Monday, November 06, 2006

Adalbert Stifter: Turmalin

"Der Turmalin ist dunkel, und was da erzählt wird, ist sehr dunkel." So steht es geschrieben, als erster Satz der Erzählung. Der Satz ist wahr. "Turmalin" ist eine Geschichte des "Unzusammenhangs". Rätsel werden versprochen, Rätsel werden gegeben. Eine Vorgeschichte, eine Nachgeschichte: aus nicht demselben Mund gehen sie hervor. Sie hängen zusammen, aber während mancher Zusammenhang sich herstellt, geht und bleibt manch anderer verloren. Eine Frau verschwindet und kehrt nie wieder. Wir nähern uns der Wohnng, in der sie lebte, in Wien, mit dem Mann, den sie verließ, ins sehr Dunkle hinein. Wir nähern uns der Wohnung: Haus, Gang, Gitter, Glockenzug, Magd, Weg, Gang, Vorzimmer, Zimmer des Herrn. Nach einem langen Weg sind wir da. Der lange Weg ist ein beschriebener Weg, der Erzähler geht ihn nicht. Das Zimmer des Mannes ist tapeziert mit Bildnissen berühmter Männer. "Kein Stükchen auch nur handgroß" frei. Matratzen- und Rollleiterkonstruktionen zur Besichtigung der Männer, die nur eines sein müssen, warum auch immer, um hier zu hängen: berühmt. Ein Unzusammenhang der Häufung. Eine Ordnung ist das nicht. Auch sonst stehen im Zimmer Dinge herum: Flügel, Geigen, Flöte, Staffelei. Im Nebenzimmer dichtet er.

Wer hier lebt, ist der "Rentherr", er ist ein Mann von vierzig Jahren. Er hat eine Frau, sie ist dreißig, und eine Tochter, sie ist ganz klein. Im Zimmer der Frau und des Kindes hängt ein großes Bild, ein einziges, es zeigt die Frau und das Kind. Es gibt, in dieser Geschichte, auch einen anderen Mann. Es ist der Schauspieler Dall. Er hat einen Namen und er ist eine berühmte Persönlichkeit. (Hier wäre ein Zusammenhang herzustellen, zu den Wänden des Rentherrn. Wäre Dall Ausgeburt dieser Obsession? Aber wäre das nicht eher E.T.A. Hoffmann?) Er ist ein Schauspieler, der sich an seine Rollen verliert, die so keine sind. In seinem Spiel wird das Theater zur Wirklichkeit. (Eine andere Spielart des Wahnsinns.) Er kommt zu sich auf der Bühne und in Gesellschaft, er ist ein Chamäleon, aber was sich ändert – und so gleich bleibt – ist immer er selbst. Er ist das Selbst vieler Selbste. "Er lebte daher in Zuständen, und verließ sie, wie es ihm beliebte." Er ist ein Freund des Rentherrn – das lebende Gegenstück zur Berühmtheitstapete – und der Rentherr baut ihm einen Rollsessel, der vorhin noch nicht im Zimmer stand, und mit ihm hat die Frau des Rentherrn eine Affäre, die sie gesteht. Dall verschwindet, die Frau verschwindet. Dall kehrt wieder, die Frau nicht. Der Rentherr verschwindet, nach Jahren wird die Wohnung geräumt, das Inventar versteigert. Das Vergessen setzt ein und setzt sich durch. In der Großstadt ist alles im Wandel. Die Erzählung macht einen Strich

---------------------

Eine Frau, die den Künstler kannte, wird eingeführt. Aus ihrem Mund folgt das Weitere. Sie lebt mit ihrem Mann in der Vorstadt. Das Haus selbst ist in Zwischenlage: vorne die Hauptstraße, hinten Garten und Wald. Eine Erscheinung: Ein alter Mann und eine junge Frau mit viel zu großem Kopf. Etwas ist aus der Balance. Später, eine Erscheinung: Auf dem Weg von der Stadt in die Vorstadt Flötenspiel, unzusammenhängend, oder: verrückt zusammenhängend. "Was am meisten reizte, war, daß, wenn er einen Gang angenommen, und das Ohr verleitet hatte, mit zu gehen, immer etwas anderes kam, als was man erwartete, und das Recht hatte, zu erwarten, so daß man stets von vorne anfangen, und mitgehen mußte, und endlich in eine Verwirrung gerieht, die man beinahe irrsinnig hätte nennen können." Hier fällt das Wort vom "Unzusammenhang". Etwas geht in die Irre. Die Musik ist nur Mise-en-abyme einer dunklen Geschichte, die andere Gänge geht, als man erwarten darf.

Stifter gibt dem Irrsinn aber einen Ort. Der Irrsinn breitet sich nicht aus, er hat seinen Sitz in einer unterirdischen Wohnung im Perronschen Haus. (Das gibt es heute nicht mehr: unterirdische Wohnungen; das gibt es heute nicht mehr: das Perronsche Haus. "Turmalin" ist – das sagt schon der zweite Satz – eine "vergangene Geschichte".) Eine Begegnung: Die Erzählerin übergibt dem alten Mann, der jetzt der "Pförtner" ist – oder heißt: er erfüllt so wenig Pförtneraufgaben wie er als Rentherr Rente bekam -, ein Buch an einen Professor, der nicht weiß, dass es im Perronschen Haus einen Pförtner gibt. Wieder vergeht Zeit – bis ein weiteres "Merkmal" geschieht. Aus dem Vergangenen ragen Häuser im Abbruch und Merkmale im Vergessen. Ein Rabe taucht auf, der sich als Dohle erweist. Der Mann fällt von der Leiter und quetscht sich tödlich das Genick. Übrig bleibt, als Rest der Geschichte, als Aus- und Abfall der Erzählung das Mädchen mit dem großen Kopf. Es ist noch einmal Verkörperung des Unzusammenhangs. "Das Mädchen antwortete mir zu meinem Erstaunen in der reinsten Schriftsprache, aber was es sagte, war kaum zu verstehen. Die Gedanken waren so seltsam, so von Allem, was sich immer und täglich in unserem Umgang ausspricht, verschieden, daß man das Ganze für blödsinnig hätte halten können, wenn es nicht zum Theile wieder sehr verständig gewesen wäre." Es wird so viel gegangen im "Turmalin". Der Gang führt zur Wohnung. Der Gang des Flötenspiels führt in die Irre. Der "tägliche Umgang" ist anders. In den täglichen Umgang wird es, im Hin und Her zwischen der Wohnung des Irrsinns und der Wohnung der Kulturation in der Vorstadt, eingeführt. (Noch einmal: Das Haus zeigt nach vorne in die Stadt und nach hinten in die Natur, es ist ein Schwellenhaus.) Das Mädchen muss über die Schwelle, es muss in den zusammenhang. Der Kopf muss kleiner werden. Es muss die weibliche Hausarbeit lernen. Komplikation: Seine Natur ist Un-Natur. Es kann Literatur auswendig, es kann schöne Worte, aber es versteht sie nicht. Es spricht höchste Kultur wie tiefste Natur. (Es hat Umgang nur mit der Dohle. Sie verstehen einander.) Die Schriften des Mädchens tauchen auf, ihre "Ausarbeitungen": "Ich würde sie Dichtungen nennen, wenn Gedanken in ihnen gewesen wären, oder wenn man Grund Ursprung und Verlauf des Ausgesprochenen hätte enträthseln können. Von einem Verständnisse, was Tod was Umirren in der Welt und sich aus Verzweiflung das Leben nehmen heiße, war keine Spur vorhanden, und doch war dieses alles der trübselige Inhalt der Ausarbeitungen. Der Ausdruk war klar und bündig, der Sazbau richtig und gut, und die Worte, obwohl sinnlos waren erhaben." Das Mädchen spricht, nein: plappert, vollendet im Audruck die Sprache des Vaters, ohne sich Sinn und Schicksal aneignen zu können. Das Mädchen spricht schwärmerisch aus, was es nicht versteht. Es ist der reine Unzusammenhang von Sinn und Wort. (Aber im Riesenkopf zeigt sich das an. Er ist voll, aber voll Unverstand.) Der Kopf – der Arzt sagt, es sei "durch Wahnsinn des Vaters dieses Wuchern hervorgerufen" – wird durch Jodbäder "etwas kleiner und gebildeter". Durch weibliche Hausarbeit, gute Lektüre, "hauptsächlich aber durch Umgang" geschieht Einarbeitung des Mädchens in Kultur, gelingt es, "jene wilde und zerrissene ja fast unheimliche Unterweisung in einfache übereinstimmende und verstandene Gedanken umzuwandeln, und ein Verstehen der Dinge anzubahnen." So weit so gut. Der Rest ist Vergangenheit als vollständiges Vergehen des Geschehenen: "Der große Künstler ist längst todt, der Profeßor Andorf ist todt, die Frau wohnt schon lange nicht mehr in derVorstadt, das Perronsche Haus steht nicht mehr (...), und das junge Geschlecht weiß nicht, was dort gestanden war, und was sich dort zugetragen hatte." Hier macht die Erzählung wieder einen Strich. Den Schlussstrich

---------------------

0 Comments:

Post a Comment

<< Home