Sunday, October 29, 2006

Adalbert Stifter: Der späte Pfenning

Ersatz und Erstattung einer Erzählung durch eine Erstattungsparabel. Weil die Frau erkrankt, kommt der Autor nicht zum Erzählen und verfasst darum die Parabel von einem, der nichts als ein letztes Scherflein zum großen Werk beitragen kann, weil zuhause die Frau krank liegt. Aber die Erstattungsparabel geht ins Maßlose. Und mit der Fußnoten-Legende erstattet sie doch Bericht vom Selbstbild des Autors. Alles beginnt, in der Parabel, mit der Rodung, dem großen Werk der Kultivierung der Welt, der Errichtung des Hauses als Gotteshaus. Ein armer Mann in den Bergen kommt spät und hat wenig. Für eine Scheibe im Gotteshaus reicht es. Das alles nur Vorgeschichte. Die Zeit kommt wie das Feuer als Prüfung. Ein neues Werk, ein "Werk der Gedanken", der Wiedererrichtung des Gotteshauses. In der Verschreibung von Gedenken zu Gedanken ist die Textualität der Parabel angespielt. Das wiederholt sich, wenn von der Krankheit der Frau die Rede ist, denn ihr krankes "Antlitz verzehrte alle seine Gedanken". Es bleibt nur dies "Blatt" als Erstattung des Ausfalls, als Ersatz, der parabolisch für den Wiedereinsatz des Glases ins Gotteshaus steht. Ohne dies "Wieder" des Hineinschreibens in die Legende scheint es nicht zu gehen: dies der mythisierende Zug bei Stifter.

Adalbert Stifter: Granit

Spur und Stein und Zeichen. Alles spricht und ist lesbar. Oder: Alles wird lesbar gemacht im Erzählen. Von Stein zu Stein schließt sich der Kreis. Den Horizont gibt – als Horizont der Steine – das Unvordenkliche, das Außen der Zeit. Darein aber mit der Stimme des Großvaters der Eintrag der historischen Zeit als ein Sprechenmachen der Dinge. Oder ein Herauferzählen. Dinge werden Zeichen. Herstellung von Lesbarkeit. Und alles beginnt mit einer seltsam verschmierten Spurensetzung und Fehllektüre. Das Pech an den Füßen des Ich-Erzählers (der selbst, vom Stein an, seine Kindheit herauferzählt), die Spuren auf dem frisch geputzten Boden. Die Mutter liest sie falsch als Zeichen bösen Willens. Und als sich das klärt, fallen Steine vom Herzen.

Zeigen – Merken. Einführung in eine symbolische Ordnung der nächsten Nähe. Alles hat einen Namen und bekommt eine Bedeutung. Die Natur, die bleibt. Namen wie Steine. Und die Rauchsäulen als "shifter", die anzeigen, dass sich das, worauf sie verweisen, bewegt: "Darum haben auch die Rauchsäulen keine bleibende Stelle, und heute siehest du sie hier und ein anderes Mal an einem anderen Plaze." Die Ordnung der Dinge in der Natur als Lebenswelt: "Das ist das Leben der Wälder." Dieses Mal installiert und präpariert der Großvater als Erzähler den Ort als Schauplatz eines Geschehens, das darin eingetragen wird. Figuration der Erzählstimme – und Bewegung des Erzählens. Der Blick, der hier schweift und in der Erzählung Natur und Geschehen verknüpft, Wald und Natur der Lebenswelt in eine historische Sinnwelt transformiert, ist verkörperter Blick. Blick und Stimme machen das Tote lebendig und machen es sprechen von vergangener Zeit. Allerdings erzählt die Geschichte, die aus der Natur herausgelöst und herauferzählt wird, von Pest und Tod.

Die Erzählung selbst – als Erzählung der Herstellung von Lesbarkeit, als Verlebendigung der Dinge zu Zeichen, als Sprechenmachen der Welt – produziert selbst eine Übergängigkeit von Erzählwelt und erzählter Welt. Die Glocken tönen hier und da: "In dem Augenblike gleichsam wie durch die Worte hervor gerufen tönte hell klar und rein mit ihren deutlichen tiefen Tönen die große Gloke von dem Thurme zu Oberplan. (...). 'siehst du, Kind, diese Zunge sagt uns beinahe mit vernehmlichen Worten, wie gut und wie glüklich und wie befriedigt wieder alles in dieser Gegend ist.'" Die Ideologie des Ästhetischen als Allegorie der Verlebendigung. Das Tönen spricht mit Glockenzungen. Worte rufen Töne hervor, die wie Worte klingen. Die Ereignisangst des späteren Stifter. Das Geschehene, im Erzählen heraufgerufen, wird im Erzählen sogleich wieder gebannt. Die Zunge des Großvaters, die alles bedeutend macht, bannt die Bedeutung, indem sie noch die Glocke zur Zunge erklärt. Die Erzählung kommt dabei zu Hilfe und macht im "hell klar und rein" und "deutlich" die Transparenz von Sinn und Zeichen augenfällig. Dabei ist hier, an dieser frühen Stelle, mitten in der Erzählung von Tod und Pest, diese Befriedigung eine Vorbeugemaßnahme.

Und die Verunsicherung folgt sofort. Nichts ist je sicher, das Helle, Klare, Reine muss stets aufs Neue behauptet, die Transparenz des Bedeutens immerzu hergestellt werden. Bannung ist ständiger Auftrag. Der Glockenschlag als Zeichen im Verfall: "Einstens wurde dieses Zeichen sehr beachtet." Heute nicht mehr. Zur Verfallsgeschichte des Zeichens sogleich eine Mahngeschichte vom Oheim Simon, der im Sterben die Glocken noch einmal hören wollte. Allein sie schwiegen – geht die Erzählung. Und sogleich schweigen sie auch im Rahmen, der die Erzählung ist. Und die jetzt weiter geht. Aber mit Mühe, denn die Sohlen der Stiefel sind abgeschliffen. Das Verschleifen von Schritt und Tritt ist fatal: "auf diesem Grase muß man den Tritt gleich hinstellen, daß er gilt". Und: "Siehst du, alles muß man lernen, selbst das Gehen." Dies ist kein romantischer Text. Die Natur spricht nicht. Sie wird sprechen gemacht. Unaufhörliche Produktion von Lesbarkeit. Unaufhörliche Bannung des Erzählten im Erzählen. Und alles wird Merkzeichen – sei es als Zeichen, das ans Zeichenzeigen erinnert: "Merke dir den Baum, und denke in späten Jahren, wenn ich längst im Grabe liege, daß es dein Großvater gewesen ist, der ihn dir zuerst gezeigt hat." Das Zeigen als Machen von Zeichen ist das eigentliche Ereignis: als Verankerung eines gemachten Bedeutens. Der Großvater hat bei seiner Memorialinstallation an alles gedacht.

Damit ist alles gerichtet. Nun kann erzählt werden. Es ist, im Erzählen, auch Raum für den Intertext: Die Burg und der See verweisen – ohne dass der Großvater es aussprechen kann – auf Stifters "Hochwald". Aber im Hereinerzählen des Intertexts, der hier seine nachträgliche Stiftungserzählung erhält, wird noch das eigene Erzählen (Stifters) im Bedeutungs- und Zeichenmachen des Großvaters verankert. Zeigen – Merken – Andenken: So hat das Erzählen seine Ordnung. Und erzählt von Unordnung und Vergeblichkeit: "Es hat aber alles nichts geholfen." Das ausgemachte Rauchsäulen-Zeichen geht ins Leere und rettet niemanden. Auf die Zeichen ist – davon erzählt die Geschichte, die die Merkzeichen verlebendigt, die die Dinge zu Zeichen erst macht – auf die Zeichen ist kein Verlass. Wie Adam und Eva müssen die Kinder noch einmal beginnen, von vorne, im Wald. Der Rest ist dann schnell erzählt. Trennung, Wiederbegegnung, Übernahme des Schlosses. Übergang ins Märchen. "Siehst du, da bekam er ein Schloß, er bekam Felder, Wiesen, Wälder, Wirthschaften und Gesinde, und wie er schon in der Jugend verständig und aufmerksam gewesen war, so vermehrte und verbesserte er alles..." Das ist die schale Nutzanweisung: "verständig und aufmerksam". Es folgt der Halbschlaf, die Bespritzung mit Weihwasser. Es folgt der Traum, als Alptraum, der in den Frieden hinübergleitet.

Und es geht das Ende dann doch ins Leere. Das letzte Wort hat die Notiz vom Ausfall der Initialerinnerung. Wie wurden die Spuren des Pechs getilgt? Die Spur des Merkens verliert sich im fortgesetzten Vergessen, ja das Erinnern ist errichtet über dieser Krypta der ersten Spur: "Wie es aber auch seltsame Dinge in der Welt gibt, die ganze Geschichte des Großvaters weiß ich, ja duch lange Jahre, wenn man von schönen Mädchen redete, fielen mir immer die feinen Haare des Waldmädchens ein: aber von den Pechspuren, die alles einleiteten, weiß ich nichts mehr, ob sie durch Waschen oder durch Abhobeln weggegangen sind, und oft, wenn ich eine Heimreise beabsichtige, nahm ich mir vor die Mutter zu fragen, aber auch das vergaß ich jedes Mal wieder."

Wednesday, October 25, 2006

Adalbert Stifter: Der Waldgänger

Mit einer autobi/bli/ografischen Selbstauskunft beginnt die Erzählung. An einem "Scheidepunkte" steht der "Verfasser dieser Zeilen" und blickt aus herrliche Gebirge zum einen, auf die "einfacheren unbedeutenden Gegenden" zum anderen. Das Grenzenlose hat er hinter sich, die Liebe auch und die Zukunft. Er blickt zurück auf das – nämlich die "unbedeutenderen Theile" –, was vergangen ist, wieder und wieder kehren das "Scheiden" und die "Theile" und der "Scheidepunkt" und die "Scheidelinie" gehen über in die "Schneidelinie". Scheiden und Schneiden, darauf wird es hinauslaufen beim "Umschwung der Dinge", von dem meta-poetisch "Der Waldgänger" erzählt. Mit dem "Waldgänger" unterwirft sich das Werk der "sanften Gewalt" des sanften Gesetzes, Stifter ist auf dem Weg zum Vorwort der "Bunten Steine", ja, beinahe ist er, auf dem Weg in den Wald, schon da. Man lese: "Wie war seit jenen Jahren alles anders geworden! Jedes Ungeheure und Außerordentliche, welches sich in der Zukunft des Wanderers vorgespiegelt hatte, war nicht eingetreten, jedes Gewöhnliche, was er von seiner Seele und seinem Leben ferne halten wollte, war gekommen – an jenem Morgen, wo er (...) geschieden war, und wo er dann von der Scheidelinie in das Land zurück schaute". Mit dem Scheiden teilt sich der Blick und wendet sich die Richtung. Von nun an blickt das Erzählen zurück, auf das Unscheinbare, das Bedeutungslose.

Erzählen ist Erinnern als Aufgabe der Gegenwart; aufgegeben aber, als Enttäuschung und Entsagung, ist die Zukunft. Und was ist beim Blick zurück zu sehen, in der Re-Situierung des Erzählens: "Tief zurück im Reiche der Erinnerungen steht ein alter Mann", an dem nur eines bemerkenswert ist, nämlich seine "Unscheinbarkeit", seine "einförmige, harmlose Gestalt". Dies ist der "Waldgänger", dessen unendlich traurige Geschichte erzählt wird. Aber nicht sofort. Denn lange befasst sich der Erzähler mit dem Ende des Lebens. Mit der topografischen Situierung dieses Lebens in der "kahlen", "kleinen", "zersplitterten" Gegend, in die der Böhmerwald ausläuft. Niedrig und grau sind die Häuschen. Ausführlich beschrieben wird die "Leuchte", das Herd- und Abendfeuer, das "Traulichkeiten" und "Gehäbigkeiten" künstlich produziert. Von einer "Teufelsmauer" ist die Rede, die zu vollenden, Steine auf Steine häufend, aber "zu viele kleine Steine" nehmend, dem Teufel nicht gelang. In dieser Gegend und diesen Geschichten "verweilt mit Worten" der Erzähler und findet erinnernd den Waldgänger als "einen der da ist". Als einen, der da ist und da geht – in den Wald -, einen, der Schmetterlinge sammelt, auf denen der Erzähler nun auch, fein differenzierend, lange mit Worten verweilt. Das Verweilen ist wichtig und typisch für die Bewohner des Landes ist es auch, denn die "haften" an "ihren einmal angenommenen Dingen". So auch der Erzähler, der allerdings den Fremden und das Fremde erlebt als etwas, das "Mißtrauen" bringt gegen "die Sprache, die wir redeten". Die Fremde, das Fremde erscheint so als etwas, das ins Haften des Eigenen, in die Beharrungskraft von Wort und Namen, latent immer eingetragen ist. Dem Waldgänger gesellt sich der Sohn eines "Hegers". Diesen hegt nun der Waldgänger als angenommener "Vater" und bringt ihm das Lesen und Schreiben bei. Er befreit ihn aus der Befangenheit und Gefangenheit im Eigenen, einer Fixierung auf "Hohenfurt" (immerzu baut der Junge ein "Hohenfurt", das er nicht kennt), aber mit dieser Befreiung gibt der Waldgänger den angenommenen "Sohn" auch frei an eine Zukunft, zu der er nicht mehr gehört. Zum Weggang, der bevorsteht, und der Wiederholung eines ewigen Weggehens des Jungen vom Alten, gibt es im Wald eine Kontrafaktur. Adam, der Abdecker, lebt mit Kind und Kindeskindern verwurzelt am Ort, von dem keiner der Seinen je schied. Dies aber ist, als aus dem Leben der Gesellschaft zweischneidig Ausgeschiedenen, nur den Abdeckern als mögliches Schicksal beschieden.

Das "Gesetz der Natur", wie der Waldgänger (und der "Waldgänger") es beschreibt, sieht anders aus und wird im Bild von der Pflanze erläutert: "Die Liebe geht nur vorwärts, nicht zurück. Das siehst du ja schon an den Gewächsen: der neue Trieb strebt immer von dem alten weg in die Höhe, nie zurück; der alte bleibt hinten, wächst nicht mehr und verdorrt. Und wenn auch die Zweige bei einigen zurück zu gehen scheinen und nach abwärts streben, so ist es nur, daß sie die Erde berühren, um einen neuen Stamm zu gründen, der den Platz verlassend sogleich wie ein Pfeil in die Höhe schießt." Diesem Gesetz folgt der Sohn des Hegers, den Georg als Sohn angenommen hat, um ihm die Zukunft zu öffnen. Mit seinem Verschwinden verliert sich auch die Spur des Waldgängers, zurück bleiben nur "die sehr schwer mit Nägeln beschlagenen Schuhe", die nun – in Wald und Geschichte – keine Spur mehr hinterlassen werden. Und damit endet der erste Teil, "Am Waldhange", der die Vorgeschichte des Waldgängers als Nachgeschichte präfiguriert. Diese präfigurative Verstrickung, könnte man sagen, ist das Gesetz, dass das Erzählen sich hier gibt, als Fügung ins als vergangen Folgende und Resignation.

Ob die Vorgeschichte als "eigentliche" Geschichte dieselbe Lektion erteilt, ist die Frage. Ein "ganzes Menschenalter" früher, am anderen, waldlosen Ort setzt das Erzählen im zweiten Kapitel, "Am Waldhange", nun ein. Aber "abgeschieden" auch diese Gegend, voller "Streifen" und "Linien", ein "Punkt", ein "Strich", das alles "abgetrennt" vom Rest der Welt. Beschrieben werden die Eltern des späteren Waldgängers, werden Haus und Garten, wird die Produktion der "Reinlichkeit" im Haus, wo "jedes rein glatt und scharf" ist, der Ordnung halber. Der Sohn geht in die Stadt, an die Universität, bleibt Einzelgänger. Die Eltern sterben, er gibt das Brotstudium auf, widmet sich seinen Interessen ("Mathematik, Naturwissenschaft, mechanische Wissenschaften und Baukunst"). Umgang mit Menschen hat er kaum, er bleibt fremd unter Fremden, wird und bleibt etwas "Wildes" und wendet sich zur Natur, "gleichsam zu Dingen, die schon an und für sich da sind, die ihm nichts wollen". Er geht in die Natur, in den Wald, er ist dreißig, als er ein Mädchen kennenlernt. Ein weiterer erzählerischer Rückgriff auf die Geschichte der Eltern des Mädchens. Eine Erzählung von Hybris und Verfehlung, der Entfaltung falscher Pracht und tiefen Unglücks der Mutter. Eine Verfehlung, könnte man vielleicht sagen, der Dinge, wie sie sind, ein Überhäufen und Übermaß. Die Mutter stirbt, der Vater geht bankrott, das Leben Elisabeth Eleonore Coronas beginnt bei der Großmutter von vorne. Unter anderen Menschen ist sie, wie Georg, "ein seltsamer und fremder Gegenstand". Corona begibt sich in die Dienste einer Gräfin, für die Georg einen Bau entwirft. Die Fremde und der Fremde finden einander. "Da er nun sah, daß sie so allein sei, wuchs sie immer mehr in sein Wesen, daß er sie durch die dunklen Bäume des Gartens mit sich zu seinem Baue trug."

Wie figurativ, so dann literal. Die beiden treten in ein "neues Verhältnis", schließen eine "Verbindung". Erst ziehen sie in ein Häuschen zu einer Witwe. Corona bestellt das Haus und macht es zum "Tempel der Reinlichkeit". Die Kinder aber bleiben aus. Georg erbaut ein weißes Haus am Waldhang, und einen Garten. Dieser "sollte bis zu dem Walde zurückgehen, in den er sich unkenntlich verliere." Bau und Natur finden zueinander, "bis sich die Roheit und Neuheit verwischte", auch der Garten "begann ebenfalls aus seinem Urzustande herauszutreten". Man zivilisiert sich und das Wilde und bleibt der Mitwelt doch fremd. Auch die Kinder bleiben weiterhin aus als der Wunsch, der allem die "Krone augesezt hätte". Seltsamer Auftritt eines Kindes, das Klavier spielt und die Musik, die es spielt, versteht: "es lag hier ein Stück Reinheit und Schönheit menschlicher Seele gleichsam nackt und willkürlich da". Dies Auftreten wird Anlass. Corona, die das Haus "unbedingt rein und klar" hält, die "reinigte" und "hegte", setzt der Ehe der Krone auf, indem sie entsagt. Sie will, auf dass die Kinder in neuer "Verbindung" kommen, die Scheidung und beschreibt die Ehe als "mißgeschlungenes Band". Es wird nicht sogleich entschieden. Sie gehen in den Garten. Zeit geht dahin und Zeit geht dahin. Das "Ergebniß der Zeit": Die Scheidung. "Beide konnten jetzt dem Plane gemäß frisch und frei an den Bau des noch übrigen, künftigen Lebens gehen, als wäre es ein anfangsfähiges ursprüngliches gerade aus der ersten Hand des Schicksals gegebenes."

Drittes Kapitel, "Am Waldrande". Die Verfehltheit der Entscheidung zeigt sich im Mißverhältnis der so beschriebenen Lage. Dieser neue Anfang, obgleich Georg noch einmal heiratet und tatsächlich zwei Kinder zeugt, ist ein falscher Schein. Er steht im Widerspruch zum Gesetz der Natur. Die Kinder ziehen davon und lassen den Vater zurück. Er wird, am ähnlichen Ort, zu dem es ihn zieht und zu dem es sie zog, Corona wieder begegnen, die entsagt hat. Sie sprechen miteinander, sie trennen sich wieder, "und der acht und fünfzigjährige Mann weinte die ganze Nacht." Die Einsicht in die eigene Verfehlung macht ihn zum Waldgänger, der sein eigenes Leben überlebt hat. Der sich nur in der Wiedreholung wird eingerichtet haben können. Er schickt seinen angenommenen Sohn ein weiteres Mal davon. Es bleibt keine Spur im Erzählen. So wenig von ihm wie von Corona. Die Entsagung war ein Versagen. Das Scheiden als falsche Entscheidung ist der Geschichte von Anfang an eingeschrieben; aber der Verdacht drängt sich auf, noch das Vergehen ist Erfüllung des Scheide-Gesetzes der Natur.

Monday, October 23, 2006

Adalbert Stifter: Abdias

Die Eröffnung der Erzählung und die Erzählung selbst verhalten sich zueinander wie ein Rätsel und seine – freilich, wie es scheint, verweigerte – Lösung. Das Rätsel, das das Leben des Abdias dem Betrachter, als der der Erzähler sich hier ausgibt, stellt, ist das nach dem Grund für das, was einem widerfährt: "Warum nun dies?" Also die Frage nach Schicksal und Vorsehung. Recht heillos verstrickt sich der Erzähler bei der theoretischen Antwort auf diese Frage in eine große Metapher, die Metapher von der "heit're [n], blumenreiche[n] Kette" von "Ursachen und Wirkungen". Als lückenlose Kette enthält sie noch den Betrachter selbst – die Vernunft als "Auge der Seele" –, die hinten und vorne und Sinn und Verursachung erkennt. (Das wäre freilich der paradoxale Kern der Verstrickung: Wie soll der Betrachter als Teil der Kette auf die Kette als Ganze blicken können, schon gar, wenn er sich selbst noch – zählend, erzählend – zu "jener Hand, welche das Ende der Kette hält" hinabbewegen muss? Eva Geulen stellt fest, dass diese Hand nur die des Erzählers selbst sein kann – damit ist das Paradox scharf benannt, aber nicht aufgelöst.) Der Wurf der Metapher geschieht in einem langen, von Gedankenstrichen unterbrochenen, oder über Gedankenstriche und das, was sie als Nebengedanken einräumend absondern, sich erläuternd fortsetzenden langen Satz. Dieser Satz freilich schiebt sich und die als Ende der Kette in Aussicht gestellte Lösung selber auf und vertröstet auf ein "dereinst", das recht besehen nichts anderes sein kann als das Ende der Welt und also, noch rechter besehen, eine göttliche, keine menschliche Perspektive mehr. Nur konsequent, dass der Erzähler – bei Lichte besehen natürlich der Entwerfer dieser lückenhaften Kette, als die das Leben des Abdias sich darstellt - sich erklärtermaßen darauf beschränkt, "einfach und schlicht von einem Manne zu erzählen" und diese Erzählung als exemplarisch, aber wohl exemplarisch für die Unlösbarkeit des Problems im Hier und Jetzt des Erzählens selbst zu präsentieren.

Es ist die Geschichte des Abdias etwas wie eine mögliche Vorgeschichte zu all den Erzählungen, in denen Stifter bisher einen Mann und eine Tochter in ein Haus in den Wäldern der Heimat installierte. Der "Abdias" erzählt diese Vorgeschichte aber als eine der irreduziblen Fremdheit und damit auch der Dissoziation von Mensch und Raum. Kaum wirtlich ist schon der Ort der Herkunft des Juden Abdias, die Römerstadt, die in der Wüste kaum existiert, ein versteckter Winkel in den Falten der Repräsentation. Die Römerstadt "ist", anders gesagt, fast nicht und fast das Nichts. Abdias, als Hiob und Ahasver, ist darum selbst an den Grenzen menschlicher Figuration angesiedelt. Enstellt wird er im Blick der Frau, die er liebt, der "schönäugigen Deborah", nicht wieder – oder niemals – ganz. "Abdias" ist auch eine letztlich unheimliche Augenerzählung, von der Vernunft als "Auge der Seele" über die schönäugige, aber auf ihre Art blinde Deborah mit "nur leiblichen Augen", bis zur blinden, dann triumphal sehenden Ditha. Abdias selbst hat in der Entstellung neben der Stimme nur die "alten, schönen Augen" behalten – aber es ist der Sehsinn allein in dieser Geschichte mitnichten Gewähr für die Stabilisierung von Repräsentation: "Aber es waren nur vorüberziehende Gedanken, der er nicht haschen konnte, wie etwa eine Schneeflocke, die zerfließend vor dem Auge dessen vorübersinkt, der auf dem Atlas wandert."

"So schleifte nun die Zeit hin." Geschleift werden noch die Trümmer der "todten" und "verschollenen" Römerstadt, alles ist nur "Wüste aus, Wüste ein" und "die zerstörte [wird] noch einmal zerstört". Wo alles fließt und vergeht, zertrümmert und verweht wird, ist auch die Figur des Menschen von schwankender Gestalt. So wird "Abdias" die Geschichte vor allem einer Übergängigkeit, der zwischen Tier und Mensch. Als alles zerstört ist "knatterte er mit den Zähnen, wie eine Hyäne der Berge". Eine Tochter wird ihm geboren, während aber Deborah "wie ein hilfloses Thier verblutet". Er liebt sie, Ditha, die Tochter, das "neugeborne Kind, das noch gar kein Mensch, ja noch nicht einmal ein Thier ist" (als Blume wird sie ein ums andere Mal noch apostrophiert). Und an die Stelle Deborahs tritt beinah', als "Aftermutter", die Eselin Cola und Abdias "war sie ordentlich kein Thier mehr", kein Wunder, dass sie "mit großen verständigen Augen" ihn anblickt. Und als sie das Mittelmeer überquert haben, als sie an Land kommen und Europa erreichen (das "bücherreiche" Europa), heißt es: "auf allen Dreien lag dasselbe Grau der Wüste und Entfernung, wie auf den Thieren der Wilniß eine fremde und verwitterte Farbe zu liegen pflegt". Noch in der neuen Heimat, die keine wird, gibt es, bevor Ditha ihre Sehkraft gewinnt, ist da vor allem einer, Philo, der Hund: "Von s e h e n d e n Wesen liebte ihn nur eines, und gegen dieses eine war er nicht geizig – es war Philo, der Hund, den er einst, da man dessen Mutter erschlagen hatte, und er noch blind war, aufgelesen und erzogen hatte." In Philo – dem er, der die Liebe schon im Namen trägt, "allerlei Liebesnamen" gibt – zeigt sich die "Verblendung des Mannes", und zwar so, "daß er dem Thiere alles Ernstes fast Menschenverstand beilegte". In merkwürdiger Weise und vielleicht gar erzählerischer Verblendung präfiguriert Stifter in dieser Philo-Geschichte das Schicksal Dithas, die durchs Wunder sehend und menschlich wird in Abdias' Obhut. Dafür aber muss – aber muss? es ist dies gerade die Frage der Notwendigkeit, die an den Erzähler zu richten ist, muss wirklich? oder ist es nur die verblendete Verfallenheit ans Setzen der eigenen Zeichen, das Werfen der Blumenkette von eigener Hand? –, es muss jedenfalls Philo sterben, von Abdias' Hand (seltsame Parallele zu Flauberts "Heiligem Antonius"). Und Abdias selbst – und der Erzähler mit ihm – ist verblendet in diesem Moment, denn es "glänzten seine [Philos] Augen widerwärtig, wie es Abdias nie gesehen". Darauf wird Abdias krank, und dies wiederum erweist sich als "einer der Wendepunkte des Glückes dieses Mannes", dessen Leben weder Gestalt noch Linie ergibt, sondern punktiert ist, ein Werfen und Wenden von Punkt zu Punkt.

So also stellt nach dieser Vorgeschichte die übliche Stifter-Installation anders sich dar, dem Fremden vor allem, der sich "mit Wunderähnlichkeit" im böhmischen Tal "an einen Thalbogen Mesopotaniens" erinnert fühlt – und doch tut, was ein Stifterheld tun muss, "bis endlich ein blankes weißes Haus von mäßiger Größe aus dem Grün des Bodens leuchtete und der Anfang eines Gartens gelegt wurde". Aber schon mit der Philo-Geschichte – mit ihren so seltsam christologischen Zügen – bricht in diese Installation das Ereignis als "Wendepunkt". Und was ist im Begriff des "Ereignisses" auch anderes angelegt als eben der "Wendepunkt", der das, was vorher war von dem, was hinterher ist, trennt; nicht aber nach Art von Ursache und Folge, sondern nach Art von Zeichen und Wunder. Und als Zeichen des Zeichens, als Markierung des Wunders, als Ereignis des Wendens, fährt der Blitz im Gewitter nieder und wieder geschieht dies am Tier: "der Blitz war in Ditha's Zimmer gefahren, und seltsam – er hatte Decke und Boden durchschlagen, daß dicker Staub im Zimmer war, er hatte die eisernen Drähte des Käfichs, in dem das Schwarzkehlchen war, dessen Singen Ditha so erfreute, niedergeschmolzen, aber der Vogel saß gesund auf seinem Sprossen". Durch diesen Blitz aber wird Ditha wundersam sehend. Selbstkommentar des Erzählers: "Dies Ereigniß ist die erste der zwei wunderbaren Begebenheiten, die wir oben zu erzählen versprachen, und wir gehen nun weiter in dem jetzt doppelt geschlungenen Leben, bis wir auf die zweite gelangen." Ereigniß und Fortgang und doppelte Schlingung, Versprechen und Erzählen. Es ist dies Hereinbrechen – aber als Versprochenes –, das Fortgehen – aber zum Wunder –, als doppelte Verschlingung, in denen das Paradox der Blumenkette hier Erzählung (und Kommentar der Erzählung) wird. Was nun folgt, ist eine Welt des Zwischen in mehr als einer Bedeutung. Zwischen den Wundern findet sich "das wahre und wahrhaftige Menschenleben", Gewinnung einer Welt für Ditha und Abdias, Einführung der Tochter "in die ungeheure Welt des Auges". Dies aber bleibt für Ditha Zwischenwelt, denn "Tag- und Traumleben" sind ihr nicht "gesondert", sondern "vermischt", sie wird ein "träumerisches sinnendes Wesen" und verfehlt nun als solches die Scheidung zwischen Mensch und Tier, als "eine redende Blume", ein "Engel" in einer "Welt aus Sehen und Blindheit". Inzwischen wird "der Garten vollendet", aber es verhilft dem Abdias nicht zur Heimat, er bleibt "ein fremder Baum in diesem Lande", seine Tochter "ein fremder Apfel auf diesem Baume", die Menschen Europas scheinen Maschinen. Das "wahre Leben" wird zum Leben in einer einsamen Zwischenwelt ohne Bindung an den Boden und die Menschen, die ihm angehören. Ditha singt "fremde leise Weisen, die sie erfand und die nicht zusammen hingen" und Abdias wirft "seine Beduinengedanken wie Geier des Atlasses in ihr Herz".

Und dann das zweite Wunder, Ereignis freilich, das längst schon seine Schatten vorausgeworfen hat. Ditha selbst noch hüllt sich in Bilder ihres eigenen Todes in der Rede von der "Linnenblüthe": "und wenn wir todt sind, hüllen sie die weißen Tücher um uns". Das sind ihre letzten Worte, dann stirbt sie, vom Blitz getroffen als "weicher Flamme", unversehrt. Damit wäre die Erzählung zuende – "was geschehen konnte, war ja geschehen" –, aber sie ist es nicht, denn Abdias lebt fort, Figur eines Nachlebens, "wie ein afrikanisch Raubthier" in den böhmischen Wäldern. Von hier aus, diesem Nachleben, wird die Geschichte erzählbar, denn so trifft der Erzähler ihn an. Er hält also das Ende der "Blumenkette" seines Lebens in Händen, aber auf die Frage "Warum nun dieß?" weiß die Erzählung nichts zu geben als das fortgesetzte Setzen von Zeichen, Vordeutungen und Wundern. Die Antwort auf die Frage "Warum nun die?" ist Motivierung und Behauptung des Ereignisses als Bruch mit ihr. Nun ist andererseits Erzählen genau die Unmöglichkeit dieses Bruchs, denn alles deutet und alles verweist - und das tut es in wundersamer Häufung auch und gerade im "Abdias", der noch dsa Bilden und Vergehen von Figuration selbst erzählend figuriert. Nichts also als rhetorische Antworten auf rhetorische Fragen. "Einfach und schlicht erzählen": Das ist, am Ende, der ganze Trick.

Friday, October 20, 2006

Adalbert Stifter: Der Waldsteig

Ein Held, den Stifter im ersten Satz beim Namen nennt – allerdings nicht dem richtigen -, ist kein rechter Stifterheld. (In gewisser Weise wird er aber doch dazu, dadurch, dass die Frau, die ihn lieben wird, den wahren Namen dann beglaubigt.) Schon der Selbstkommentar ist beinahe Ernst zu nehmen: "Die Geschichte ist im Grunde sehr einfältig, und ich sollte sie gar nicht erzählen, aber der Waldsteig ist einmal zu prächtig." Am Waldsteig nämlich erlebt der Held, Theodor "Tiburius" Kingston, seine Bekehrung. Zuvor war er Hypochonder und Narr. Dann geht er in die Irre. Und kehrt, in der Hoffnung auf Wiederholung – wie übrigens fast haargenau im selben Jahr ein pseudonymer Däne nach Berlin – zum Steig zurück und verirrt sich nicht wieder. Statt der Irre findet er eine Erdbeerfrau. Das wiederholt sich dann und schon sind sie einander versprochen.

Die Pathologie hat ihren Grund in katastrophaler Pädagogik. Er wird zu lakonischer Kürze im Sprechen genötigt – und die "Tacitus'sche Kürze" führt dazu, dass er "lieber Mädchen- als Knabenspiele" treibt. Der (weiblich konnotierte) Drang zur Rede sucht sich Bahn im Mädchenspiel. Nach dem Tod der Erzieher wird überkompensiert. Er kauft in Unmengen Dinge, mit denen er nichts anzufangen weiß. Er schließt sich ein im verschatteten Haus. Dann befreundet er sich mit einem Doktor, der keiner ist, und doch den rechten Rat weiß. Er schickt ihn in den Badeort. Dort lernt er, wie prophezeiht, wenn auch durch Abweg und Wiederholung, die Frau kennen. Die Geschichte wird damit, als unernste Version des "Hagestolz", erzählt worden sein. Die am Beginn, mit Nennung des Namens, schon erfolgte Einrichtung ins Leben wird als Nachgeschichte einer Vorgeschichte - wie einfältig auch immer - ihre Erklärung und ihren Ort gefunden haben: "Mein Freund, Herr Tiburius Kingston, hat jetzt das schönste Landhaus (...), er hat die schönsten Blumen und Obstbäume darum (...), er hat ein schöneres Weib als je auf der Welt gewesen sein kann (...), und er ist jetzt wieder sechs und zwanzig Jahre alt, da er doch noch vor Kurzem über vierzig gewesen ist." Die Wiederholung, als chronologisch verrückte Wiederherstellung eines Zustands, der nie gewesen, ist möglich.

Thursday, October 19, 2006

Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters (Studienfassung)

"Längst vergessen" ist Egesippus, dessen Motto der Erzählung voransteht – eine Ironie, denn ums Erinnern von "dicta factaque" geht es im Motto selbst wie auch in der Erzählung. Freilich treten, bezeugt durchs Geschriebene, das was heute erzählt wird, und das, was einst getan wurde, auseinander und erzeugen so Legenden. Möglich wird dies im Bruch der Generationenkette, die vor allem "Bruchstücke im Munde der Leute" bewahrt, die das Ganze des Gewesenen in das Hören und Sagen von Worten auflösen. Im Rahmen, in dem Stifter nah am biografischen Ich bleibt, geht es um das Finden von "Dingen", die zeugen, aber beinahe schon sprachlos geworden sind. Denkmale, die freilich "verkommener und trüber" werden und mehr ans Denken gemahnen als ans wirklich Geschehene selbst. Ein solches melancholisches Mahnen ist recht eigentlich auch dieser Rahmen, der die eigenen Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft setzt, aber als etwas, das sich – über kurz oder lang – abschneiden wird von dieser wie jener. Was war, ist vergessen, was ist, wird vergessen sein. Zwischen diesem und jenem Vergessen ruhen erstarrend die Dinge und Worte, "dicta factaque", als verstummende Denkmale in modernden Truhen, auf dem Weg immer schon zum Plunder und Abfall. (Diese Denkmale kehren wieder, in der Geschichte, etwa in der Einsenkung gegenwärtiger Dinge ins Fundament eines Hauses. Dies Haus freilich wird am Ende der Erzählung nicht mehr stehen, ein Satz löscht es aus: "ich muss endlich erzählen, wie das obere Haus weggekommen ist"...)

Dagegen steht, wie in der "Narrenburg" – und in der ersten Fassung ist die "Mappe" noch Teil des geplanten "Scharnast"-Zyklus – ein Lebensaufschreibeprojekt. In der "Studien"-Fassung ist es gelöst aus der genealogischen Folge des Unseligen und eingefügt in die Sorte Adoptivgenealogie, die sich bei Stifter so häufig findet. Ein älterer Mann und ein junger – der Obrist hier und der Doktor, der der Urgroßvater des Rahmenerzählters ist - adoptieren einander als Vater und Sohn; wie stets steht die Tochter des Alten als "Pfand" dieser Übereignung dazwischen. Wie noch im "Nachsommer", der ohnehin ein Nachfolgeprojekt in mancherlei Hinsicht ist, steht die Begegnung zwischen "Vater" und "Sohn" als ein Erkennen auf den ersten Blick vor der Zusammenführung von "Sohn" und "Tochter". Und mit dem Erkennen ist es nicht getan; der Aufschub der Liebe, sei es im Schürzen eines Konflikts (wie in der "Mappe"), sei es in fortgesetzter wie fast vorsätzlicher Blindheit im "Nachsommer", einer wahren Anagnorisisverweigerung, dieser Aufschub ist Raum nicht des Entfaltens der Liebesbeziehung zwischen "Sohn" und "Tochter", sondern Raum und Zeit für das Erziehungsprojekt des "Vaters", der den "Sohn" lehrt, ihm gleich zu werden und gleich zu tun. In diesem Sinne inszeniert Stifter mit Vorliebe die Verbindung von "Bruder" und "Schwester", gründet Genealogien auf dieser Verbindung. Der Idee nach ist das freilich gerade nicht inzestuös, sondern Umformulierung noch des Ehebundes in ein asexualisiertes Adoptionsmodell. (Von Kindern ist entsprechend kaum oder nur am Rande die Rede, obgleich doch der Ich-Erzähler "Stifter" anders denn wahlverwandtschaftlich gezeugter Nachfahre dieses Bundes sein muss.)

Die Schrift, die in der Mappe, aufhebt und bewahrt, was gewesen ist, in den Worten dessen, dem es widerfuhr, ist freilich beinahe unleserlich, "alte, breite, verworrene Schrift". Die Entzifferung des Verworrenen ist das der Vergangenheit zugewandte Kulturationsprojekt, das der Zeit das Geschehen entwirrend entreißt. Dem korrespondieren, in der Geschichte des Urgroßvaters, die üblichen Kulturationsprojekte von Haus-, Garten- und Landbau. Für den Obristen ist es wie folgt beschrieben: "Dort lichtete er den Wald um die Hütte, legte sich eine Wiese an, davon er ein paar Rinder nährte, ließ seine Ziegen und Lämmer in das Gesträuche des Waldes gehen und machte sich wohl auch ein Feld und ein Gärtchen, das er bearbeitete." Dem Hausbau, Lichten, Anlegen, Bearbeiten – mit einem Wort: der Umwandlung des Waldes in Garten – steht der Wald hier noch in "ursprünglicher Schönheit und Unentworrenheit" gegenüber. Leben als Mensch in Kultur ist Entwirrung des Unentworrenen, das freilich – jedenfalls in der "Mappe" – als Wiederzerwirrung des Menschlichen seine zerstörenden Auftritte hat. Als Geschehen im stummen Tod der Frau des Obristen, die in die Tiefe stürzt ohne Wort und Wehr, wie im Moment des Sturzes schon wortlso zurückfallend und zurückgefallen ans Unentworrene.

Als Zwischenzustand zwischen Bannung und Wiederzerwirrung aber hat der Eissturz seinen über Seiten und Seiten beschriebenen Auftritt. Zwischen unheimlicher Todesstille und unheimlichem Fall der Bäume im Wald. Was hier dargestellt wird, ist das schiere Drohliche, schwankend zwischen Zerstörung als Defiguration und der Schönheit des durch Überzug des Eises Defigurierten. Im Eissturz ist angezeigt, dass der Rückfall des Menschlichen an den Wald als Möglichkeit des Daseins immerzu gegenwärtig ist. Kulturation ist Aufhaltung. Verwandlung des unentworrenen Waldes in Garten ist Aufhaltung, Entzifferung der verworrenen Schrift ist Aufhaltung, das Bezeugen im Erzählen, das Fortzeugen im Genealogischen sind Aufhaltung. Auf Zeit. In der Studienfassung der "Mappe" ist der Starrnis des Drohlichen im Eis noch nicht die Starrnis des Heglichen der Sprache entgegengesetzt. Darauf aber läuft Stifters Werk widersinnig und starrhalsig zu: die Bannung des Drohlichen in der Sprache, die selbst aber dadurch zum Überzug aus Eis wird und eben dadurch in einen Zwischenzustand der Unentscheidbarkeit von Leben und Tod eintritt, der zugleich ein Zustand der Schönheit des durch Vereisung des Sprachlichen Defigurierten ist.

Monday, October 09, 2006

Adalbert Stifter: Die Narrenburg

Sich-Einschreiben in die Geschichte, genauer: in die genealogische Geschichte einer Familie. Aber nicht, durchs Leben und Sterben, Werden, Treiben und Vergehen in aller Selbstverständlichkeit. Sondern, Buch führend und Vorgeschichten lesend: buchstäblich. Dies ist, in seiner Buchstäblichkeit, eine Verdopplung; und diese Verdopplung ein Unglück. Ja, mehr als das: eine Belastung, ein Fluch. Die Inschrift, als Verdopplung des Lebens, die Lektüre der Genealogie in aller Ausführlichkeit: eine Narrheit, die der Burg (als Welt) der Scharnasts den Namen gibt: die Narrenburg.

Es beginnt, sehr ungewöhnlich, nicht mit einem installativen Stifterschen Natureingang, sondern mit einem geradezu Kleistschen ersten Satz: "Hans von Scharnast hatte ein lächerliches Fideikommiß gestiftet." Es geht um Erbe und Recht, verknüpft durch den Eid, mit dem man sich verpflichtet. Zum Lesen wie zum Schreiben. (Aber im Eid bindet das "Ich" sich an ein "Es", das im Moment der Verpflichtung immer unabsehbar bleibt. Hier: Als Vergangenheit, die jede Gegenwart einholt.) Das eigene Leben wird zum Exempel in der genealogischen Reihe der Exempel. Wer die Scharnast-Burg(Welt) erbt, muss ins Arkanum des Roten Steins gehen, muss lesen, was geschrieben steht. Mit dieser Lektüre kommt Bewusstsein in die Welt. Der Stifter Scharnast unterstellt, dass aus den Erzählungen, zu denen die Leben der Vorfahren verfasst sind, Lehren zu ziehen seien. Der Erzähler Stifter sagt ein ums andere Mal: lächerlich.

Genauer gesagt: kontraproduktiv. Denn die neuen Besitzer nehmen sich gerade am detailliert überlieferten Irresein der Vorfahren "ordentlich (...) ein Exempel" und tun "so viel verrücktes Zeugs (...), als nur immer in eine Lebensbeschreibung hineingeht". Nicht anders denn als Exempel kann nun die Geschichte, die Stifter erzählt, dienen, als Exempel von einem freilich, der sich von außen nähert, einem, der selbst "lächerlich" genug daherkommt, aber doch neu und anders sich aneignen muss, was ihm gehört – und wohin er gehört. Auftritt er "wie ein wandelndes Kreuz" – und ein leiser christologischer Zug liegt genau darin, dass er sich und sein Geschlecht vom Fluch des Lebens und Schreibens mutmaßlich erlöst. (Aber sterben muss er dafür nicht, was angesichts der Selbsterlösung, um die es zu tun ist, auch kein Wunder ist. Und über die Gewissheit des Heils, das im Ende liegt, muss man diskutieren. "Und so, du glückliches Paar, lebe wohl!" Das ist weniger eine Erlösung als eine Entlassung in die Zukunft. Andererseits: Die Eröffnung einer Zukunft im Einschreibungszwangszusammenhang der Scharnasts ist womöglich genau und gerade der einzige Akt der Erlösung. Es steht von den Scharnasts weiter nichts geschrieben. In Aussicht gestellt wird am Ende nur das Nachholen von Vorgeschichten – eingelöst mit der "Mappe des Urgroßvaters" und dem "Prokopus".)

Der Held und womögliche Erlöser seines Geschlechts bleibt lange namenlos – spät erst wird er, im Ausruf der Geliebten, ein Heinrich. Der Übergang in die symbolische Ordnung der Genealogie erfolgt später – und in seltsamer Verkennung: durch Ruprecht, das Gespenst des Schlosses, grau wie das Schloss selbst, als Sixtus, dem er gleich sieht, der er aber nicht ist. Diese verkennende Einschreibung ist vielleicht weniger Kontinuität als Diskontinuität, zerreißt den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart, öffnet einen Zeit-Raum des Heils im Unheilszusammenhang. In diesem Zeitraum siedelt sich – wenn das geht – auch Stifters eigenes Erzählen an. "Allein der Zweck der vorliegenden Blätter führt uns aus dieser harmlosen Gegenwart, die wir mit Vorliebe beschrieben haben, einer dunklen schwermütigen Vergangenheit entgegen, die uns hie und da von einer zerrissenen Sage oder einem stummen Mauerstücke erzählt wird, denen wir es wieder nur ebenso dunkel und mangelhaft nacherzählen können." Eingeleitet wird damit jedoch nicht eigentlich ein Rückblende, sondern nur der Besuch des Schlosses. Die Vergangenheit wird nacherzählt zunächst nur als in die Gegenwart als Ruine ihrer selbst eingeschriebene. Das Mauerstück zeugt, zerrissen und stumm, aber zur Erzählung – und damit zur Verlebendigung – auffordernd, vom Vergangenen. Dies aber wird nicht vom Erzähler verlebendigend vor Augen gestellt, sondern nur – dazu gleich mehr – als Präsentation eines Schriftstücks, Heinrich und zugleich dem Leser zur Lektüre gegeben. (Es gibt den Gegen-Raum dazu, nämlich den grünen Bildersaal. Die Bilder, überlebensgroß und großer Meister Werk, stehen, Vergangenheit in Fülle und Ganzheit bezeugend, gegen die Schrift und gegen den Stein als Ruine.)

Ruprecht aber, der verrückte Vermittler von Gegenwart und Vergangenheit, ist wie Gregor im "Hochwald" eine Übergangsfigur; metonymische Verkörperung von Stein und – hier nicht Gebein, sondern: Schrift. Aber Schrift – und zwar: im Stein, eingelassen in den roten Stein – ist hier das Gebein, das bleibt, verbürgend und belastend. Gerade darum aber ist Ruprecht auch eine zutiefst unheimliche Figur, ein a-sozialer Abgrund an "Verrückung" – nämlich "jener Gesetze, auf deren Dasein im Haupte jedes andern man mit Zuversicht baut, als des einzigen, was er untrüglich mit uns gemein hat". (Was auch heißt: Heinrich teilt den Wahnsinn nicht, anders als, könnte man sagen, die in den Wald als Gregors Welt ihr Leben einräumenden Figuren des "Hochwald").

Und der Stein ist natürlich das Schloss, die Burg als Welt für sich. Als Scharnast-Welt, in die jeder sich einträgt mit einem eigenen Bau und eigenen Garten, eigenen Pflanzen und eigenen Häusern, "eine Sammlung von Schlössern, eine halbe Stadt von Schlössern". Eine genealogische Welt in vollständiger Un-Ordnung. Jeder richtet sich ein im eigenen Haus, fügt an im fremden Stil. Die "Narrenburg" ist, mit einem Wort: das Fremdeste. Christoph, der letzte Graf, ist in Afrika gestorben. Jodokus bringt aus Inden sich Chelion die Frau und mit ihr das Unglück mit, das seine und das ihre.

Quelle dieses Durcheinanders ist gerade die Schrift als "Wust" der erzählten Leben. Alles ist niedergelegt im roten Stein, der so zur Quelle des Unheils wird. Die Übernahme dieser Last bleibt Heinrich nicht erspart. Ihm – und uns – werden die Blätter des unglücklichen Jodokus zu lesen gegeben. (Während zugleich schon das große Restaurationsprojekt läuft: die Einrichtung der Schloss- und Bergwelt, ihre Belebung und Lebbarmachung als Vorbereitung zur Begründung einer neuen Geschichte: Anna aus der Fichtau und Heinrich als Neubegründer des Geschlechts.) Das Leben und die Schrift fallen ineinander, aber um den Preis des Verlusts eines Selbst, das kontrolliert, was es tut, und zwar lebend wie schreibend: "Was ich hier schreibe, bin nicht ich – mich kann ich nicht schreiben, sondern nur, was es durch mich tat." Was dieses "es" ist – außer eben: kein "Ich" – bleibt grammatikalisch unklar: das Leben oder das Schreiben? Oder das Schicksal oder das Scharnast-Geschlecht? Oder das Lesen des Schreibens der Vorfahren?

Es geht von diesem Riss aus eine kosmische Tilgungsfantasie, die das groteske Missverhältnis des einzelnen Lebens und des Zusammenhangs der Zeit, von "Ich" und "Welt" dramatisch darstellt: "aber da rollt alles fort – wohin? das wissen wir nicht. – Millionenmal Millionen haben mitgearbeitet, dass es rolle, aber sie wurden weggelöscht und ausgetilgt, und neue Millionen werden mitarbeiten und ausgelöscht werden. Es muss auch so sein: was Bilder, was Denkmale, was Geschichte, was Kleid und Wohnung des Geschiedenen – wenn das Ich dahin ist, das süße, schöne Wunder, das nicht wiederkommt! Helft das Gräschen tilgen, das sein Fuß betrat, die Sandspur verwehen, auf der er ging, und die Schwelle umwandeln, auf der er saß, dass die Welt wieder jungfräulich sei und nicht getrübt von dem nachziehenden Afterleben eines Gestorbenen." Was "rollt" in dieser Vision, ist die Welt als "Es", dem das Ich nicht Einhalt tun kann; und auch durch Schreiben und Einschreiben nicht, denn alle Schrift sei, so Jodokus, getilgt. (Es ist kein Zufall, dass die Scharnast-Schriften später selbst als "Rollen" bezeichnet werden, als Schriftrollen, in denen das "Es" west und das "Ich" nie sein kann.)

In seltsamer – und mancherlei schauerromantische Anleihen nehmender – Weise steht dieser Tilungswunsch gegen die Unmöglichkeit der Tilgung eines einzigen Moments ("Aber [das Schrecknis] war nicht mehr auszutilgen.") Jodokus, der Chelion – die ihn mit dem Bruder betrogen hat – töten will in einem Moment der Ver-rückung, kann diesen Riss nicht mehr tilgen. Was Chelion verliert, ist sehr genau die "Zuversicht" in sein Ich. Gerade und ausgerechnet der Moment, in dem ein "es" als frevles Spiel" ins "Ich" fährt, bleibt untilgbar. Das "Ich", das sich verliert, findet sich nicht wieder. Jodokus setzt sein Haus in Brand – aber das Schloss als Ganzes kann er nicht zerstören, die Schriften lässt er unangetastet.

Heinrich hat die Kraft nicht zur Tilgung, nur zur Einsicht: "Das ist keine gute Einrichtung unserer Vorfahren". Eine Einrichtung nämlich, die zu nichts führt als einem "Garten voll Gespenster", von der Jungfräulichkeit der Welt weit entfernt. Alles, was Heinrich unternehmen kann, ist die aneignende und in der Aneignung dem Leben rückerstattende Einrichtung dieser Welt, aus der die Gespenster nicht zu tilgen sind. Sie bekommen ihren Platz, wie exemplarisch Ruprecht, der "Geschichten [erzählt], die niemand versteht" – als eingemeindetes, eingeräumtes Fremdes. So ist die Idylle, in der alles endet, zwar Glück in Beschränkung, aber nicht reine Provinz: Heinrich sammelt "Pflanzen aller Länder", "Herden ausgestopfter Tiere" und die "Erze und Steine der Welt". Das "Es", das als gesetzloses, menschlichem Gesetz und Fideikommiß entzogenes Gesetz durch die Welt zieht, ist, mit einem Wort: befriedet, aber nicht getilgt.

Tuesday, October 03, 2006

Adalbert Stifter: Der Hochwald

Um den Eintrag von Spuren in Natur geht es im "Hochwald". Die Natur ist, sehr konkret, und geografisch genau benannt (ein ausgewähltes Experimentier- und Beobachtungsfeld) der böhmische Wald. Jungfräulich ruht er vor dem Auge des Betrachters. Der Betrachter ist ein Erzähler, der sich in diesen Raum hineinschreibt, gleich zu Beginn, denn hier hat er geliebt und diese Liebe prägt den Blick und verwebt Raum und Blick und eigene Geschichte zur "dunklen, warmen Zauberphantasie" (Sie tritt später, als es um Liebe geht, wieder auf, aber schon unsicher geworden in der Zuschreibungsrichtung: "ich weiß nicht, geht von dir dieser Zauber der Verwandlung aus oder von dem Wald"). Diese Phantasie schreibt sich mit ein, vielleicht weniger als Spur denn als Untergrund, als Leseanweisung, die man nicht ganz vergessen darf. Sie steht freilich im schärfsten Widerspruch – zum tragischen Geschehen, das sich entfalten wird; auch zum Streben des arrangierenden Blicks zur Rückgewinnung einer Unschuld von Natur, die Spuren abweist, auslöscht – und damit gerade aller Geschichtlichkeit widerstrebt. Dieser Widerspruch selbst ist nicht zu tilgen, er strukturiert den "Hochwald" vom geradezu kosmischen Natureingang bis zum Ausgang als fade-out, in dem die dramatis personae vor dem Auge des Lesers vergehen – und so doch der Zeitlosigkeit wieder anheimgegeben werden: "aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging." (Das ist der letzte Satz.)

Mensch/Geschichte und Natur/Unschuld werden ineinander verwoben, als Eintrag von Zeichen und Spur. Die Lesbarkeit aber wird zum Problem, denn die Übertragungsrichtung ist konsequent ungesichert. Die "Zauberphantasie" webt Fabeln in die Natur und die Natur ins Menschliche (so werden in vertrackter Übertragung gleich am Anfang der Waldsee und ein Tal als je ein "Auge" beschrieben). Das ist eine hochdynamische, an Einzelstelle für Einzelstelle nachweisbare Metaphern- und Wortfeldassoziations- und dissoziationsarbeit. Untergründig schon die Verbindung der Landschaftsbeschreibung (man kann das Wort hier aber kaum unschuldig verwenden) des Beginns, in die unversehens der Tod eingeschrieben wird, wenn von der schwarzen Erde die Rede ist, "dem dunklen Totenbette tausendjähriger Vegetation, worauf viele einzelne Granitkugeln liegen, wie bleiche Schädel von ihrer Unterlage sich abhebend, da sie vom Regen bloßgelegt, gewaschen und rundgerieben sind". Im quasi-romantisch hereingewehten Liedmotiv – das als Dokument einer Passion, aber wiederum als Lied, als bereits Form gewordener Ausdruck, nicht mehr reine Passion anzeigend, auf die widernatürliche, geschichtliche Seite des Disruptiven gehört, nämlich der Widernatur, während die Natur als Schließungs- und Tilgungskraft auftritt – ist dann wenige Seiten später im kurzen, rätselhaften Auszug die Zeile "Da lagen weiße Gebeine" zu vernehmen. Die Gebeine aber finden sich nicht nur in der Natur, sondern auch im Lied in nächster, nicht metaphorischer, aber metonymischer Nähe zum Stein: "Und wieder war ein König / Der ritt am Stein vorbei / Da lagen weiße Gebeine / Die goldne Kron dabei."

Das Wortfeld Stein und Felsen ist zentral für den Hochwald – im Lied ist der König, das sagt die zweite Strophe, vom Felsen gesprungen, als Strafe für den Mord im Wald an "seinem Lieb". In der Übergangs- und Übertragungszone von Wald/Holz, Stein/Fels, Garten/Mensch richtet die Erzählung sich sprachlich ein. Für die Geschichte, das Geschehene als im Maß menschlicher Zeit Vergangenes, zeugen nur noch Stein und Gebein. Aus Stein die Ruine von Wittinghausen, Denkmal für den Erzähler, der diesen Eintrag lesbar macht durch seine Geschichte als Vorgeschichte. Menschliche Geschichte ist also nur Vorgeschichte von Stein und Gebein. Als Lebender aber, in der Gegenwart, leistet der Mensch Vermenschlichungsarbeit an der Natur; aber immer – das zeigt die Topografie des Hochwalds – schroff am Felsen. Vermenschlichungsarbeit aber ist, in erster Linie, Haus- und Gartenbau. Das Schloss, Garant genealogischer Folge, wird geräumt und im Wald, schroff am Felsen, redupliziert, aber als Haus aus Holz. Diese Einräumung eines menschlichen Raums im Naturraum des Hochwalds jedoch bleibt prekär, ist ein Recht auf Zeit und zu Bedingungen, die Gregor, als Hüter des Rechts des Menschlichen, aber auch als Übergangsfigur zwischen menschlichem und natürlichem Reich ("Seinen ganzen Lebenslauf, seine ganze Seele hatte er dem Walde nachgedichtet und paßte umgekehrt auch wieder so zu ihm, dass man sich ihn auf einem anderen Schauplatze gar nicht denken konnte"), klar macht: "Baue an dieser Stelle kein Haus – du tätest dem Walde in seinem Herzen damit wehe und tötetest sein Leben aber – ja sogar, wenn diese Kinder wieder in ihr Schloss gehen, dann zünde jenes hölzerne Haus an, streue Kräutersamen auf die Stelle, dass sie wieder so lieblich und schön werde, wie sie es war seit Anbeginn, und der Wald über euer Dasein nicht seufzen müsse." Gregor verleiht dem Wald, metaphorisch, Leben – aber es ist dieses Leben unüberwindbar Metapher, denn mit dem Leben des Menschen ist es nicht in Einklang zu bringen, durch Beschreibung nicht, durch das Einweben von Fabeln nicht ("ohne dass die Menschen erst nötig hätten, ihre Fabeln hineinzuweben").

In gewisser Weise ist Gregor, der "Waldsohn", selbst freilich die Metapher als Übergang und Übertragung, eine unmöglich auf Dauer zu stellende Figur, Stein und Mensch zugleich, der das Steinige menschlich macht und den Wald, der Natur ist, in einer langen Parabel zum Garten erklärt: "Der Wald ist auch schön, und mich dünkt manchesmal, als sei er noch schöner, als die schönen Gärten und Felder, welche die Menschen machen, weil er auch ein Garten ist, aber ein Garten eines reichen und großen Herrn, der ihn durch tausend Diener bestellen lässt" – und weiter: "In allem hier ist Sinn und Empfindung; der Stein selber legt sich um seinen Schwesterstein und hält ihn fest, alles schiebt und drängt sich, alles spricht, alles erzählt, und nur der Mensch erschaudert, wenn ihm einmal ein Wort vernehmlich wird." Dies aber, was Gregor – kein Menschensohn – erzählt, widerlegt Stifters Geschichte. Wenn der Wald spricht, vernimmt der Mensch "Worte", die er aber nicht versteht, und drum erschaudert. Es mag ein Gott sein in der Welt und die Natur sein Garten – ein Platz für den Menschen und seine Geschichte ist darin nicht: "Ihr Garten, der Wald, unbekümmert um das, was draußen vorging."

Noch die Fabel – von der Großmutter, die wie stets für eine bestimmte Vorzeitlichkeit des Mythsichen und Märchenhaften steht – erzählt wiederum nichts als die Felswerdung des Menschlichen: Einer, der im Felsen den Schatz suchte, wurde vom Felsen eingeschlossen und verschlungen. (Natur ist Tilgung. Es bleiben nur Geschichten als Wiederbelebung von Stein und Gebein.) Wie sehr Gregor unmögliche Übergangsfigur ist, zeigt sich entsprechend an Stein- und Gebein-Metaphern. Im Verschweigen und Verstummen – und beides ist, was im "Hochwald" Natur ist, nämlich Totenstille: "so würden meine Zähle verschlossener sein, als die Steintore des Heidenschatzes", "manche höhnten ihn, und gegen diese verschloss er wie mit Felsen den Quell seiner Rede". Später einmal fällt Johanna "die Ree des Alten (...) wie ein Stein auf das Herz." Und beim ersten Auftritt wird er in aller Deutlichkeit als "Bruder des Felsens" apostrophiert. Gregor, als "Waldsohn" und "Bruder des Felsens" ist Verkörperung der begrenzten Einräumbarkeit und Bewohnbarkeit der Natur. Am Ende aber wird sein Name nicht mehr genannt werden und mit ihm geht die Zeit aus als menschliche Perspektive, es sei wiederholt: ""aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging."

Die Anfahrt auf den Raum, der Lebensraum sein wird, ist das Wunder einer Einräumung, die Einrichtung ermöglicht – auf Zeit, aus Holz. "die Felsenwand trat näher und stieg so mauerrecht aus dem See empor, dass man nicht absah, wie zu landen sein werde, da wohl kein handgroß Steinchen dort liegen möge, um darauf stehen zu können: allein zur größten Überraschung in diesem Lande der Wunder tat sich den Mädchen auch hier wieder eines auf. Wie man der Wand sich näherte, wich sie zurück und legte ein liebliches Rasenland zwischen sich und den See, und auf dem schönen Grün desselben sahen die Mädchen nun ach ein geräumiges hölzernes Haus stehen". Diese Einräumung von Lebensraum im Wald ist freilich erkauft durch die Entwirklichung des Vaterhauses aus Stein, das durchs Rohr nur noch sichtbar ist, "klein und zart, wie gemalt".

Auftritt Ronald, auch er ein Grenzgänger, aber nicht wie Gregor, der Sohn des Waldes und Bruder des Felsens bleibt von Anfang bis Ende (und Ronald wird nicht zu Natur, auch wenn er ihn liebt "wie ein Sohn"), sondern einer, der die unmögliche Identität von Menschlichem und Natur leben will, denn er "strebt nach Unerreichbarem. Er hat manchmal wollen den Sonnenschein auf seinen Hut stecken und die Abendröte umarmen!" Die Liebe zu Clarissa ist bei einem solchen, sagt das Gesetz des Vaters, immer nur "Scheinding", aber eben drum kann Ronald von ihr nicht lassen. Sein Wesen ist Übertretung schlechthin. Oder tödliche Verwechslung: "mir ist, als gäbe es gar kein Draußen, gar keine Menschen als die hier, die sich lieben und Unschuld lernen von der Unschuld des Waldes." Anähnelung an die Natur aber ist immer nur eines im Hochwald: Stein- und Gebeinwerdung. Charakteristisch denn der Abschied Ronalds vom Scheinding der Liebe, von Wald und Mensch und Clarissa: "dann nahm er die Flinte und schritt entschlossen der Felswand zu. Die Mädchen sahen in hoch lange, wie sich die graue Gestalt in dem grauen Gestein regte winzig klein, bis nichts mehr sichtbar war, als die ruhige schon im Nachmittagsschatten stehende Wand." Er wird nicht wiederkehren, erzählt wird noch seine Nachgeschichte, das Scheitern seines Vermittlungsversuchs, das den Tod des Vaters, die Ruinierung des Schlosses zur Folge hat. Vom Vater, immerhin, bleibt die steinerne Grabplatte in der abgebrannten Thomaskirche. Von Ronalds Grab aber ist nichts zu wissen; nur in Clarissas Rückübertragung in Natur lebt er fort - "in den goldnen Sternen sah sie seine Haare, in dem blauen Himmel sein Auge" -, aber gerade darum und darin verfehlt Clarissa ihr Leben. Und gerade darum widerfährt ihr, was Ronald widerfuhr: "kein Mensch kennt ihr Grab". Was bleibt, ist der Wald. Gregor hat das Haus angezündet und die "reiche Nachkommenschaft" der Natur löscht alle Zeichen des Menchlichen, "so dass wieder die tiefe, jungfräuliche Wildnis entstand, wie sonst und wie sie noch heute ist." Es bleibt so, als einziger Eintrag der Spur, nur die Erzählung, die von der Unmöglichkeit eines Eintrags erzählt. Nichts als Wort also, und Worte wie Stein und Gebein.