Sunday, August 22, 2004

Theodor Fontane: Effi Briest

Roman (1895)

Wie die „Marquise von O...“ eine Geschichte, die auf eine Ellipse zuläuft und von der Ellipse wegläuft. Hier aber eine lange Phase der Latenz, die – Effis Sündenfall der vermeintlichen Verjährung zutreibend – die Belanglosigkeit des Geschehens dann grundiert. In der Ausmalung des Bürgerlichen, mitsamt seiner Vorstellungen, auch solchen vom Aussprechlichen wie Unaussprechlichen, zum Verzweifeln genau, ja ausführlich. Der Spuk als Schrecken präfiguriert den Schrecken, der nicht beschrieben, nicht auszusprechen ist: Geschichte vom mutmaßlichen Ehebruch des Chinesen. Dem Roman steht die Mühe seiner Raffinesse ins Gesicht geschrieben: Heliotropen, Immortellen, Vorausdeutungen, motivische, literarische Anspielungen.

Das alles aber auf die bloße Oberfläche aufgetragen, ebenso wie die Ellipse und die Latenz: Wenn es das Unausgesprochene ohne Geheimnis gibt, dann ist es Fontane hier gelungen. Fast sollte man glauben, gäbe es nicht anderes, viel besseres von Fontane (Cecile, Stechlin), es müsse das Überlebte einer Gesellschaftsform nicht nur auf ihre Tragödien noch als kaum interessante Fadheit zurückschlagen, sondern auch – und halb vielleicht nur freiwillig – auf die Darstellung, so sie auf alle Übertreibung und allen Kommentar zu verzichten gewillt ist. Kaum zu glauben, dass Claríns unendlich moderner wirkender Roman Sein einziger Sohn im beinahe selben Jahr entstand, der geradezu jeder der ins Tiefste ihrer Langweiligkeit ausgeloteten Fontane-Figuren etwas Aufregendes entgegenzusetzen hat.

Ja, gerade die Konstruktion ist hier preußisch, noch im Willen zur akkuraten Subtilität. Man glaubt sofort, dass Thomas Mann hier nicht nur seinen Buddenbrook (der Innstettens Sekundant beim Duell ist), sondern auch alles, was ihn oft so unerträglich macht – Überkonstruktion, aufdringliche Symbolismen, Umständlichkeit -, geerbt hat.

Wunderbar freilich das Duell, dessen Sinnlosigkeit (wie die der ganzen Affäre) Fontane in der Eile, mit der er den dramatischen Ausgang schildert, dann doch sehr schön inszeniert.

Friday, August 20, 2004

Herman Melville: Benito Cereno

Erzählung (1956)

Es beginnt mit einem Bild bleierner Stillstellung der Meereslandschaft: „Es war ein für jene Küste bezeichnender Morgen. Trotz einer langhin rollenden Dünung schien das Meer unbewegt zu sein. Es war glatt wie Blei, das in der Gießform abgekühlt, in Wellen erstarrt ist. Der Himmel bildete eine graue Decke.“ Dieses Bild wird kaum in Bewegung gebracht durch das fremde Schiff, das sich zögernd, verzögert nähert, ohne Flagge, mit verdeckter Galionsfigur, mit verblasster, ehemals goldener Schrift „San Dominick“, daneben aber der enigmatische Schriftzug „Seguid vuestro jefe“. Am Heck eine Allegorie, die einen maskierten Mann zeigt, der mit dem Fuß im Genick einen gleichfalls maskierten Mann am Boden hält. Herrschaft ist angespielt, das Feld der Macht eröffnet. Delano, der Kapitän des ankernden Schiffs, betritt die „San Dominick“, bietet Wasser, Nahrung, Hilfe. Die Szenerie an Bord kann er nicht deuten. Eine Überzahl an Schwarzen, ein Sklavenschiff und ein von Hustenanfällen, Trübsinn, Absenzen geplagter Kapitän Benito Cereno. Delano kann sich keinen Reim machen, auf die herumsitzenden Schwarzen nicht, die Beile wetzen und Werg zupfen, man weiß nicht wozu, auf die Spanier nicht, die sich gegen Angriffe nicht wehren. Ein höchst verschlungener Knoten, an dem einer knüpfte, wird ihm zugeworfen, er solle ihn rasch zerschlagen, ein Schwarzer nimmt ihn ihm aus der Hand.

Delano schwankt zwischen Angst, dem Gefühl einer allgemeinen, aber nicht genau zu ortenden Bedrohlichkeit und dem Gedanken der Lächerlichkeit dieses Gefühls. Er geht in die unaufgeräumte Messe – alle spanischen Offiziere sind tot -, sieht zu, wie Babo, der treue Helfer Cerenos, diesen rasiert – ein Blutstropfen -, er weiß das Verhalten des Gefangenen Atufal nicht zu deuten, der mehrfach in Ketten erscheint. Gefangen auf dem Schiff, während das eigene in einer Flaute sich kaum zu nähern scheint, verharrt Delano in diesem subtil geschilderten Zustand der Unschlüssigkeit, deutet Zeichen, die vielleicht keine sind, übersieht, was auf die wahren Verhältnisse hinweisen könnte. In dieser Schwebe des Ahnens, Fürchtens, Rätselns belässt der Erzähler, sehr nahe an den Wahrnehmungen Delanos, auch den Leser. Zur Entscheidung und Auflösung kommt es erst, als der Kapitän das Schiff verlässt, Benito Cereno hinterherspringt und von Babo, der ihm nachsetzt, beinahe erdolcht wird.

Klärung der Verhältnisse erst duch die in Auswahl mitgeteilten Gerichtsakten. Die schwarzen Sklaven hatten gemeutert, die Offiziere ermordet, ihren Besitzer zerlegt und seine Skelett als neue Gallionsfigur angebracht („seguid vuestro jefe“). Benito Cereno wurde gezwungen, in Richtung Senegal zu segeln und bei der Begegnung mit dem fremden Schiff Tragikomödie zu spielen als Kapitän und Führer des Schiffes, der er nicht mehr war. Babo war der Anführer des Ganzen. Unklar bleibt die Position weniger des Erzählers als der Erzählung. Die Klischees nämlich, die der Erzähler äußert – von der Gutartigkeit der Schwarzen, ihrer Eignung zur Unterordnung, ihrem Mangel an Scharfsinn -, werden durch die Aufklärung über die Geschehnisse ad absurdum geführt.

Wednesday, August 18, 2004

Hermann Broch: 1888. Pasenow oder die Romantik

Erstes Buch der Romantrilogie "Die Schlafwandler" (1932)

Modus Realismus. Realismus als Modus, durchschossen, ganz gelegentlich, von Dialogen und Ängsten und Darstellungsformen, die ins Ungeheuerliche tendieren (das Geheure, das nicht Geheure, das Ungeheuerliche). Im Zentrum Joachim von Pasenow, dessen Welt und Leben ihm zu entgleiten droht. Seine Lebensform aber ist, was als literarische Form der Realismus ist, durchschossen nur von Ereignissen und Strebungen, die ihn ihm selbst entfremden. Als jüngerer Sohn eines Gutsbesitzers geht er zum Militär, der ältere Bruder übernimmt das Gut. In der Ausbildung lernt er Eduard von Bertrand kennen, der aber ins Zivilistische entweicht. Dieses Entweichen, das durchaus mit Weichheit konnotiert ist, als eine der zentralen Bedrohungen für Pasenow. Dagegen: die Uniform, der Halt, den sie gibt, als Lebensform. Form und drohender Formverlust. (Und natürlich das rein Äußerliche dieser Form; diese zwei Seiten der Form: sie gibt Halt und sie ist leer. Leer gewordener Halt, der Gestalt gewinnt in Auflösungsformen.)

Der Verlust der Form in der Liebschaft mit Ruzena, der böhmischen Prostituierten. Nicht das Verhältnis ist Symptom, sondern dass er sie beinahe liebt, dass diese Liebe seiner der Form gehorchenden und von den Eltern geplanten Heirat mit Elisabeth vom Nachbargut im Wege zu stehen droht. Er pendelt hin und, zwischen Gut und Berlin, unentschlossen. Sein Bruder stirbt im Duell, eine Sache der Ehre, aber auch der Unlust am Leben. Die Formel von der Ehre führt der Vater im Munde, während es dem Sohn noch im Tod am Ernst der Form, die nur noch leer, wenn auch tödlich, gefüllt wird, zu fehlen scheint. Der Vater aber, selbst schon zu Beginn als hinkende, alles andere als stattliche Figur gezeichnet, verfällt, wird zusehends dement. Die Fixierung auf die tägliche Post als Warten auf etwas, das gar nicht eintreten kann. Der Sinn der Lebensform, die der Vater kennt, in die noch der Sohn gehört und schon nicht mehr gehört, wird nie wiederkehren. Dieses Ausfransen, dieses Ausbluten als Entgleiten ohne Entschluss zeigt der Roman.

Als Absolutum - aber im Zivilen, im Geschäftlichen - tritt Eduard von Bertrand auf im Gespräch mit Elisabeth, die er nicht der Form nach, sondern mit wild entschlossenem Willen zur Ewigkeit liebt. Dies der Aufschein, den einer wie Joachim von Pasenow gar nicht scheinen sieht. Bertrand strukturiert den Roman mit diesem Fluchtpunkt der Utopie, die nur als nicht gelebte und nicht lebbare intakt bleiben kann. Die Fremdheit muss absolut bleiben, das ist Liebe - der Übergang vom Sie zum Du (im ungeheuerlichen Gespräch mit Elisabeth) ist abrupt und schroff. Für Pasenow, aber auch Ruzena, ist Bertrand nur Projektion. Im Roman selbst, das ist wichtig, ist er mehr als das. Das Geschäftliche ist hier mit dem Sinn fürs Utopische konnotiert und mit dem Wissen um die Unmöglichkeit des Utopischen wie seine Zerstörungskraft.

Elisabeth steht zwischen Pasenow und Bertrand. Ihr Gesicht entgleitet Joachim ins Landschaftliche, Unmenschliche. Bertrand taucht auf als indischer Geist im Kaiserpanorama. Diese Erscheinungsformen des schlafwandlerisch Unwirklichen sind Darstellung einer langsamen Bewegung, mit der Joachim der Boden, jeder Boden unter den Füßen entschwindet. Nicht Auslöschung, sondern Auflösung. Von außen betrachtet aber bleibt die Form gewahrt: Am Ende heiratet Pasenow Elisabeth, des Erzählens wert aber ist das gar nicht mehr. In der Hochzeitsnacht gleitet er neben ihr ins Bett, in der Uniform, die er nicht ausziehen wird. Das letzte kurze Kapitel ist dann der blanke Hohn: "Nichtsdestoweniger hatten sie nach etwa achtzehn Monaten ihr erstes Kind. Es geschah eben. Wie sich dies zugetragen hat, muß nicht mehr erzählt werden. Nach den gelieferten Materialien zum Charakteraufbau kann sich der Leser dies auch allein ausdenken."

Tuesday, August 17, 2004

Chrestien de Troyes: Yvain

Roman (1170)

Im Kern nicht eine, sondern mehrere Geschichten des Verfehlens und Verkennens. Schon in der Dopplung des Namens des Helden wird es ersichtlich: Yvain / Der Löwenritter. Im Laufe der aventiure spaltet er sich: nach außen, in ein unpsychologisch Auswendiges gebrachte Zweiteilung.

Urszene: Eine Quelle im Wald, ein Unwetter, das ausgelöst wird, ein Mann, der auftaucht. Yvain siegt, tötet den Mann und bekommt die Frau, die zunächst vor Schmerz um den Toten ganz wahnsinnig ist. Eine solche Frau, denkt Yvain, könnte selbst Gott nicht noch einmal schaffen. Es nahen jedoch die Ritter der Tafelrunde, das Land zu erobern, den Mann, den heimlich Yvain - der Ritter auf der Suche nach Ruhm - schon besiegt, zu besiegen. Die Herrin, Landine de Landuc, braucht einen Verteidiger und ehelicht darum Yvain. Der demütigt im Kampf Keu, den Unverschämten. Gauvain aber fordert Yvain, der sich eigentlich glücklich wähnt mit der schönsten Frau der Welt, auf, nicht zu verweichlichen im Eheglück und mit ihm auszuziehen, aventiuren zu bestehen. Landine stimmt zu, mit einem Ultimatum: Kehrst du nach einem Jahr nicht zurück, ist es aus.

Hier rafft der Erzähler ungemein: das Jahr geht vorüber, Yvain achtet, im Eifer der Gefechte, nicht darauf. Lunete, die Zofe der Herrin, eine mächtige Mittlerin, die zentrale Zwischen-Heldin des Romans - tätig, kuppelnd, rettend, später deshalb auch als zu Rettende, zwischen den Helden -, findet ihn, überbringt das Verdammungsurteil der Gemahlin: Kehre niemals zurück! Yvain fällt dem Wahnsinn anheim, zottig und nackt treibt er sich als Wilder Mann herum bis ihn drei Frauen finden, eine von ihnen salbt ihn - überreichlich - mit Anti-Wahnsinns-Salbe. Yvain kann, genesen, weiter kämpfen, tötet eine Schlange, die einen Löwen zu besiegen droht. Der weicht fortan, dankbar, Yvain nicht mehr von der Seite. Hier nun die Namensspaltung: Yvain gewinnt Ruhm und einen ihm weithin voraus eilenden Namen als Löwenritter.

Kämpfe, noch mehr Kämpfe. Den Riesen Harpin vom Berge besiegen. Lunete, jetzt gefangen, schon auf dem Scheiterhaufen, retten. Alles gelingt, aber nur mit Hilfe des Löwen, der stets rechtzeitig beispringt und die Gegner buchstäblich zerfetzt. Verkennungen: Die Herrin, der er zur Hilfe eilt, erkennt ihn nicht. "Herrin! Ihr tragt den Schlüssel bei Euch und habt das Schloß und den Schrein, in dem meine Freude ist, und wißt es nicht." Letzte Großepisode, Zuspitzung des Nicht-Erkennens: Zwei Schwestern, die Ungerechte ruft - mit Zustimmung von König Artur - Gauvain um Hilfe, die Gerechte, in letzter Minute: den Löwenritter, der zuvor noch eine aventiure auf dem "Chastel de pesme avanture" zu bestehen hat und 30 Jungfrauen rettet, wieder mit Hilfe des Löwen.

Dann das Duell der Freunde Gauvain und Yvain, die nicht wissen, wer unter der Rüstung steckt. Der Erzähler hebt an zu einem langen Exkurs darüber, wie es sein kann, dass Liebe und Hass sich im selben Mann vereinen. Haus-Metapher: Die Liebe im einen Zimmer, der Hass im anderen, dazwischen eine Wand, die das Wissen trennt. Psychologie wird in die Metapher externalisiert. Im Kampf erweisen sie sich als einander gleichwertig. Erschöpft ruhen sie am Abend, es steht unentschieden. Endlich verrät Gauvain seinen Namen, Anagnorisis, Wiedererkennen. Aufgipfelung zur Anagnorisitis: Nicht ohne eine erneute List Lunetes erkennt auch Landine de Landuc ihren Ehemann, nicht ohne nur langsam verrauchende Wut verzeiht sie ihm und nimmt ihn zurück.

Monday, August 16, 2004

Walter Benjamin: Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen

Eine Folge von Briefen, mit Kommentar (1936)

Adorno dröhnt, im Nachwort: "eigentlich lassen sich keine Briefe mehr schreiben. Benjamins Buch setzt ihnen das Denkmal. Die noch entstehen, haben etwas Falsches, weil sie durch den Gestus unmittelbarer Mitteilung Naivetät bereits erschleichen." Schon gut. Dagegen Benjamin dröhnt nicht, er dröhnt nie. Adorno haut stets auf die Köpfe der Nägel, trifft sie zumeist, und, seltsam genug, bei ihm dröhnt das. "Deutsche Menschen", schon Benjamins Titel ist voller Hintersinn. Die Sammlung mit Kommentaren erschien 1931/32 in der Frankfurter Zeitung, versammelt aber zu Hoffnung auf Wirkung und zu tatsächlicher totaler Wirkungslosigkeit wurde sie noch einmal veröffentlicht 1936 in der Schweiz, unter dem Pseudonym Detlef Holz. Holzwege.

Worum es geht, in finsterer Zeit: Humanität - und zwar die Humanität des Bürgertums, dessen Epoche im Zeichen des Unheils als beinahe goldene erscheinen muss. Nichts aber verträgt, das sagt Adorno auch ungefähr so, nur zu laut, die Rede vom Menschlichen und Humanen weniger als das Dröhnen. Also lässt Benjamin fremde und oft sanfte Rede sprechen, mit eigenen Anmerkungen, die Hintergründe klären, kaum mit Wertungen, weil die Wertung den fremden Texten und ihrer Zusammenstellung implizit ist. Das Bedeutende, das Große ist dabei gerade die Kategorie, die Benjamin vermeidet. Was zu lesen ist, sind Privatbriefe, zwischen Freunden oft, Clemens Brentanos Trauer über den Verlust der geliebten Frau, aber auch ein beinahe herablassender, beinahe Abschieds-Brief Friedrich Schlegels an Schleiermacher, in dem jener diesen bittet, "es allenfalls, wenn es Dein Verstand zulässt, als Hypothese zu denken, dass Du mich vielleicht von Anfang bis zu Ende durchaus nicht verstanden hättest. Und so bliebe wenigstens die Hoffnung, dass wir uns in zukünftigen Zeiten einmal verstehen werden können." Daraus macht Benjamin keine These zur Hermeneutik, er lässt das alles für sich sprechen.

Über die Briefe und die Sprache, die Sprache der Briefe Hölderlins: "Auf schroffen Höhen, wo der nackte Fels der Sprache schon überall an Tag tritt..." Das ist wunderbar, auch wie Casimir Ulrich Böhlendorf, dem Hölderlin sich wesensverwandt fühlte, in diesem Moment, als Adressat des abgedruckten Briefes, vor dem Vergessen gerettet wird. "Gott hatte ihm eine besonders gute Begabung mitgegeben. Aber er wurde geisteskrank, und da er überall fürchtete, daß die Menschen ihm seine Freiheit nehmen wollten, wanderte er mehr als zwanzig Jahre umher, viele Male ganz Kur- und einige Male auch Livland zu Fuß durchquerend." Das ist aus dem Nachruf einer lettischen Zeitung zitiert. Großer Respekt gilt Johann Gottfried Seume, der "kein großer Dichter war", aber doch von einer "untadligen Haltung", mit deren Lob schon fast alles gesagt ist über die Zeit, in der Benjamin diese Briefe zusammenstellt.

Am verblüffendsten jener Brief, der Benjamin der liebste zu sein scheint, vom Theologen Samuel Collenbusch an Immanuel Kant, an dem besonders die Vergeblichkeit der Hoffnung, die darin ihren bewegten Ausdruck findet, anrührt. Er beginnt: "Mein lieber Herr Professor! Die Hoffnung erfreut das Herz. Ich verkaufe meine Hoffnung nicht für tausend Tonnen Goldes. Mein Glaube hofft erstaunlich viel Gutes von Gott." Kants Philosophie, fast ohne Gott, fast ohne Hoffnung, kann Collenbusch nicht fassen und diese Fassungslosigkeit formuliert er in einem Brief, für den dasselbe gilt wie für seinen gesamten Briefwechsel, "dessen meisterhafter Stil von einer Fülle schrulliger Einzelheiten durchwoben ist." So Benjamin. Adorno, im Nachwort, betont die Bedeutung, die die "Hoffnung" für Benjamin hatte. Er kommt seiner Aufgabe nach, den anderen auf Linie zu bringen. Wo Benjamin aber, in seinen oft ganz sachten Kommentaren, zu einer Feinheit gelangt, durch die das Denken, ohne sich etwas zu vergeben, aufs Gebiet des Gefühls hinübergelangt, da exekutiert Adorno eine Philosophie, die das Exekutorische aufs Schärfste negiert.

Saturday, August 14, 2004

Pierre Carlet de Marivaux: Ein Spiel von Liebe und Zufall

Drama (1730)

Veheiratungskomödie, symmetrisch strukturiert. Silvia, sagt ihr Vater M.Orgon, soll Dorante heiraten. Sie aber will prüfen, ehe sie sich ewig bindet und ersinnt eine List: Sie tauscht den Namen und die Rolle für den anreisenden Zukünftigen mit der Zofe Lisette. Dorante aber, das sagt natürlich schon alles über die Kompatibilität der beiden, hat justament dieselbe Idee. Er schickt den Arlequin als Dorante vor und befasst sich mit Lisette, der Zofe, die Silvia ist. M. Orgon wiederum ist in Dorantes Täuschung eingeweiht, Briefe unter Vätern. Er sagt Silvia nicht Bescheid, um der doppelten Prüfung Vorschub zu leisten.

Es kommt, wie es kommen muss, die Prämisse hält, was sie verspricht, aber genau das scheint ein bisschen wenig. Die Überraschungen bleiben aus. Die Zofe verliebt sich in den Diener (der Arlequin heißt: das ganze ist für die der commedia dell'arte noch recht unmittelbar entstammende "Comédie Italienne" in Paris entstanden), der Diener in die Zofe und beide wissen nicht genau, wie sie dem anderen beibringen sollen, dass sie weniger sind als sie scheinen. Dorante verliebt sich in Lisette, die in Wahrheit Silvia ist. Die verliebt sich in den Diener Bourguignon, der in Wahrheit Dorante ist und beide denken, ihr Herz habe sich unter Niveau entschieden. Die Vernunft sagt nein, aber sie scheint keine Sekunde wirklich überlegen. Für den Betrachter ist der Konflikt, in einem Fall entschärfender dramatischer Ironie, längst schon entschieden: die Liebenden wider Willen leiden und kämpfen für die Galerie.

Das läuft dann, mit viel Geist auf allen Seiten, auf die Liebesprobe Silvias hinaus: Dorante gibt als erster zu, dass er ist, wer er ist und Silvia will als Zofe geliebt sein. Der Vater: "Das heißt also, er soll das ganze Ausmaß der Herausforderung empfinden, die er auf sich zu nehmen glaubt; welch eine unersättliche, selbstgefällige Eigenliebe." Mario (Silvias Bruder): "Es ist die Eigenliebe einer Frau, ganz einfach." Und die gewinnt, mit Pauken und Trompeten. Dorante nimmt nichts übel. Die Welt stand gar nicht auf dem Kopf. Dieser Anschein war Täuschung, alles hat seinen Ort. Ein Spiel um Liebe, das ja, aber der Zufall hat darin keine Rolle.

Thursday, August 12, 2004

Clarín: Sein einziger Sohn

Roman (1891)

Ein spanisches Provinznest, zeitliche Situierung am präzisesten: 19. Jahrhundert, Post-Romantik. Ernüchterung ist eingekehrt in den wenigen Kneipen der Stadt, Enthusiasmus ist nicht mehr à la mode. Jedoch, aber vielleicht genau des Anachronismus wegen zu einer besonders grausamen Form des Scheiterns verurteilt: Emma, die Heldin, verliebt sich in Bonifacio, den Helden. Sie ist fünfzehn und er Schreiber beim Advokaten, der Emmas Vater ist. Schreiben kann er nicht, gut sieht er aus und dann wird er weggeschickt, geht nach Mexiko, die Tochter muss ins Kloster. Der Vater stirbt, Onkel Nepomuceno wird Vormund. Emma lässt Bonifacio suchen, er wird gefunden und geheiratet. Das die ersten zwei Seiten.

Emma wird, nach einer gescheiterten Schwangerschaft und durch darauf folgende Krankheit, zur Tyrannin. Sie hat das Geld, um das sich freilich der Onkel kümmert. Bonifacio ist Pflegepersonal. Ihre Verwandschaft schleicht, verarmt, ums Haus. Emma gibt mehr Geld aus, als dem Vermögen gut tut, der Onkel hat seine Finger im Spiel und in der Kasse. Dann kommt eine Operntruppe ins Dorf, herunter gekommen, glamourös genug für die Provinz. Bonifacio, der ein leidenschaftlicher, wohl gar nicht schlechter, wenngleich nicht großer Flötenspieler ist, entflammt. Für die Musik, fürs Milieu, vor allem aber: für die Sopranistin Serafina Gorgheggi, eine sanft verblühende Schönheit. Abrupt verblüht ist dagegen Emma. Als Trabanten um Emma, die Oper ziehen Marta Körner und ihr Vater ihre Kreise. Sie hat es auf Nepomuceno abgesehen, den Greis, sein Geld.

Bonifacio, der glücklich ist, wird um Geldunterstützung gebeten, von den Opernleuten. Er gibt gerne, genauer gesagt: erst gibt der Onkel, dann erschleicht sich der Verliebte das Geld auf moralisch sehr anrüchige Weise. Die Monate vergehen. Bonifacio lernt die Liebe kennen, in aller leidenschaftlichen Ausführlichkeit, in den Schäferstunden mit der Gorgheggi. Zweimal, in seltsamen Zuständen, auch Sex mit Emma. Die gesundet, wider alles Erwarten. Sie wird zur Musik-Enthusiastin, sie verliebt sich in den Bariton. Geschäftliche Unternehmungen nebenbei, eine Chemiefabrik, die an Algen scheitert, die mit Pulver gewinnt (Emmas Geld steckt in den Algen).

Bonifacio, und hier erweist sich Clarín als wahrer Meister, versteht sich selbst nicht mehr. Der Erzähler, allwissend nur, wenn er mag, bleibt stets in seiner Nähe. Gibt den nur gefühlten, aber raffiniert-verschrobenen Anwandlungen des Liebenden, Sehnenden, Gequälten Worte, von denen er gleich dazusagt, dass Bonifacio selbst sie nicht hätte finden könne. Dann wieder Bonifacios Worte, von denen der Erzähler sich distanziert (seine Worte, steht dann in Klammern). Nie freilich macht der Erzähler sich ganz mit der Figur gemein, nie betrachtet er sie als Helden. Die totale Denunziation aber meidet er auch.

Bonifacio ist beinahe eine Jean-Paul-Figur, im strebenden Bemühn, in der Schrulligkeit, in den Ahnungen von größeren Zusammenhängen, in der hoffnungslosen Provinzialität, aber der Erzähler ist nicht von Jean Paul. Nicht ohne Sympathie, nicht ohne Einfühlung, aber stets wird größere Weltläufigkeit markiert, nie weitet sich das Provinzielle anders als durch Distanzierung, in der dann ein anderes Verhältnis zu den geschilderten Geschehnissen nur aufscheint.

Hinaus läuft alles auf einen Glaubensakt Bonifacios, mit dem er sich selbst erlösen will: Er hat die Vision von der Geburt eines Sohnes, er fühlt sich - dies der Gipfel der Clarínschen Subtilität in Anflügen des Wahnsinns - als Mutter dieses Sohnes. Und Bonifacios Mutterschaft wird wahr, aber auf bittere Weise. Als Vater nämlich des Sohnes, den Emma zu ihrem eigenen Entsetzen gebären wird, kann er sich der Vaterschaft naturgemäß nicht sicher sein. Bonifacio wird für sein Glück nicht Gott, aber den Glauben an den Sohn, den einzigen Sohn gefunden haben müssen, das erfährt auch die Gorghetti, die, von Bonifacio verlassen, ihm klar machen will, dass Antonio in Wahrheit der Sohn des Baritons ist. "Serafina ..., ich verzeihe es dir..., weil ich dir alles verzeihen muß... Mein Sohn ist mein Sohn. Was du nicht hast und suchst, das habe ich: ich habe einen Glauben, den Glauben an meinen Sohn. Ohne diesen Glauben könnte ich nicht leben. Ich bin sicher, Serafina, mein Sohn .... ist mein Sohn. Oh ja! Mein Gott! Er ist mein Sohn!"

Tuesday, August 10, 2004

Calderón de la Barca: Das Leben ist ein Traum

Drama (1636)

Sigismund, des Königs von Polen Sohn, im Turm. Die Sterne sprachen gegen ihn und weissagten einen Tyrannen. Daraufhin ergreift der Vater eine Vorsichtsmaßnahme, sperrt ihn ein und produziert so – einen Tyrannen (den Sternen, wird Sigismund, am Ende aus dem Traum, in den Traum, erwacht, die Schuld geben; die prophecy war self-fulfilling). Das erweist sich bei der Bewährungsprobe: Der Vater traut den Sternen nicht mehr, setzt, von einem Tag auf den anderen, den Sohn auf den Thron, der soll zeigen, wer er ist. Das tut er: Er schmeißt einen Domestiken vom Balkon und will allen, die ihn eingesperrt haben, ans Leder. Zurück muss er in den Turm, als er erwacht, sagt man ihm: Es war nichts als ein Traum. „Was ist Leben? Raserei! / Was ist Leben? Hohler Schaum, / Ein Gedicht, ein Schatten kaum! Wenig kann das Glück uns geben; / Denn ein Traum ist alles Leben / Und die Träume selbst ein Traum.“ Nebenplot eins: Astolf, Herzog von Moskau, spekuliert auf den Königsthron, ebenso wie Prinzessin Estrella. Der Streit soll gelöst werden, Interimsverständigung, durch Heirat der beiden. Nebenplot zwei: Rosaura mit ihrem fürwitzigen Gehilfen Clarin taucht auf einem feurigen Pferd auf – das macht sich sogleich davon – vor Sigismunds Turm. Sie hat zu klären, wer sie ist, aber anders: Ihren Vater, der sie gezeugt und die Mutter verlassen hat, sucht sie – und hat ihn gefunden, lange bevor sie es ahnt (der Zuschauer aber bekommt in mancher Nebenbemerkung mehr als eine Ahnung), in Clotald, der Sigismund in Banden hält.

Die Probe Sigismunds scheitert, aber damit ist es nicht abgetan. Er kommt ins Grübeln übers Leben, das, so gewiss es sich anfühlen mag, ein Traum sein kann. Die neue Devise: Lebe so, als wäre es nur ein Traum, aus dem du erwachen musst. Sprachlich findet das statt in vierhebigen, fast stets gereimten Trochäen. In den großen „ariosen“ Monologpartien fällt der Reim gelegentlich aus. Calderón liebt das Concepto, meist nicht zu den Höhen und Verwicklungen der agudeza getrieben, aber durch die Bildbereiche höchst einfallsreich amplifiziert. Vorliebe fürs Dialektische, umrankt wird so die unauflösliche Dialektik von Leben und Traum, Leben als Traum, Traum als Leben. Komische Effekte der raffinierteren Art verschmäht Calderón nicht.

Die prästabilierte Lösung der Plots ist inszeniert als ein Fallen der Motivationen und Figuren an ihren Platz. Alles von Beginn an zu lesen vom Ende her, auf das es nicht zufällig zufällt. Hier werden keine Knoten durchschlagen, hier lösen sie sich wie von Gotteshand. Sigismund ist, durch eine Lektion, die der Vater gar nicht zu erteilen plante, ein anderer:

Was erstaunt ihr, was erschreckt euch, / Wenn ein Traum mein Lehrer war / Und ich voll Beklemmung fürchte, / Daß ich noch einmal erwache, / Noch einmal im Turm mich finde? / Mag es anders auch geschehen, / Es genügt schon, es zu träumen; / Denn ich habe eingesehen, / Daß das ganze Glück der Menschen / Schließlich wie ein Traum vorbeizieht; / Diesmal will ich es benützen, / mag es kurze Frist auch dauern. / Um Vergebung unserer Mängel / Muß ich bitten; edlen Herzen / Ist es eigen, zu verzeihen.

Sigismund wird König. Er erhält Estrella zur Frau. Astolf, den Rosaura im Verdacht hatte, ihr Vater zu sein, wird ihr Mann. Noch eine zynisch antirevolutionäre Pointe, nachdem alle verheiratet sind. Der Verräter, dem Sigismund einen Aufstand zu seinen Gunsten zu verdanken hat, wird in den Kerker geschickt: „Der Verräter ist entbehrlich, / Wenn erst der Verrat vollbracht ist.“ Alles in der besten Ordnung, auf die es von Anfang an zustrebte.

Elias Canetti: Pary im Blitz

Erinnerungen (2003)

Offenkundig unfertiges Buch; Wiederholungen, Unzusammenhängendes. Keineswegs als gleichwertige Fortsetzung der Autobiografie-Trilogie zu begreifen. Sehr viel weniger durchgearbeitet, Fäden, die heraushängen, schroffe Abbrüche. Figurenkabinett, das oft – und unfreiwillig – im Porträt den Betrachter ebenso porträtiert. Die Strenge Canettis, der sich als unendlich geduldiger Zuhörer darstellt – und als einen, der gnadenlos urteilt. Fassungslos macht das Porträt der Iris Murdoch, die ihm zum geraden Gegenbild seiner selbst wird: Ihre Zeit ist eingeteilt, er kennt die Uhr nicht. Sie hört raffgierig zu, er nützt, was er hört, kaum für sein Werk. Das kulminiert im Sex, den sie haben. Er beschreibt sie dabei als Sukkubus, der nicht am Sex interessiert ist, sondern daran, ihn auszuhorchen, ihn zu bestehlen. Sie ist Oxford, er ist ein Mann von Welt. Sie hat Erfolge, wird berühmt, er muss darauf allzu lange warten. Sie ist Philosophin im Kontext ihrer Zeit, von Sartre bis Derrida. Canetti sieht sich außerhalb aller disziplinären Grenzen, dass Masse und Macht nicht als das Werk epochalen Ausmaßes, für das er es hält, erkannt wird, bleibt die Kränkung, die Iris Murdoch büßen muss. Canetti vernichtet sie, mit Stumpf und Stiel. Das fällt als grandioser Mangel an Souveränität, als Unfähigkeit, das zu verstehen, was ihm fremd ist, auf ihn zurück.

Canetti lässt sich kaum von Menschen einnehmen. Canetti hasst, aber noch im Hass wahrt er die Form. Er hält seine Leidenschaften in einer nie aus dem Takt geratenden Sprache gefangen. Er ist durch und durch humorlos. Vielleicht charakterisiert ihn das am Tiefsten; die Tatsache des (eigenen, nur des eigenen) Todes als nicht gut zu machende Kränkung, aus der nicht Relativierung des Daseins zu ziehen, als Humor, sondern fortgesetzte Empörung, vor allem über die, die diese Kränkung nicht empfinden. (Es gibt in „Party im Blitz“ auf den ersten Blick eine relativierende Stelle; er spricht vom Friedhof und den Grabsteinen, dem Sich-Einsfühlen mit den Toten, angesichts der ungelösten Frage des eigenen Todes; aber nur mit den Toten. Kein Trost, den zu geben Lebenden erlaubt oder möglich wäre.) Sich in Gott und Sekten flüchten – das interessiert ihn, aber nur als Methode eines primitiven Stammes (seine Vermieter, die Milburns). Wie er die Mythen ernst nimmt, als Ausdruck einer Kränkung, die nur in einer angemaßten Größe und Ewigkeit besänftigt werden kann. Canetti kann nur akzeptieren, was sich als Mythos begreift. Alles Arrangement, aller Kompromiss ist ihm zuwider, darauf reagiert er mit mythisch zurecht gehauenem Hass. T.S. Eliot als Gegenfigur, an dem kein gutes Haar bleibt. Am Engländer (er neigt sehr zum Nationalcharakteristischen, schon weil von der Warte dieser Übersicht aus mit Leichtigkeit Urteile zu fällen sind) verachtet er die Distanznahme, die nicht die Größe der Reaktion auf Kränkung hat. Übrigens kann Canetti durchaus bewundern, vor allem das ihm sehr Fremde, das keine Konkurrenz darstellt: den Philosophen Bertrand Russell, den Erfinder Geoffrey Pike, auch – in Grenzen – den Freund und Gönner Aymer Maxwell.

P.S.: Interessanteste Anekdote am Rande: Oskar Kokoschka bekam einst die Stelle an der Wiener Akadamie, auf die sich auch Hitler beworben hatte. Hätte Hitler die Stelle bekommen, wäre der Welt das Unheil erspart geblieben, darauf besteht Kokoschka. „Es war ihm unmöglich, in die Zeitgeschichte eingewoben worden zu sein, ohne in ihr auch etwas zu bedeuten, sei es auch nur durch Schuld, eine sehr zweifelhafte Schuld.“

Thursday, August 05, 2004

Xenophon: Das Gastmahl

Dialog (ca. 385 v.Chr.)

Xenophon war in seiner Jugend ein Schüler des Sokrates, dann verdingte er sich als Söldner in die Perserkriege. Darüber schrieb er, der später auf Seiten Spartas kämpfte, in Sparta im Exil war, in seinem berühmten, zu weiten Teilen autobiografischen Geschichtswerk "Anabasis". Das Gastmahl dagegen ist ein Dialogwerk im von Platon im wesentlichen vertrauten Stil. Der Form nach wenigstens, denn dem philosophischen Ernst steht hier, nahe der Komödie, mancher schlechte, auch mancher gute Scherz entgegen. Kierkegaard hat den allzu schalkhaften, zu unernsten, und seiner Hässlichkeit wegen immer wieder aufgezogenen Sokrates des Xenophonschen "Gastmahls" gehasst.

Zehn Leute versammeln sich beim reichen Kallias, der seinem Geliebten Autolykos zu Ehren ein Gelage veranstaltet und, um die Tafel zu schmücken, ein paar Vertreter der athenischen Hautevolée und Intelligenz dazulädt. Berühmt ist Kallias - darauf wird auch angespielt - im übrigen eher als (faustdick finanzieller) Förderer der Sophisten, nicht des Sokrates. Fahrende Gesellen treten auf, veranstalten Jonglagen, Schwerttänze, eine Frau springt duch einen mit Messern bestückten Ring. Sokrates lobt darauf das weibliche Geschlecht: Wenn es vom Mann richtig geführt wird, dann ist es auch zu Heldentaten bereit. Er wird gefragt, warum er die furchtbare Xanthippe geheiratet hat (dieser Stelle neben einer anderen verdankt diese, sagen die Anmerkungen, ihren schlechten Ruf) und lobt den Trainingseffekt: Wer das Schlimmste zu Hause erträgt, den kann nichts mehr erschüttern.

Es wird getrunken und der Wein gelobt, nicht im Übermaß genossen. Sokrates preist den Tanz, der für eine gute Figur sorgt und einer der Beteiligten führt eine Art Schütteltanz auf: "... so hieß er die Flöenspielerin, das Tempo anzuziehen, und warf alles, Beine, Arme und Kopf zugleich umher." Es muss ein jeder, rundum, die Frage beantworten, "was er für seine wertvollste Fähigkeit hält". Einer der kein Geld hat, sagt: seinen Reichtum - und meint den der Seele. Einer der auch kein Geld hat, sagt: meine Armut - weil er nichts zu verlieren hat. Der Schöne lobt seine Schönheit. Einer kann Homer auswendig und muss sich anhören, dass das die Rhapsoden auch können - und deren Mangel an Intelligenz ist sprichtwörtlich. Sokrates, immer originell: Ich bin stolz auf meine Fähigkeiten als Kuppler. Recht gewendet geht es darum: Er kann dafür sorgen, dass Menschen unter seiner Führung sich angenehm entwicklen. So kuppelt er sie mit allen anderen. "So sprachen sie abwechselnd im Ernst und im Scherz."

Gegen Ende hin: Eine große Rede des Sokrates über Eros, die Liebe. Die zwei Arten der Liebe, die sinnliche und die geistige. An der sinnlichen bleibt kein gutes Haar: Schönheit vergeht, man bekommt sie über, sie ekelt den (jungen) Liebhaber: "Denn der Knapbe teilt - anders als die Frau - mit dem Mann nicht die Wonnen des Liebesgenusses, sondern sieht nüchternen Sinnes einen von Liebe Berauschten". Sie macht putzsüchtig, Zeus hat seine Geliebten nie unsterblich gemacht. Die geistige dagegen: Sie währt, sie macht, dass man dem Geliebten Gutes will und sich von der besten Seite zeigt. Zum Schluss, ein verblüffendes Ende, noch einmal die fahrenden Leute, die eine Art "lebendes Bild" vorführen: Die Hochzeit von Ariadne und Dionsyos. Es geschieht aber eine Art Transsubstantiation: Man sieht nicht das Schauspiel der Liebe, sondern wahre Liebe, keinen gespielten Kuss, sondern einen gefühlten Kuss: "Sie machten nämlich nicht den Eindruck, als hätte man ihnen die Gesten einstudiert, sondern Erlaubnis gegeben, das zu tun, wonach sie sich seit langem sehnten. Als die Gäste schließlich sahen, wie sie einander umschlungen hielten und gleichsam zur Hochzeitsnacht hinausgingen, schworen sich die Unvermählten zu heiraten, und die Verheirateten sprangen auf ihre Pferde und galoppierten zu ihren Frauen, um zu ihnen zu kommen." Auf dieser angenehmen Note endet das Gastmahl.

Wednesday, August 04, 2004

Gustave Flaubert: Lehrjahre des Gefühls

Roman (1869)

Lehrjahre, die scheitern. Aus Frédéric Moreau wird nichts. Er ist der Held von Flauberts Historienpanorama, aber vor allem ist er der Inbegriff einer Zeit und ihrer Mittelmäßigkeit. Ein Held, der von Impulsen und den Energien der Straße und den Einfällen anderer Leute und aus Büchern aufgeschnappten Idealen getrieben wird, ohne aus Reflexion einen Sinn oder Willen oder vernünftigen Grund zu nehmen für das, was er tut. Den Kreis der Frauen abschreiten, mit denen er nicht glücklich wird. Der Minnedienst an Madame Arnoux, die er zur unerreichbaren Reinen stilisiert. Sie beschließen, einander nicht anzugehören. Dabei ist die Minne als Dienst dazu gedacht, Texte zu produzieren, Literatur, Kunst. Frédéric produziert nichts als das eigene Unglück und die leere Spiegelung eines Zeitalters. Die Mätresse, die ihm nur zum Beweis dient, nur weiß Frédéric nie genau wofür. Als er Vater wird, ist er bestürzt. Dafür lebt er nicht. Madame Dambreuse, die er benutzen will, an der er nichts findet als einen vermuteten Weg nach oben. Frédéric ist der blanke Opportunist mit einer vagen Idee vom Aufstieg. Eine Leidenschaft hängt daran nicht.

Er ist ein Zentrum, von dem keinerlei Energien ausgehen, ein Mittelpunkt, der wie unbeschrieben bleibt, ein Held, der nichts lernt, der sich nicht ändert, der nichts ändert, null und nichtig. Flauberts Obsession mit dem Null und Nichtigen überhaupt. Die „Education Sentimentale“ ist ein Panorama, das alles zu sehen gibt auf Makulaturbögen. Die Eigenheiten einer Epoche werden nirgends zu individuellen Eigenheiten, ein jeder ist entwertet zum Typus. Aus den Eigenheiten folgt nichts Inwendiges, nicht einmal aus den Gemeinheiten. Das ist kein Kunstfehler, sondern eine bösartige Diagnose. Unbeteiligt bleibt der Erzähler nur zum Schein. Es entschlüpfen ihm immer wieder Verdammungsurteile. Es kreuzen sich die Verachtung für das, was beschrieben wird und die rasende Wut, dem Nichtigen Form zu geben. Eine dem Schönen ganz abgewandte Kunst, die aber just in dieser fortgesetzten Abwendungsbewegung die Freiheit gewinnt, groß zu werden. Nichts an dieser Größe ist dem Gegenstand verdankt, alles – sozusagen – sich selbst: der Sprache, der Beobachtung. Die Kunst, aus Stroh Gold zu spinnen.

Die epische Konstruktion beinahe schematisch. Um das leere Zentrum Frédéric gruppiert die Politik, die Liebe. Genau und fein austariert, nichts darf fehlen, noch die Redundanzen sind aufs Mikrogramm dosiert. Alles ist im Gleichgewicht, Motive tauchen auf, verschwinden, erscheinen wieder, in einer neuen Durchführung. Das Wesen des Opportunisten: Er ist bereit, jede Veränderung mitzumachen und bleibt sich gerade dadurch immer gleich. Die Revolution, ihr Versuch bleibt mit diesem Personal ein Witz, ein schlechter Witz. Scheitern auf allen Linien. Noch der Verrat bleibt klein, nichtswürdig. Beinahe schon zu viel: dass Sénécal die reine Seele Dussardier ermordet, zum Schluss. Bitteres Ende: Die einander weder in Hass noch in Liebe, sondern in kleinlicher Konkurrenz zugetanen Freunde Moreau und Deslauriers lassen ihr Leben Revue passieren. Die schönste Erinnerung: Ein Bordellbesuch in ihrer Jugend. Madame Arnoux‘ Haare sind weiß geworden: Sinnbild der Entleerung, Enttäuschung. Sinnlose Lehrjahre, falsche Gefühle.

Tuesday, August 03, 2004

Hermann Broch: Barbara

Novelle (1936)

Müsste man eigentlich zitieren, um es zu glauben. Sätze, die mit Pathos dahineilen und dir was von den tiefsten Tiefen der Existenz schwurbeln. Festgemacht, ganz lose, beinahe notdürftig, an einer Frau, Barbara, Doktor Barbara, der Kinderärztin und Kommunistin, an der der Ich-Erzähler und Arzt die Liebe entdeckt als Macht, die das Ich und das Du zusammenleimt zu etwas Höherem, Extatischen. Die Extase steckt in den Sätzen, die das schwurbelnd herbeifiebern. Hätte Heidegger, denke ich zwischendrin, eine Liebesschmonzette geschrieben, das klänge vielleicht so. Ähnliche Faszination auch, zwischen Belustigung ob des zusammenfabulierten Tiefsinns und Mitgerissensein von der Sprache. Satzperioden hier, die einen beinahe all den Unsinn glauben lassen und Landschafts- und Seelenbeschreibungen, die ihresgleichen gewiss suchen. Mehr Broch lesen, um zu sehen, ob das immer so geht, ob sich das in der Manier verliert. Die Atemlosigkeit, mit der diese Sätze auf eine Beobachtung oder einen Schluss zustürzen. Wie sie dort zum Halten kommen. Wortschöpfungen, wie oft ist vom „Entlösten“ die Rede. Nur ein Beispiel: „... ich wußte, daß alle Wirklichkeit der Welt im menschlichen Herzen eingesenkt ruht, versunken die Welt selber, ich wußte um die Ewigkeit im Irdischen, ich wußte von der Zeit, die durch uns rinnt, rinnt vom Ahnen des Ur-Anfangs bis zum Enkel des Ur-Endes, singend ihre der Worte entlöste Sprache, und ich wußte um eine Seinssicherheit des Wir, in deren Mittelpunkt die geliebte Frau und ihr Kind stand.“ Misogyn auf eine hochgestochene Art ist das alles auch bis zum Gehtnichtmehr.

Monday, August 02, 2004

Julien Green: Leviathan

Roman (1929)

Mit Entsetzen zugesehen (ein Lesen als Zusehen), wie Angèle ihr Gesicht enthüllt. Nicht weiterlesen wollen. Entstellt ist sie von Guéret, dem sie in Hass verbunden ist, in Liebe, in Wahrheit: in einem ganz unerklärten Gefühl. Julien Green experimentiert in Bindungen, deren Plausibilität nirgends geschrieben steht. Mit der Plausibilität dieser Mischtriebe aus Begehren, Abscheu, Selbsthass steht und fällt das Mitleiden mit den Figuren (aber wer sagt, dass man mit ihnen mitleiden sollte). Guéret, der seine Frau, sein biederes Leben verabscheut und in der Hure Angèle etwas wie eine Erlöserin sieht. Madame Londe, Besitzerin eines Restaurants, eifrige Beobachterin der höchst banalen Geheimnisse ihrer Gäste, führt Angèle diesen zu, aus Spionagegründen. Guéret, der zum Gast wird, verspricht sich Angèle, die er nicht bekommt. Die er vergewaltigt, die er beinahe tötet, die er auf immer entstellt. Er flieht, er tötet, grundlos, einen alten Mann, er kehrt zurück. Weitere Zentralfigur: Madame Grosgeorge, verheiratet mit einem fühllosen Mann, der sich Geliebte hält nach Belieben, darunter Angèle. Alles kreist um Angèle, den Engel, der leidet und nicht weiß warum. Leid, als äußerstes, trifft alle Figuren, als Schicksal, als Verhängnis. Auswege gibt es nicht. Sie treiben aufeinander zu, um sich zu verletzen. Eine Idee von Erlösung scheint auf nur im Punkt der tiefsten Verzweiflung, der ein Jenseits wäre, von dem aus alles möglich scheint. Nichts aber erfüllt sich hier. Angèle will verzweifelt Guéret retten, Madame Londe wird blind, taub, eilt dem Tod entgegen. Madame Grosgeorge sieht in Guéret etwas wie einen Stellvertreter, für einen Moment, dann verrät sie ihn, aus Eifersucht. Freilich ist das alles zu leichtfertig formuliert: auf die einfachen Nenner, Verzweiflung, Eifersucht, Liebe, Hass ist das alles nicht zu bringen. Es ist immer alles zugleich, in abstoßender Mischung. Das Elend des Leviathan, das Elend einer Welt ohne jede Rettung ist kaum zu ertragen. Guéret, der Held, der Anti-Held, verschwindet zwischendurch ganz aus dem Bild und auch am Ende: keiner weiß, was aus ihm wird. Verlassen ist er, verlassen sind alle, von guten Geistern, von Gott, einander die Hölle.

Pierre Corneille: Spiel der Illusionen (L'illusion comique)

Drama (1635)

Der Rahmen: Ein Zauberer (Alcandre), ein Vater (Pridamant), der das tyrannische Verhalten gegen seinen Sohn Clindor bereut, den er damit vertrieben hat. Vom Zauberer, der in einer finsteren Grotte lebt, wüsste er gern, wie es dem Sohn geht. Und es funktioniert, der Zauberer ist seiner Zeit medial weit voraus. Je tiefer man sich in die Grotte hineinbegibt, desto besser und illusionistischer ist der Bildempfang. Erst sieht der Vater, mit eigenen Augen, wie der Sohn gegen zwei Mitbewerber - darunter die komische, weil läppische Figur eines von sich über alle Maßen überzeugten, die fernsten Länder der Welt in seiner Fantasie ebenso wie die Frauen besiegenden Bramarbas (Matamor) - das Herz einer höher gestellten Frau (Isabell) gewinnt. Nachdem er den einen der Bewerber (Aldraste) - wohl in Notwehr - tötet, entkommt er, mit Hilfe der Frau und mit knapper Not, aus dem Gefängnis. Zeit für die Konversationsunterbrechung in der Zauberhöhle. Man geht weiter hinein in den Berg, immer finsterer wird's. Eins sagt der Zauberer zwei mal zum Vater: Du darfst die Höhle nicht vor mir verlassen, sonst bist du ein toter Mann. Interessanterweise folgt daraus nie etwas, kein Drama im Drama; eine Frage, scheint es, nur der Zuschauerbindung (d.h. heißt der medialen Bedingungen des Spiels, das hier im Spiel gespielt wird; man darf sich ja die Bühne, wie immer man sich das Bühnenbild vorstellen mag, nicht wegdenken - obwohl sie sich bei der Lektüre, auch dies ein alles andere als verwunderlicher Effekt dieses Spiels der komischen Illusion, wie von selbst wegdenkt). Dann folgt die Darstellung des Lebens des Sohnes ein paar Jahre später. Die Verhältnisse sind wundersam gewandelt. Von der Geliebten, nun seiner Ehefrau ist er entfremdet, an einem fremden Hofe unter falschem Namen aufgestiegen; mit der Frau seines Chefs hat er ein Verhältnis. Seine Frau monologisiert über ihr Schicksal und gestattet ihm zuletzt die Beziehung. Es naht jedoch Rache durch den Gehilfen des Gehörnten. Der tötet den Sohn, dessen Frau trifft der Schlag, der Vorhang fällt. Der Vater ist betroffen. Freilich hat er, klärt ihn der Zauberer als Illusionist (nichts anderes als die Allegorie des Theaterautors) auf, das Wesen des Spiels und so auch den Vorhang falsch verstanden, nämlich bildlich. Dabei war's der Vorhang eines Theaterstücks. Der Sohn und seine Frau sind, nach der Flucht, Darsteller geworden und nicht wirklich tot. Tot sind sie nur im Spiel im Spiel. Es folgt, auf die Zweifel des Vaters an der Berufswahl des Sohnes, eine Lobrede aufs Theater durch den Zauberer. Auch Geld kann man inzwischen gut damit verdienen, versichert er. Damit sind dann alle glücklich, zur intermedialen Vereinigung zwischen Vater und Sohn aber kommt es, wider Erwarten, muss ich zugeben, nicht.