Saturday, October 22, 2005

Joseph Conrad: Jugend

Der Abstand von zwanzig Jahren taucht die Geschehnisse in „Jugend“ in ein Zwielicht, verleiht ihnen das Pathos des Elegischen, behauptet zugleich die Prägekraft für das Leben, das nun zwischen dem sich Ereigneten und der Gegenwart liegt, die die Verzauberungskraft der Jugend hinter sich gelassen hat. Wie in einem Ritual der Erinnerung flicht der Erzähler, Marlow, immer wieder eine Anrufung ein, „O Jugend“, distanziert sich von dem, der er war, und steigert das Erlebnis zugleich und ganz zu Beginn zur Metapher fürs Leben als Ganzes. Der Abstand gibt Bedeutung, aber nicht mehr, wie damals empfunden, als unmittelbaren, unauslöschlichen Eindruck, sondern als Deutbarkeit des Geschehenen in der Perspektive des Älteren, der sich und das, was ihm widerfahren ist, zur conditio humana aufrundet. Er rückt individuell von sich ab, um in dieser Person, gerade indem er von ihr abrückt, doch die allgemeinen Gesetze der Jugend zu erkennen. Dies ist also der klassische Fall eines, wenn man es so nennen will, symbolischen Schreibens, das jedes der konkret beschriebenen Details recht unvermittelt zur Aufladung mit Abstraktion präsentiert. (Und dass er den Soldaten dem Philosophen vorzieht, wie es einmal heißt, ist nur die halbe Wahrheit: es geht um eine Soldaten-Philosophie.)

Das Schiff wird zum Schiff des Lebens und der Osten, in den es mit Ach, Krach und einer Katastrophe nach der anderen unterwegs ist, wird in der Begegnung zum Moment des "Othering" schlechthin. Das Andere, am Ufer, die dunklen Gesichter, tritt auf als Masse, die symbolisch wieder nur für eines steht, eben den "Osten", der nichts als das Andere ist und dann, ohne zu sprechen, spricht, mit einer verallgemeinerten Stimme, aus einem verallgemeinerten Mund, Begegnung mit der Fremdheit schlechthin. Dieser Osten steht für die Ankunft nach jenem "rite de passage" von der Unschuld zur Ahnung, für das Gemachthaben einer Erfahrung also, die zwanzig Jahre später erzählbar sein wird. Die Unschuld ist Gefährdung durch Ahnungslosigkeit, aber auch ein instinktives Wissen um rechte Momente, in denen der Held das Kommando an sich reißt und den alten Männern, dem Kapitän und Mahon, den Weg vorgibt; ein Generationenwechsel. Die See und die Jugend machen den Mann und die Melancholie, mit der er, wenn er’s dann ist, auf sie zurückblicken kann: "Our faces marked by toil, by deceptions, by success, by love; our weary eyes looking still, looking always, looking anxiously for something out of life, that while it is expected is already gone—has passed unseen, in a sigh, in a flash—together with the youth, with the strength, with the romance of illusions."

Friday, October 21, 2005

Adalbert Stifter: Der Kuss von Sentze

Topografisches Schreiben als Verortung, als Bändigung dessen, was sich regt und im Regen die immerzu erschriebene Ordnung zu stören droht. Die Statik beim späten Stifter nicht als Ruhe, sondern als gefesselte Störung denken, versteintes Chaos.

Zuerst eine Anlage errichten, die drei Häuser oder Schlösser in den Fels hauen: die drei Sentze, rot, weiß, gestreift. Das hybride Mutterhaus, das die Klarheit hervorbringt, eine Ordnungsbewegung. Die Menschen, die sie besiedeln und ihre Geschichte, kommen erst nach der Anlage. Diese Reihenfolge ist wichtig, das Produkt – die Anlage – ist irreduzibel, der Mensch ist es nicht, im Erzählen bei Stifter.

Die Zimmer beim Onkel, Durchdringung und Verwindung von menschlichem Maß und Haus gewordener, ins Heimische geholter Natur. Die Moose, die der Onkel sammelt und presst und denen er die Namen und Ordnung gibt nach Maßgabe der Bücher, der Schriften. Das Geschriebene und die Tradition sind die Wiederauftritte der festen Anlagen, in Stein gehauen, im Erzählten. (Ermäßigung des Steins zur Schrift, zum Brauch.)

Der Mensch findet sich im Brauch. Stifter will ihn sich als zutiefst instituiert vorstellen und bannt so und fesselt das Chaos. Will Streit in Frieden verwandeln mit einem Kuss. Die doppelte Bedeutung des Kusses (Kuss des Friedens, Kuss der Liebe) ist nicht Ambivalenz, sondern geradezu Erfüllung des Kusscharakters des Kusses, der Ritus als Sakrament, das den Menschen die Freiheit gibt, es im eigenen Willen zu vollenden. Das Gesetz ist ein Gegebenes, nie geht es um blinden Vollzug, sondern um ein Anerkennen, eine Re-Instituierung der Ordnung. (Der fünfundzwanzigste Geburtstag als Datum der Mündigkeit: die Abweichung von der Regel, an der sich die Freiheit zur Zustimmung zu dieser Abweichung manifestiert.)

Der traktathafte Einschluss der politischen Erörterung zur Freiheit des Menschen ist kein Zufall, sondern der Kern der Geschichte. Wie der Mensch sich nicht nach Art der Natur, sondern nach Art des Menschen in das Gegebene fügt, als ein sich selbst Gegebenes, sich selbst Gebendes. Der Aufschub der Liebe ist der Dollpunkt der Freiheit. Darum auch die Latenz des Kusses, der als ein wiederholter erst erkannt werden kann und in diesem Erkennen die alte Ordnung feierlich bekräftigt, gerade weil sie in Frage stand, in frei zur Antwort aufgegebener Frage. Die Hochzeit dann der verbleibenden Sentze, das Aufmöbeln der in Stein gehauenen Anlage, sind Allegorie der Institution als Re-Instituierung in Freiheit nicht von, sondern zur Tradition.

Gotthold Ephraim Lessing: Die Juden

Da wird schlicht, ergreifend, in aller didaktischen Klarheit, die angemessen ist, im Lehrstück vor Augen geführt, welch Unding die Vorurteile gegen die Juden sind. Also ist der Jude des Stücks, als der er ganz zuletzt er sich erst offenbart, ein ausnehmend feinsinniger Mann, der dem Mann, dem er das Leben gerettet hat, die Mühe nicht machen will, sich dankbar erweisen zu müssen. Der aber, gegen die Juden als solche vorurteilsvoll feindselig eingenommen, möchte die Tochter an diesen edlen Mann bringen. Zwischen dem Personal, das um zwei nicht minder stereotype Halunken ergänzt ist, zirkuliert eine gestohlene Dose, die von Mann zu Frau zu Mann und zuletzt an den rechtmäßigen Besitzer gelangend, die Dinge an den rechten Platz rücken wird. Den granitnen Kern der Vorbehalte aber pulverisiert Lessing hier nicht: Die Heirat zwischen der Christin und dem Juden ist, gerettetes Leben hin, gerettetes Leben her, ein Ding der Unmöglichkeit. Ein wenig zwischen Andeutung eines Charakterdramas und mit frischem Witz aufgetakelter Didaxe schlingernd hält das Stück insgesamt doch die Balance und führt dem Publikum am Muster eines Juden vor, was es von seinen eigenen Vorurteilen zu halten haben sollte.

Tuesday, October 18, 2005

Theodor Fontane: Stine

Unendlich viel Zeit nimmt sich der Erzähler, um den Leser in der Welt, in der er seine Tragödie ansiedelt, heimisch zu machen. Es bleibt kein Kuchen unerwähnt und auch keine Regung der Figuren, deren Lebensradius ausgeschritten wird. Wanda vom Theater, die verwitwete Pittelkow mit der unehelichen Tochter, Stine, die Schwester, weniger schön, weniger resolut, einem Schicksal anheimgegeben, das sie nie überblicken wird. Der Baron, der Graf, sein Onkel: die andere Welt des Adels, die als andere nur existiert, weil sie als andere behauptet wird. Fiele die Behauptung, dann bliebe nichts. Das sehen der junge Graf, der sich verliebt, und sein Onkel, der es verurteilt, nur von verschiedenen Seiten. Es ist doch nichts, sagt der Eine. Es bleibt dann nichts, der andere. Der Sinn Stines für diese Grenze, die Unmöglichkeit der Erhebung zu einem Blick darüber, machen ihr Unglück und das des Grafen, der die Kraft nicht mehr hat, diese Grenze von seiner Seite aus zu behaupten.

Wer von wo blickt und also weiß, mit welchen behaupteten Grenzen man sich arrangieren muss, damit alles bleibt, wie es ist, das ist das zentrale Thema, das Fontane hier, zur Tragödie ohne großes Drama weniger aufgipfelnd als eben ausbuchstabierend, in Szene setzt. Die Revolution bleibt für den alten Grafen ein Gedankenspiel, aber man kann ja sehen, wohin das führt für die, die besitzen. Die Festen, an denen der Graf hier rüttelt, aber nicht des Rüttelns wegen, stehen gar nicht mehr – und womöglich, so ließe sich Fontanes Institutionentheorie verlängern, standen sie nie; es ist nur egal, denn sie bleiben intakt im Aufrechterhalten der Erwartungserwartungen. Ausnahmen – und auch zum Ausnahmefall wird eine Theorie entwickelt – lässt man der Vorsicht halber nicht zu, denn sie bestätigen die Regel nicht, sondern sie höhlen sie aus, indem sie ihren Fiktionscharakter vor Augen führen. Fürs Außerhalb der Regel steht dann die Neue Welt, deren Realitäten freilich diejenigen, die sich auskennen, schon beschreiben können, und nicht als amerikanischen Traum.

Ins Zentrum der Geschichte, in der Stine und Waldemar nur Exemplifikationen sind, gerät so die Pittelkow. Sie kennt, mit einem Wort, das Leben, man hört’s schon am Berlinerischen. Was sie prophezeit, wird wahr. Sie ist die Agentin, die das Reale behauptet – und umso erfolgreicher, als sie es als Unveränderliches und gar keiner Behauptung Bedürftiges voraussetzt. Sie ist, auch in der Sprache, das Realitätsprinzip. Vielleicht hat sie das, was Stine erlebt, schon hinter sich, vielleicht aber behält auch der schreckliche realistische Rest eines griechischen Chors, das Ehepaar Polzin, Recht und Stine "wird nich wieder".

Adalbert Stifter: Prokopus

Eine Rauminstallation. Das Schichten der Geschichte, nicht die Verknüpfung der Narratio. Schlicht bewegungsfeindliches Erzählen, Stillstellen und, als Fortgang, ein Ausgehenlassen. Drei Teile, bei weitem der umfangreichste ist der der „installatio“, ein Stellen der Dinge an ihren Ort. Stifter eröffnet mit der Differenz von ortsflüchtiger, ortsuchender Bewegung – der Hochzeitszug - und einem Am-Ort-Sein, das seine Richtigkeit hat. Der Weg und der Platz, das Ziehen und das Sein. Das Gasthaus der grünen Fichtau. Ein großes Plateau, auf dem Hunderte Platz finden. Es ist leer, es füllt sich, es leert sich. Ein Schauplatz, und der Erzähler richtet ihn ein. Kein Detail der Kleidung, keine Handlung im Kleinen bleibt unbeschrieben. Die Installation ist als Schichtung verlängerbar in Vergangenheit und Zukunft, daher der Ort des Erzählers an einer Stelle, die vor allem Überblick verschafft, bis ins winzigste Detail. Atemberaubend wird es, wenn er, mit der Sorgfalt eines großen Liebenden, seine Menschen am rechten Ort in der rechten Zeit zur Ruhe bettet und kein Haar an ihrem Kopfe unerzählt lässt.

Zum Unglück verurteilt, wie von vornherein, das Paar, das zieht, von hier nach da. An den falschen Ort vor allem, der keinen Überblick gewährt. Ein nebelverhangener Schauplatz voller künstlicher Einrichtungen, "wir schweben ja mit dem Berge nur in der Luft und rings um uns ist nichts". Was an der grünen Fichtau nach Maßgabe der Natur seinen Platz gefunden hat, muss in der Burg Rothenstein als artifizielle Maßnahme behauptet werden und bleibt deshalb kraftlos und verhängnisoffen. So die Tradition behauptende Reihe der Gemälde, in der Prokopus seinen Halt und seine Dauer nicht finden wird. Er fällt aus der Reihe, als alter Mann.

Mit einem einfachen Satz verhängt der Erzähler sein Urteil: "Das versprochene Glück ist nicht gekommen." So einfach ist das und kein Drama. Der Lauf der Dinge führt, qua Lauf, könnte man sagen, als Vergessen des Einrichtens, ins Unglück. Stifter entwirft die Anti-Novelle. Keine Aufgipfelung und Zuspitzung zum unerhörten Ereignis, sondern ein Ausmalen des Seins auf dem Plateau. Dagegen steht die Einmauerung im Turm, der Blick in die Sterne, die Einbettung in einen Zusammenhang, der kein menschlicher ist: die Äolsharfe, Musik des Windes, ein Verlust des Menschlichen an die Natur, die sich nicht schert. Der Fortgang mit wenigen Worten: "Es ist nicht mehr viel zu sagen." Die Lebensbeschreibung des Grafen bleibt unvollendet, ein Kreuz, ein abruptes Ende, mehr nicht. Ein Fortschreiben, wieder aus der Perspektive der Generation. Der ungeratene Sohn rafft das Schloss an sich. Nur die grüne Fichtau (grün/rot, Farbsymbolik der Differenz zwischen installierter Natur und nicht auszuhaltender Verbindung von Künstlichkeit und Rückfall an die blanke, blinde, zeit- und maßlose, nicht mehr installierbare Natur) hat eine Generationenperspektive, "Geschlechter um Geschlechter": "Es wohnt die Lust, die Gehäbigkeit und die Freude um dieses Haus."

Sunday, October 16, 2005

Stendhal: Vanina Vanini (Italienische Novellen)

Das Sich-Überstürzen als Erzählprinzip. Noch ist das Fest kaum zu Ende beschrieben, auf dem die römische Titel-Schönheit Vanina Vanini – in der vielleicht weniger vanitas steckt als der Name suggeriert und umso mehr Passion – gefeiert wird, auch als Zukünftige des Mannes, den sie nach dem sich überstürzend Vorfallenden heiraten wird, sind wir in medias der Sache, die sich als die eigentliche dann erst herausstellen wird. Vanina verliebt sich in einen Aufständischen, der, von Vaninas Vater vor seinen Häschern geschützt, als Frau verkleidet ist. Sie verliebt sich in diese Frau und liebt noch den Mann, der, zeigt sich, an einer fatalen Wunde zu sterben droht. Ein Nachhall des Fischerkönigs, Vanina wird in letzter Minute für die Heilung sorgen – aber erlöst ist er damit nicht. Es überstürzt sich einfach weiter: die Liebe, der Kampf ums Vaterland, als Kampf zwischen der Liebe und dem Vaterland. Vanina unternimmt, was sie kann und erreicht, was sie nicht wollte: Pietro Missirilli stellt sich, weil sie aus Verzweiflung seine Kämpfer verraten und ihn so ins Licht eines fatalen Verdachts gerückt hat. Er wird zum Tode verurteilt, Vanina intrigiert, indem sie mit dem Mann spielt, der sie liebt und dem Onkel, der sich von der Schönheit bezirzen lässt. Atemberaubend die Non-Sequiturs, etwa wenn, nach erfolgreicher Bezirzung, diese gar nicht mehr nötig gewesen sein wird, weil der Papst selbst, auf dessen Bedrängung sie dringt, die Begnadigung fordert. Es ist diese Unordnung des Erzählens, die bezwingt: Stendhal wuchtet hier schwere Steine mühelos durch den Plot, der aber seiner eigenen Gesetzlichkeit (oder gar keiner) folgt. Es erscheint zuletzt beinahe erzählnotwendig, dass in diesen gegeneinander sich verschiebenden Lagen, die zueinander nicht kommen können, die füreinander bestimmt schienen, nach dem Beginn, der sie so verführerisch geheimnisvoll und geschlechterkreuzend zusammenführt. Am Ende will Pietro der Frau, die ihn liebt, der Frau, die er liebte, kettenrasselnd an den Kragen: "Wart’, due Scheusal! Dir will ich nichts verdanken – und wenn’s das Leben gilt." Vanina kriegt, "wie vernichtet", zuletzt den, den sie nie wollte, verachtet von dem, für den sie alles gegeben hat.

Arthur Schnitzler: Fräulein Else

Reizvoll, "Fräulein Else" als Gegenstück zur "Marquise von O." zu lesen – als das Geschwätz, das längst an die Stelle eines Gedankenstrichs getreten ist. In einer seltsamen Ökonomie der Wichtigkeiten passt es dann auch, dass das endlose Gerede als dem Fräulein ins Hirn gelegtes einem weit weniger gravierenden Vorfall entspringt: als vorgestelltem, als verschoben sich ereignendem, einer Blöße, die mit einem Redeschwall bemäntelt und zugedeckt wird, der vor allem eines deutlich macht: Fräulein Else ist ein Durchlauf- eher als ein Knotenpunkt für das Geschwätz und die Diskurse ihrer Zeit, eine Offenlegung der Denkbarkeiten einer Gegenwart, die längst mit großer Lust die Grenzen dessen, was sie als sagbar behauptet, kreuzt – um doch aus diesem Kreuzen, als der virtuellen Aufrechterhaltung der Grenzen, die höchste Lust zu ziehen, jene, die ein junges Mädchen in eine katatonische Ohnmacht fallen lässt, die keine ist. Der Zustand, in den Else gerät, wach und sprachlos, von Gedanken gejagt, die sie nicht mehr aussprechen kann, ist der Zustand einer Kultur. Vor ihren Augen wird sich längst schamlos geküsst. Nur die schöne Leiche, auf die es hinausläuft, ist dann ein – gewiss wahrer - Anachronismus. Die Wahrheit über die Equilibristik eines vom Bürgertum nicht durchschauten, aber virtuos gehandhabten Bewusstseinszustands der verbotenen Erlaubtheiten und der erlaubten Verbotenheiten, also des längst eingeübten Denkens des Undenkbaren, wäre wohl eher die: dass es dann halt weitergeht mit dem Weitergerede. Fräulein Else ist ein letztes Opfer, weil sie an das, was sie längst hinter sich hat, zu sehr dann doch noch glaubt.

Wednesday, October 12, 2005

Friedrich Schiller: Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache

Die Geschichte einer langen Rache und einer kurzen Pointe, nach Diderot. Gegeneinander ins Spiel gebracht werden die Marquise von P. und der Marquis von A. Letzterer liebt Erstere, die sich aus dem galanten Leben, also der Liebe nach einer ersten Ehe zurückgezogen hat. Er belagert sie, er umschmeichelt sie, er erobert sie. Nach nicht sehr langer Weile erlahmt sein Interesse. Was sie bemerkt. Sie spielt ihm das Erlahmen ihrer eigenen, in Wahrheit dauernden Liebe vor, er offenbart sich als gleichgesinnt. Sie ist entsetzt, sinnt auf Rache, setzt sie umständlich und von langer Hand ins Werk. Eine einstige Freundin, die mit ihrer Tochter nun ein Freudenhaus betreibt, wird mit der Aussicht auf ein weniger schändliches Leben gedungen. Die Tochter, die eine Schönheit ist und nur die Tricks, die aus Huren Ehefrauen macht, nicht beherrscht, soll dem Marquis den Kopf verdrehen. In der intrigierenden Hand der Marquise geben die Frauen sich als das Gegenteil dessen, was sie sind: als allzu fromm, von Almosen lebend, die Festtafeln meidend wie der Marquis die Treue, den Gottesdienst suchend, am männlichen Geschlecht nicht interessiert. Die Psychostruktur des Marquis hat die Frau, die ihn noch immer liebt, aber nun auch hasst, weil er die Liebe nicht erwidert, klar erfasst, wie es scheint: Sein Begehren richtet sich auf das, was er nicht haben kann. Er verzehrt sich, er wird glühend fromm, wirft sich gleich darauf aus Verzweiflung der Schande an die Brust, er fleht die Marquise an, sie möge helfen. Sie lacht sich ins Fäustchen, bleibt grausam. Sie treibt es so weit, dass er endlich die schöne Tochter als falsche Fromme zu heiraten bereit ist. Nach der Hochzeit lässt die Marquise, ihres Triumphs gewiss, alles auffliegen. Erst ist der Marquis gedemütigt und verschwindet. Doch er kehrt wieder und sein Verhalten zeigt, dass die Marquise sich doppelt getäuscht hat. In der Verruchtheit der Tochter, die als würdige, weil demütige Ehefrau sich erweist – und in der Begehrensstruktur des Marquis’, der die Reinheit seiner Frau erahnt, sich zu ihr bekennt und, bis eine "Rinde" übers Vorgefallene gewachsen ist, aufs Land zieht, das Eheleben zu genießen; die beiden sind, beteuert der letzte Satz, das glücklichste Paar ihrer Zeit. Eine Geschichte darüber, wie eine, die im Recht ist, sich durch Rache ins Unrecht setzt. Am Ende wird sie, dies die beinahe infame Pointe, die Liebe, zu der sie sich hat überreden lassen, nicht verdient gehabt haben, obwohl sie - und er nicht - dieser Liebe die Treue hielt. Sie werden einander zuletzt nie erkannt haben als die, die zu sein sie sich im Verlauf dieser Rache als fähig erwiesen.