abdias etwas wie eine mögliche Vorgeschichte zu all den Erzählungen, in denen Stifter bisher einen Mann und eine Tochter in ein Haus in den Wäldern der Heimat installierte. Der "Abdias" erzählt diese Vorgeschichte aber als eine der irreduziblen Fremdheit und damit auch der Dissoziation von Mensch und Raum. Kaum wirtlich ist schon der Ort der Herkunft des Juden Abdias, die Römerstadt, die in der Wüste kaum existiert, ein versteckter Winkel in den Falten der Repräsentation. Die Römerstadt "ist", anders gesagt, fast nicht und fast das Nichts. Abdias, als Hiob und Ahasver, ist darum selbst an den Grenzen menschlicher Figuration angesiedelt. Enstellt wird er im Blick der Frau, die er liebt, der "schönäugigen Deborah", nicht wieder – oder niemals – ganz. "Abdias" ist auch eine letztlich unheimliche Augenerzählung, von der Vernunft als "Auge der Seele" über die schönäugige, aber auf ihre Art blinde Deborah mit "nur leiblichen Augen", bis zur blinden, dann triumphal sehenden Ditha. Abdias selbst hat in der Entstellung neben der Stimme nur die "alten, schönen Augen" behalten – aber es ist der Sehsinn allein in dieser Geschichte mitnichten Gewähr für die Stabilisierung von Repräsentation: "Aber es waren nur vorüberziehende Gedanken, der er nicht haschen konnte, wie etwa eine Schneeflocke, die zerfließend vor dem Auge dessen vorübersinkt, der auf dem Atlas wandert."

"So schleifte nun die Zeit hin." Geschleift werden noch die Trümmer der "todten" und "verschollenen" Römerstadt, alles ist nur "Wüste aus, Wüste ein" und "die zerstörte [wird] noch einmal zerstört". Wo alles fließt und vergeht, zertrümmert und verweht wird, ist auch die Figur des Menschen von schwankender Gestalt. So wird "Abdias" die Geschichte vor allem einer Übergängigkeit, der zwischen Tier und Mensch. Als alles zerstört ist "knatterte er mit den Zähnen, wie eine Hyäne der Berge". Eine Tochter wird ihm geboren, während aber Deborah "wie ein hilfloses Thier verblutet". Er liebt sie, Ditha, die Tochter, das "neugeborne Kind, das noch gar kein Mensch, ja noch nicht einmal ein Thier ist" (als Blume wird sie ein ums andere Mal noch apostrophiert). Und an die Stelle Deborahs tritt beinah', als "Aftermutter", die Eselin Cola und Abdias "war sie ordentlich kein Thier mehr", kein Wunder, dass sie "mit großen verständigen Augen" ihn anblickt. Und als sie das Mittelmeer überquert haben, als sie an Land kommen und Europa erreichen (das "bücherreiche" Europa), heißt es: "auf allen Dreien lag dasselbe Grau der Wüste und Entfernung, wie auf den Thieren der Wilniß eine fremde und verwitterte Farbe zu liegen pflegt". Noch in der neuen Heimat, die keine wird, gibt es, bevor Ditha ihre Sehkraft gewinnt, ist da vor allem einer, Philo, der Hund: "Von s e h e n d e n Wesen liebte ihn nur eines, und gegen dieses eine war er nicht geizig – es war Philo, der Hund, den er einst, da man dessen Mutter erschlagen hatte, und er noch blind war, aufgelesen und erzogen hatte." In Philo – dem er, der die Liebe schon im Namen trägt, "allerlei Liebesnamen" gibt – zeigt sich die "Verblendung des Mannes", und zwar so, "daß er dem Thiere alles Ernstes fast Menschenverstand beilegte". In merkwürdiger Weise und vielleicht gar erzählerischer Verblendung präfiguriert Stifter in dieser Philo-Geschichte das Schicksal Dithas, die durchs Wunder sehend und menschlich wird in Abdias' Obhut. Dafür aber muss – aber muss? es ist dies gerade die Frage der Notwendigkeit, die an den Erzähler zu richten ist, muss wirklich? oder ist es nur die verblendete Verfallenheit ans Setzen der eigenen Zeichen, das Werfen der Blumenkette von eigener Hand? –, es muss jedenfalls Philo sterben, von Abdias' Hand (seltsame Parallele zu Flauberts "Heiligem Antonius"). Und Abdias selbst – und der Erzähler mit ihm – ist verblendet in diesem Moment, denn es "glänzten seine [Philos] Augen widerwärtig, wie es Abdias nie gesehen". Darauf wird Abdias krank, und dies wiederum erweist sich als "einer der Wendepunkte des Glückes dieses Mannes", dessen Leben weder Gestalt noch Linie ergibt, sondern punktiert ist, ein Werfen und Wenden von Punkt zu Punkt.

So also stellt nach dieser Vorgeschichte die übliche Stifter-Installation anders sich dar, dem Fremden vor allem, der sich "mit Wunderähnlichkeit" im böhmischen Tal "an einen Thalbogen Mesopotaniens" erinnert fühlt – und doch tut, was ein Stifterheld tun muss, "bis endlich ein blankes weißes Haus von mäßiger Größe aus dem Grün des Bodens leuchtete und der Anfang eines Gartens gelegt wurde". Aber schon mit der Philo-Geschichte – mit ihren so seltsam christologischen Zügen – bricht in diese Installation das Ereignis als "Wendepunkt". Und was ist im Begriff des "Ereignisses" auch anderes angelegt als eben der "Wendepunkt", der das, was vorher war von dem, was hinterher ist, trennt; nicht aber nach Art von Ursache und Folge, sondern nach Art von Zeichen und Wunder. Und als Zeichen des Zeichens, als Markierung des Wunders, als Ereignis des Wendens, fährt der Blitz im Gewitter nieder und wieder geschieht dies am Tier: "der Blitz war in Ditha's Zimmer gefahren, und seltsam – er hatte Decke und Boden durchschlagen, daß dicker Staub im Zimmer war, er hatte die eisernen Drähte des Käfichs, in dem das Schwarzkehlchen war, dessen Singen Ditha so erfreute, niedergeschmolzen, aber der Vogel saß gesund auf seinem Sprossen". Durch diesen Blitz aber wird Ditha wundersam sehend. Selbstkommentar des Erzählers: "Dies Ereigniß ist die erste der zwei wunderbaren Begebenheiten, die wir oben zu erzählen versprachen, und wir gehen nun weiter in dem jetzt doppelt geschlungenen Leben, bis wir auf die zweite gelangen." Ereigniß und Fortgang und doppelte Schlingung, Versprechen und Erzählen. Es ist dies Hereinbrechen – aber als Versprochenes –, das Fortgehen – aber zum Wunder –, als doppelte Verschlingung, in denen das Paradox der Blumenkette hier Erzählung (und Kommentar der Erzählung) wird. Was nun folgt, ist eine Welt des Zwischen in mehr als einer Bedeutung. Zwischen den Wundern findet sich "das wahre und wahrhaftige Menschenleben", Gewinnung einer Welt für Ditha und Abdias, Einführung der Tochter "in die ungeheure Welt des Auges". Dies aber bleibt für Ditha Zwischenwelt, denn "Tag- und Traumleben" sind ihr nicht "gesondert", sondern "vermischt", sie wird ein "träumerisches sinnendes Wesen" und verfehlt nun als solches die Scheidung zwischen Mensch und Tier, als "eine redende Blume", ein "Engel" in einer "Welt aus Sehen und Blindheit". Inzwischen wird "der Garten vollendet", aber es verhilft dem Abdias nicht zur Heimat, er bleibt "ein fremder Baum in diesem Lande", seine Tochter "ein fremder Apfel auf diesem Baume", die Menschen Europas scheinen Maschinen. Das "wahre Leben" wird zum Leben in einer einsamen Zwischenwelt ohne Bindung an den Boden und die Menschen, die ihm angehören. Ditha singt "fremde leise Weisen, die sie erfand und die nicht zusammen hingen" und Abdias wirft "seine Beduinengedanken wie Geier des Atlasses in ihr Herz".

Und dann das zweite Wunder, Ereignis freilich, das längst schon seine Schatten vorausgeworfen hat. Ditha selbst noch hüllt sich in Bilder ihres eigenen Todes in der Rede von der "Linnenblüthe": "und wenn wir todt sind, hüllen sie die weißen Tücher um uns". Das sind ihre letzten Worte, dann stirbt sie, vom Blitz getroffen als "weicher Flamme", unversehrt. Damit wäre die Erzählung zuende – "was geschehen konnte, war ja geschehen" –, aber sie ist es nicht, denn Abdias lebt fort, Figur eines Nachlebens, "wie ein afrikanisch Raubthier" in den böhmischen Wäldern. Von hier aus, diesem Nachleben, wird die Geschichte erzählbar, denn so trifft der Erzähler ihn an. Er hält also das Ende der "Blumenkette" seines Lebens in Händen, aber auf die Frage "Warum nun dieß?" weiß die Erzählung nichts zu geben als das fortgesetzte Setzen von Zeichen, Vordeutungen und Wundern. Die Antwort auf die Frage "Warum nun die?" ist Motivierung und Behauptung des Ereignisses als Bruch mit ihr. Nun ist andererseits Erzählen genau die Unmöglichkeit dieses Bruchs, denn alles deutet und alles verweist - und das tut es in wundersamer Häufung auch und gerade im "Abdias", der noch dsa Bilden und Vergehen von Figuration selbst erzählend figuriert. Nichts also als rhetorische Antworten auf rhetorische Fragen. "Einfach und schlicht erzählen": Das ist, am Ende, der ganze Trick.

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